Gabrielle Gross:
Der Neid der Mutter auf die Tochter.
Ein weibliches Konfliktfeld bei Fontane, Schnitzler, Keyserling und Thomas Mann.
Bern u.a.: Lang, 2002.
245 Seiten, ISBN 3–906768–12–0, € 46,50
Abstract: An sieben Prosatexten aus dem Zeitraum zwischen 1891 bis 1953 untersucht die Studie das Motiv der neidischen Mutter nach psychoanalytischen Gesichtspunkten. Als Basisannahme gilt Freuds These vom Penisneid: Die Mutter gönnt der Tochter nicht einmal den Penis-Ersatz. Bei aller Faszination der gewählten Beispiele erscheint der methodische Rahmen zu eng: Sowohl auf sozialgeschichtliche Kontextualisierung als auch auf die kritische Relativierung des Penisneid-Theorems wurde verzichtet. Auf diese Weise lassen sich die methodischen Probleme orthodoxer psychoanalytischer Literaturinterpretation nicht vermeiden. Die Vieldeutigkeit des literarischen Motivs kommt daher leider zu kurz.
Eine Mutter verheiratet ihre Tochter mit dem Jugendfreund, den sie selbst zugunsten eines reicheren Bewerbers hatte stehen lassen. Die andere stiehlt der Tochter Liebesbriefe, um sie als Material in einen Unterhaltungsroman einzuarbeiten. Die dritte schwärmt der behinderten, zur alten Jungfer verurteilten Tochter von den Freuden der Fruchtbarkeit vor. – In so krassen Beispielen schildert die Literatur das, was Mütter ihren Töchtern antun. Ausbeutung und Grausamkeit werden oft gut getarnt durch gekonnte Eigenpropaganda in Sachen Mutterliebe; sie sind Ausdruck tiefer Gefühlsambivalenzen, die zumal das pubertierende Mädchen in der älter werdenden Mutter erzeugen muss. Was Theodor Fontane von Effi Briest (1895), Arthur Schnitzler von Therese (1927), Thomas Mann von der Tochter der Betrogenen (1953) erzählen, sind sehr unterschiedliche Ausfaltungen eines Konflikts, der, bis ins 20. Jahrhundert hinein durch Mutterideologie und Verheiratungspolitik kaschiert, von tiefenpsychologischen und gesellschaftlichen Tendenzen zugleich genährt wird.
Das mag schmerzhaft sein und mitunter tragisch werden – ein „Geheimnis“ (S. 15) ist es nicht mehr. Zwar hat das Märchen den mütterlichen Hass manchmal abgespalten und, wie bei Schneewittchen, als ‚böse Stiefmutter‘ kodiert, aber Goldmarie und Zweiäuglein beispielsweise kriegen die Wut der Mutter ganz ohne Verschiebung ab. Die psychischen Langzeitfolgen mütterlichen Neides auf die Tochter sind seit 1986 von Betsy Cohen als „snow white syndrome“ beschrieben worden; erst kürzlich ist Mathias Jung nochmals auf den Schneewittchen-„Konflikt“ eingegangen. Von der mütterlichen Ambivalenz handelten bereits Helene Deutsch (1944) und Alice Balint (1954); heute wird immer wieder unterstrichen, dass diese emotionale Gemengelage nicht diskutiert werden sollte, ohne zu berücksichtigen, wieweit die Mutter – als Agentur der Gewalt gegenüber der Tochter – selbst gesellschaftliche Befehlsempfängerin ist.
