Evelyn Höbenreich, Giunio Rizzelli:
Scylla.
Fragmente einer juristischen Geschichte der Frauen im antiken Rom.
Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2003.
340 Seiten; ISBN 3–205–77012–9, € 35,00
Abstract: Das antike römische Recht ist ein kasuistisches Recht, kein abstraktes Regelwerk. Die Rechtsprechung war an Einzelfällen orientiert, und eben diesem Prinzip folgen die Autoren der vorliegenden juristischen Geschichte der Frau im antiken Rom, indem sie unter weitgehendem Verzicht auf Auseinandersetzungen mit Forschungsdebatten Rechtsfälle vorstellen und bewerten, die Facetten weiblicher Lebenswirklichkeit beleuchten.
Der Titel macht neugierig: Scylla, das ist das weibliche Meeresungeheuer, dem sich Odysseus auf seiner Irrfahrt durch das Mittelmeer nach Ende des Trojanischen Krieges ausgesetzt sieht. „Im oberen Teil bis zur Schamgegend ist sie ein junges Mädchen mit schöner Brust; im unteren Teil des enormen Körpers ist sie ein Meeresungeheuer mit Delphinschwänzen“, so beschreibt sie der römische Senator Seneca in seinen Briefen an Lucilius. Was Scylla mit einer rechtshistorische Studie zu Frauen im antiken Rom zu tun hat, erschließt sich erst bei der Lektüre des von Giunio Rizelli verfassten zweiten Teils der Studie, in dem es um ‚Sexualität und Rollen‘ geht. Während im ersten Teil von Evelyn Höbenreich, mit „Familie und Gesellschaft“ überschrieben, die klassischen Themen der Rechtsgeschichte behandelt werden, die Definition der römischen ‚familia‘, das Erbe, die Adoption, die Ehe, die Amtsfähigkeit, geht es im zweiten Teil von Sexualnormen, soweit sie justitiabel waren. Scylla wurde von den Autorinnen bewusst als Symbol der zerstörerischen Macht weiblicher Leidenschaft gewählt. Angelpunkt dieser Betrachtungsweise ist die von römischen Juristen oft beschworene Schwäche des weiblichen Geschlechts, infirmitas sexus. Sie ist das Kehrbild der von Männern abverlangten Selbstbeherrschung und Strenge, Tugenden, die vor allem im politischen Raum ihre Wirksamkeit besaßen. Ihr gehen die beiden Autoren in Auseinandersetzung mit unterschiedlichen juristischen Diskursebenen nach.
Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft machte in der Antike einen weit höheren Wert aus als Autonomie des Individuums. Als Ausgangspunkt der Darstellung der normativen Diskurse der Juristen wählt Höbenreich daher Ulpians Auffassung von der römischen ‚familia‘ als einen monokratisch strukturierten Rechtsverband, deren Mitglieder der Hausgewalt des pater familias unterstanden und der nicht mit der modernen Familie zu verwechseln ist (Kap. 1). Der familia gehörten freie wie unfreie Personen an; die Hausgewalt, patria potestas, währte lebenslang und erstreckte sich auf alle Agnaten, d.h. weibliche wie männliche Abkömmlinge in männlicher Linie. Auch wenn dies nicht explizit gemacht wird, so bildet doch der Charakter der patria potestas als eine im Kern als Besitzherrschaft zu verstehende Macht des pater familias den Dreh- und Angelpunkt aller weiteren Überlegungen zu den Rechten der weiblichen Mitglieder der familia. Es ging darum, den Besitz in der Hand des pater familias zu belassen. In welchem Maße die Frauen an diesem Besitz Anteil erhielten, inwiefern sie an der Entscheidungsmacht des pater familias partizipierten – dies legt Höbenreich in 12 Kapiteln dar, die weitgehend auf der Auswertung der Digesten beruhen. Ihr Augenmerk ruht dabei vor allem auf Abweichungen von überkommenen Normen.
