Britta Herrmann:
Töchter des Ödipus.
Zur Geschichte eines Erzählmusters in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts.
Tübingen: Stauffenburg 2001.
343 Seiten, ISBN 3–86057–212–1, € 50,50
Abstract: Herrmanns Studie analysiert die Produktivität ödipaler Plot-Strukturen in der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts. Dabei zeigt sich die Persistenz männlicher Konfliktmuster des Expressionismus in der feministischen Literatur seit den 1960er Jahren. De-ödipalisierte Narrative findet Herrmann im US-amerikanischen Science-Fiction-Film.
Die Reformulierung des Ödipus-Stoffes als Drama des Unbewussten durch Sigmund Freud sei das zentrale „Erzählmodell für die Konstitution des modernen Ich“ (S. 17) – so lautet die Ausgangsthese von Britta Herrmanns Studie über die Töchter des Ödipus. Herrmann untersucht Variationen dieses Musters in Texten des frühen 20. Jahrhunderts, die von Söhnen handeln, und verbindet diese mit nach 1945 entstandenen Texten weiblicher Autoren, deren Protagonisten Töchter sind. Sie stößt dabei auf überraschende Parallelen: Ödipus und seine Tochter agieren nach Maßgabe eines narrativen Musters, das sie dazu zwingt, den Vater im Akt der Rebellion als machtvolle Instanz immer wieder neu zu etablieren.
Das Interesse der Untersuchung richtet sich auf Vatertexte, die „als Erzählung über den Vater und zugleich als einen selbst bereits durch den Vater vorgegebenen, durch den Vater legitimierten Text“ (S. 17) definiert werden. „Romane, autobiographische Darstellungen, therapeutische ‚Verständigungstexte‘ und schließlich auch Filme“ (S. 22) werden als Erzählungen gleich behandelt. Fragen der literarischen Qualität oder der medialen Differenz spielen, so Herrmann, für die Analyse erzählerischer Muster keine Rolle. In ihren Lektüren zeigt sich jedoch, dass die Auseinandersetzung mit kulturellen Mustern dann Effekte der Resignifizierung ermöglicht, wenn auf der Ebene des discours die stetige Wiederholung der Ödipus-histoire konterkariert wird.
In der Lektüre kanonischer Vater-Sohn-Narrative entwickelt Herrmann drei prägende Modelle des Konfliktes:
1.) Der Sohn, der sich an die Stelle des Vaters setzen will: Diese „paternale Vaterrebellion“ (S. 23) findet Herrmann in Walter Hasenclevers Der Sohn (1914). Die Ablösung einer zärtlichen Vater-Konzeption durch eine autoritäre setze das Stück als kulturelle Konstruktion in Szene (S. 49). Vater und Sohn, so Herrmann, zeigen sich als Protagonisten einer nicht von ihnen geschaffenen Geschichte: „Und so bleibt der Sohn letztlich Teil und Objekt gleichsam selbsttätiger narrativer Muster, für deren Subjekte und Autoren er die Väter gehalten hat.“ (S. 52)
2.) Der Sohn, der seine Rebellion „im ebenso kulturell konstruierten Zeichen mütterlicher Repräsentationen – Körper und Zyklus“ (S. 23) führt: Die Errichtung eines „Körperpanzers“ in Arnolt Bronnens Vatermord (1920) verdanke sich nicht der Angst vor der Auflösung von Körperkonturen im „Weiblichen“, sondern gerade der Abwehr einer paternalen Geschichte und eines solchen Körpers. Am Ende werde „die genealogische Kette einer linearen paternalen Geschichte endgültig in den Kreislauf von ‚Mutter‘ Natur überführt“ (S. 66). So ergebe sich die Chance, als „hybrides Geschlecht“ (S. 69) ohne Eltern neu zu beginnen, aber Anfang der 1920er Jahre auch die Gefahr einer Re-Mythisierung im Völkisch-Nationalen (vgl. S. 69).
3.) Der Sohn auf der Suche nach einem verlorenen Vater als Figur des Ursprungs und der Herkunft: In Abschied von den Eltern erzähle Peter Weiss 1961 eine Suchgeschichte: „Gegen die väterliche Geschichte läßt sich nicht mehr rebellieren, weil sie verborgen bleibt.“ (S. 81) Der tote Vater eigne sich weder als Gegner noch als Vorbild. Die Vaterposition in der Familie werde durch die Situierung des jüdischen Vaters in der Gesellschaft effeminiert – „die ödipale Mannwerdung“ (S. 87) des Sohnes müsse demnach scheitern.