Nichts von alldem kommt in der Studie von Gabrielle Gross zur Sprache, obwohl sie mit einem Zitat aus dem Grimmschen „Sneewittchen“ beginnt. Zwar schickt sie den Textuntersuchungen einen kurzen Abriss zur gesellschaftlichen Stellung der Frau im 19. Jahrhundert voraus (S. 48–57), trotzdem sollen soziohistorische Aspekte ausgeblendet bleiben, die gewählte Untersuchungsmethode ist eine klassisch-psychoanalytische. Und trotz einiger Kautelen benützt sie als einziges wichtiges Rüstzeug Freuds These vom Penisneid: Die Mutter neide der (heiratsfähigen) Tochter den Penisersatz, den sie nicht mehr kriegen kann, mütterlicher Neid sei also „eine Verschiebungsform des Penisneides“ (S. 43). Dass an Freuds These herbe und ironische Kritik geübt worden ist, und das nicht erst seit gestern – darüber fällt tatsächlich kein einziges Wort.
Spannend und lohnend sind die gewählten literarischen Beispiele, neben Fontanes Effi Briest auch Mathilde Möhring (posthum 1906) und Schach von Wuthenow (1883), neben Schnitzlers Therese und Thomas Manns Betrogener auch noch Buddenbrooks (1901) und Eduard von Keyserlings Die dritte Stiege (1892). Die quälend-komische Interaktion zwischen Adele Möhring und ihrer Tochter ist eines der Kabinettstücke von Fontane: Gegen die ängstliche, ewig jammernde, sich und die Tochter bis zur Unsichtbarkeit verkleinernde Mutter setzt die energische Mathilde ihre Lebensansprüche durch. Notorisch ist die Art, in der Tony Buddenbrook die Tochter und noch die Enkelin an koketter Infantilität überbietet. Und die Nebenhandlung um die Familie Zweigeld in der Dritten Stiege zeigt eine intrikate Version des bürgerlichen Töchterschachers: Der Schwiegersohn soll die Finanzen und die Reputation der Familie retten, die Tochter wird in die Geiselhaft der Familienloyalität genommen. Dieses Motiv sollte Arthur Schnitzler zwanzig Jahre später in Fräulein Else – die übrigens nicht vorkommt – zum Ausverkauf der Tochter auf dem Liebesmarkt zuspitzen. Jeder dieser Texte enthält in dem Nebenmotiv der Mutter-Tochter-Beziehung tatsächlich eine verborgene Tretmine, einen Sprengsatz, der mit der Familienideologie auch gleich eine ganze Kette bürgerlicher Lebenslügen als Tarnung handfester materieller Interessen in die Höhe gehen lässt.
Davon ist in Gabrielle Gross’ Arbeit also kaum die Rede. Schon die Reihenfolge der Beispiele ist nicht ganz einsichtig und jedenfalls nicht chronologisch, was umso stärker ins Gewicht fällt, als zwischen der 1891 entstandenen Mathilde Möhring und der 1953 veröffentlichten Betrogenen immerhin sechs Jahrzehnte liegen, sechs Jahrzehnte vor allem der psychoanalytischen Theoriebildung und -rezeption. Der Zusammenhang der gewählten Werke mit dem „Geist der Psychoanalyse“ (S. 20) wird nämlich behauptet, aber nicht argumentiert. Gewiss kann man vor-freudianische Texte wie die Fontanes durchaus und Freuds eigener Praxis folgend „psychoanalysieren“; dann muss aber doch gefragt werden, wie die Methode zu justieren ist, wenn sich Autoren bereits als Psychoanalyse-Kenner an die Konzeption ihrer Figuren machen und sie tiefenpsychologisch stimmig entwerfen. Dann lässt sich nämlich auch mit großem Interpretationsaufwand keine unbewusste Strebung mehr „aufdecken“, sondern nur mehr das durchaus bewusste Kalkül der Figurencharakterisierung. Daher wirkt der Ertrag orthodoxer analytischer Anstrengungen inzwischen auch oft so bescheiden: Das Tun der Figuren ist durch libidinöse oder aggressive Wünsche diktiert – so what? Im übrigen haben sich auch vorfreudianische Texte mit ihrem Publikum auf einer psychologischen Ebene verständigt, die vollständig ausreichte, um die Figuren zu ‚verstehen‘. So hatten die Leser und Leserinnen der genannten Texte seit jeher genug Signale, um zu registrieren: aha, eine neidische Mutter! Ob sie tatsächlich angehalten sind, weiter zu folgern: aha, ein fehlender Penis! – ja, das steht dahin.