Hier einige Beispiele: Anteile am Besitz der familia konnten zu Lebzeiten des Hausvaters in Form eines peculiums gewährt werden, das gewissermaßen als ein vorgezogenes Erbe zu verstehen ist. Söhne und Töchter erbten gleichermaßen und hatten auch dann, wenn sie gewaltunterworfen (alieni iuris) blieben wie die Töchter, d. h. der Vormundschaft des pater familias unterstanden, ein Herrschaftsrecht, dominium, über Sachen einschließlich Sklaven, den res mancipi. Das Besondere des römischen Frauenerbrechts ist, dass zwar Töchter erbten, aufgrund des agnatischen Charakters ihren Besitz ursprünglich aber nicht an ihre eigenen Kinder weitervererben konnten und Mütter auch nicht von ihren Kindern als Erbin eingesetzt wurden. Kaum eine Regel macht den konstruierten Charakter des römischen Verwandtschaftssystems deutlicher. Umgangen werden konnte die Regel schon in republikanischer Zeit mittels Testamenten. Das Testierrecht besaßen Mädchen bereits ab dem 12. Lebensjahr, Jungen erst ab dem 14. Lebensjahr. Über eine Reihe von Senatsbeschlüssen und kaiserlichen Edikten wurde dieses strenge Konstrukt langsam zugunsten cognatischer Verwandtschaftsbeziehungen aufgebrochen: Das senatus consultum Tertullianum aus der Zeit des Kaisers Hadrian ließ die Vererbung des mütterlichen Vermögens an die eigenen Kinder zu, wenn agnatische Erben in ihrer familia fehlten und eine freie Frau mindestens drei Kinder geboren hatte.
Seit dem senatus consultum Orfitianum (178 n. Chr.) erbten die Kinder einer Mutter auch dann, wenn Agnaten vorhanden waren (Kap. 2). Auch die Geschlechtsvormundschaft, die tutela, geriet in der Kaiserzeit ins Wanken. Das Institut der tutela, von den Juristen mit der geschlechtsbedingten Leichtfertigkeit des weiblichen Gemüts (animi levitas) begründet, garantierte, dass das Vermögen in der Herkunftsfamilie verblieb. Im Unterschied zu den noch unmündigen Kindern, die der Vormundschaft unterstanden, bedurften die unter tutela stehenden Frauen insbesondere bei Schuldverträgen nur der Zustimmung ihres Vormunds, führten aber die Geschäfte selbst. Keine Zustimmung des Tutors war notwendig, wenn es um Schiffe, Schmuck und Geld ging; mit anderen Worten: Frauen durften Kredite vergeben. Mit dem Institut sollte verhindert werden, dass das Vermögen der Frauen den Agnaten verloren ging. Die Vormundschaft ist zwangsläufig ein männliches Amt.
In der Spätantike aber eroberten auch Witwen das Amt des Tutors für ihre unmündigen Kinder (Kap. 5). Auch das Adoptionsrecht, das Männern seit der frühen Republik ermöglichte, das Fehlen natürlicher Erben zu kompensieren, wurde auf Antrag vom Kaiser auch Frauen im Falle des Verlustes eigener Kinder gewährt und unter Justinian generell gestattet. Männer hatten das Recht auch im Falle von Kinderlosigkeit, allerdings nur, wenn ihre Zeugungsorgane vorhanden waren. Kastraten bzw. Eunuchen waren ausgeschlossen (Kap. 6). Wo vom Recht die Rede ist, kommen auch Gesetze, die Frauenhandeln betreffen, und Gesetzesverstöße von Frauen zur Sprache. Entgegen der Diktion von der Schwäche des weiblichen Geschlechts sprachen manche Juristen den Frauen die Urteilsfähigkeit nicht ab.
Für den Juristen Paulus war sie Sache der mores, des Brauchtums, nicht der natura. Ein Viertel der kaiserlichen Entscheidungen, darauf verweist Höbenreich, ging an weibliche Adressaten (Kap. 7). Öffentliches Reden konnte empfindliche Geldstrafen nach sich ziehen, wenn der Gemeinsinn tangiert war. Manilia, die ihrem Ärger Luft verschafft hatte, als sie sich vom Gedränge der Massen bei den Spielen belästigt gefühlt und gewünscht hatte, ihr Bruder möge noch einmal eine Flotte verlieren, damit sich die Menschenmassen in Rom verringerten, wurde ob ihres unpatriotischen Verhaltens zu 25.000 Kupfermünzen Geldstrafe verurteilt (Kap. 8).