Es bleibt letztlich in der Schwebe, ob die untersuchten Nachkriegsautorinnen die Töchter des Ödipus sind, von denen der Titel spricht, oder ob es sich dabei um die Heldinnen ihrer Erzählungen handelt. Herrmanns Analyse hebt auf die Tochter als Heldin ab, auffällig ist jedoch, dass diese Tochter-Erzählungen allesamt von Autorinnen stammen, wie die Sohnes-Erzählungen von männlichen Autoren, eine Auffälligkeit, der leider nur selten nachgegangen wird. In dem Abschnitt „Mit dem Körper des Vaters spielen“ werden die Lektüren der Texte im theoretischen Feld situiert. Die kritische Auseinandersetzung mit Konzepten wie Roland Barthes‘ Lust am Text, Julia Kristevas Revolution der poetischen Sprache, Hélène Cixous‘ écriture féminine und Luce Irigarays parler femme zeigt, wie die Frage des Erzählens an die Konstruktion von Genealogie und Geschlechterdifferenz gekoppelt ist.
An Barbara Bronnens Prosatext Die Tochter (1980) wird die Spannung von Autorin und Figur explizit thematisiert: „während die Schriftstellerin sich in den Text des Vaters einzuschreiben vermag, findet die Tochter-Protagonistin keinen Zugang zur sprachlichen Welt des Vaters“ (S. 108). Dieser gelinge erst durch die Einverleibung des Vaters, „am Schreibtisch des Herrenzimmers“ (S. 118)
In Ilse Aichingers Roman Die größere Hoffnung (1948) sieht Herrmann einen poetischen Akt der Verweigerung gegenüber der Gleichsetzung von symbolischer Ordnung und leiblicher Vaterschaft. Der Roman agiere auf der Ebene der Sprache und setze die Protagonistin als Figur einer maßlosen Sprache ein, deren widerständiges Potential an die postmoderne Strategie der Resignifikation erinnere. Warum diese Strategie dann wiederum in Analogie zu Bronnen als „maternale Vaterrebellion“ (S. 159) gelten soll, wird nicht ganz einsichtig. Ellen, so zeigt Herrmann auch, fungiert als eine Figur der „Ortlosigkeit“ (S. 166), die gleichzeitig „maternal und paternal, christlich und jüdisch“ markiert sei, „– eine Mehrfachcodierung, die der Roman in ein poetologisches Prinzip überführt“ (S. 164).
Auch Ingeborg Bachmanns Malina (1971) agiert auf der Ebene der Sprache und der histoire, wie Herrmann zeigt. Der Vater setze sich aus „Konglomeraten von Intertexten und Zitaten“ (S. 187) zusammen, die vom „Ich“ der Erzählung kompiliert werden. Der Text gebe so den Prozess zu lesen, in dem Väter im Rückgriff auf kulturelle Erzählmuster erzeugt werden. Tochter zu sein, so Herrmann, resultiert im Sinne dieser Muster aus der Position des Opfers (vgl. S. 198).
Eine ganze Reihe von Texten, die als autobiographische Romane mit therapeutischem Anspruch seit den 1970er Jahren entstanden, scheinen den bei Aichinger und Bachmann gefundenen Stand der Reflexion nicht mehr zu erreichen. Die Vater-Tochter-Literatur der späten 1970er Jahre erschöpfe sich in wenigen Stichworten: „Inzest, Abrechnung mit den Nazi-Vätern, Verwerfung des Mutterkörpers sowie Einschreibung in die […] väterliche Geschichte“ (S. 236). Diese Texte kulminieren in einer Frage: „Wie ermordet man einen toten Vater?“ (S. 249), und die Antwort darauf sei einfach: Man hält ihn am Leben. Mit nicht ermüdender Genauigkeit zeigt Herrmann, wie die Wiederholung narrativer Muster in Erstarrung münden kann.
Herrmanns Buch ist eine theoretisch inspirierte Reformulierung der Geschichte der deutschsprachigen Literatur des 20. Jahrhunderts entlang der Vater/Tochter-Achse. Es weckt die Aufmerksamkeit für das Thema der Tochterkonstruktionen in familialen Konstellationen und steckt das dabei zu beachtende theoretische Feld ab. Lediglich ein paar ausführlichere Reflexionen auf das Konzept „Tochter“ wären wünschenswert gewesen.
Der Schluss der Studie öffnet mit der Analyse von Alien Resurrection einen Ausblick in eine post-ödipale Narration des Cyborgs, in der die Töchter die „Vaterfunktion“ ausschalten (S. 293) und weder männlich noch weiblich identifizierbar sind. Warum aber endet Herrmanns Buch mit der Suche nach einem Muster, das der Ausgangsthese ihrer Studie widersprechen würde? Wenn man immer wieder auf den Vater scharf stellt, wird man auch immer wieder den Vater sehen oder sein Fehlen signifikant finden. Ähnlich wie der von ihr kritisierte Roland Barthes muss Herrmann übersehen, dass sich eine Erzählung auch daraus ergeben kann, dass es, anders als in F.W. Murnaus City Girls gezeigt, durchaus Mädchen aus der Stadt gibt, die sich für die Familie nicht sonderlich interessieren (vgl. Roland Barthes: Die Lust am Text, Frankfurt am Main 1996, S. 70).
URN urn:nbn:de:0114-qn053307
(Dr. des.) Heide Volkening
München / LMU / Institut für deutsche Philologie
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