Die inzwischen wirklich hinreichend beschriebene Problematik klassischer psychoanalytischer Methodik holt die Arbeit immer wieder ein. Zwar streift die Einleitung die Differenz zwischen literarischer Figur und „realem“ Analysepatienten, Konsequenzen für die Textarbeit hat das nicht. Robert Musil hat seinerzeit ein- für allemal formuliert, warum eine literarische Psyche nicht zu analysieren ist: „Gestalten eines Dichters haben keine Seele“. Aber Gabrielle Gross’ Studie kann gar nicht anders, als ihnen eine einzuhauchen. Sie entsteht automatisch als Produkt einer angenommenen tiefenpsychologischen Kausalität. Ständig heißt es, der einen oder anderen Figur müsse etwas „nachgewiesen“ werden. Nun ist die detektivische Spielart der literarischen Psychoanalyse ohnehin ihre problematischste; sie hat seinerzeit zur massiven Abwehr von Autoren geführt, die nicht auf das „Prokrustesbett des psychoanalytischen Reduktionismus“ (Peter von Matt) gelegt werden wollten. Aber auch literarische Figuren brauchen sich von ihren Interpreten nichts „nachweisen“ zu lassen. Denn entweder wird der „Nachweis“ ihrer schändlichen, bewussten oder unbewussten, Absichten vom Text selbst geführt, oder aber es gibt eben keinen. Statt dessen legen beispielsweise Fontanes Romane subtile und schillernde „Indizien“ aus, die sich zu einem Beweis gegen die Figur nicht und nicht ordnen lassen wollen. Natürlich mag es sein, dass die schöne Frau von Carayon in ihrer Tochter, trotz deren Hässlichkeit, die Rivalin fürchtet. Natürlich mag es sein, dass Effis Mutter die Tochter zum Pfand der eigenen Liebesvergangenheit macht und deren Verstoß gegen dieses Geschäft mit Herzenskälte ahndet. Aber ebenso natürlich mag es sein, dass diese Mutterherzen auch vor Mitleid mit der Tochter brechen. Literarische Texte sind eben keine Fallgeschichten, in denen es darauf ankäme, zu stichhaltigen Anamnesen und Diagnosen zu kommen. Als ästhetische Gebilde beharren sie darauf, ihre Figuren nicht völlig widerspruchsfrei zu halten, sondern ihnen ein „weites Feld“, einen großen Spielraum zu geben – wohingegen jede rationale, psychologische oder psychoanalytische Plausibilisierung nur ein kleines Beet beackern kann. Was Literatur in ihrer Vieldeutigkeit daher noch am ehesten darstellt, ist „Ambivalenz“, die rätselhafte Tatsache, dass sich gegensätzliche Empfindungen auf ein- und dasselbe Objekt richten, dass sich, wie bei Mutter und Tochter, Liebe und Hass, Abwehr und Abhängigkeit, aufopfernde Großzügigkeit und bösartiger Neid unauflöslich legieren. Ambivalent verhalten sich so gestaltete Figuren auch gegenüber den anderen zeitgenössischen Diskursen, dem psychoanalytischen zumal: Sie sind affirmativ und subversiv, sie folgen ihnen, sie haben sie aber auch immer schon überholt.
Natürlich ist es sinnvoll, in der Vielstimmigkeit eines Textes auf die psychoanalytischen Töne zu hören. Gabrielle Gross’ Untersuchung beschränkt sich jedoch auf die kleine Triangel Mutter – Tochter – Penis. Im großen Orchester dieser wunderbar instrumentierten Romane ist das allerdings nur ein winziger Part.
URN urn:nbn:de:0114-qn053116
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