Höbenreichs Marsch durch das juristische Dickicht der Normen und Einzelfälle mündet in einen lebensgeschichtlich angelegten Überblick von Rechtspraktiken und Regeln, der von der Heirat (Kap. 10) über das Arbeitsleben (Kap. 11) zum Alter (Kap. 12) führt. Zwei Kapitel (Kap. 3 und 4) behandeln Rechtsfälle, die um den Verstoß gegen die weibliche Ehre, d. h. gegen die Schamhaftigkeit (pudicitia) kreisen. Sie war über Kleidung sichtbar und verhandelbar. Knöchellange Stola und Kopfbedeckung machten die ehrbare Matrone aus; farbige Toga und kurze, durchsichtige Tunika ließen die Prostituierte erkennen (Kap. 3; Teil 2: Kap. 11).
Um diese weibliche Schamhaftigkeit, d. h. um die Kontrolle des weibliche Sexualverhaltens, geht es im zweiten von Giunio Rizzelli verfassten Teil des Bandes, der mit der Zusammenstellung der juristischen Sicht auf den Lucretia-Mythos endet. Im Mittelpunkt des 14 Kapitel umfassenden Teils steht das Delikt des Ehebruchs, ein rein weibliches Vergehen, das der rechtlichen Regelung unterlag und unter dem Einfluss des Christentums zunehmend schärfer geahndet wurde. Zog eine erfolgreiche Ehebruchsklage zunächst ‚nur‘ die zwangsweise Scheidung und den Verlust der Hälfte der Mitgift nach sich, drohte den untreuen Ehefrauen in der Spätantike die Todesstrafe, das Verbrennen auf dem Scheiterhaufen – eine Strafart, die wir heute mit fundamentalistischem Gedankengut verbinden (Kap. 4–12). Die Trennlinie zwischen Ehebruch und Vergewaltigung war fließend. Anhand der juristischen Diskussion der Erzählung von der Vergewaltigung und Selbsttötung der Lucretia (Kap. 14), die den Gründungsmythos der Republik darstellt, zeichnet Rizzelli den Wandel der Argumentation nach.
Bildet für pagane Historiker und Juristen die Anwendung von Gewalt (vis) das entscheidende Kriterium, um zwischen Vergewaltigung und Ehebruch zu trennen, da der Ehebruch als gewaltsamer Übergriff auf die Integrität eines Hauswesens verstanden wurde, zumal sich der Ehemann über Ehebruchsklagen das Vermögen der untreuen Ehefrau aneignen konnte, steht vor allem für christliche Autoren das Begehren der Frau, ihre Lust, im Mittelpunkt der Argumentation. Als Einwilligung und damit als Ehebruch galt die Tat, wenn eine Frau sich nicht gewehrt hat; für Christen war die Schuldhaftigkeit gegeben, wenn die Frau Lust empfunden hatte. Die Kontrolle der Leidenschaft, eine ursprünglich männliche Tugend, wurde zunehmend auch den Frauen zugestanden und ihnen abverlangt. Deuten lässt sich dieser Perspektivenwechsel von der Gewalt zur Lust als Reflex auf einen zunehmenden Funktionswandel der Ehe. Bildeten für die politische Elite der späten Republik und frühen Kaiserzeit Ehebruchsklagen Instrumente des politischen Kampfes, so scheint die Verlagerung der Argumentation auf das individuelle Begehren die Entpolitisierung der Ehe und die Unmittelbarkeit der Herrschaft des Kaisers zu reflektieren.
Rizzelli bietet diese Einordnung nicht. Stattdessen endet die Darstellung mit dem Verweis auf historische Kontinuitäten: Das Verdikt des christlichen Autors Tertullians, dass niemand, der nicht wolle, Unzucht begehe, habe noch in jüngsten Strafprozessen Geltung, in denen davon ausgegangen worden sei, dass eine Vergewaltigung nicht möglich sei, wenn die Frau nicht zustimmte (S. 314–316).
Insgesamt bleibt ein zwiespältiger Eindruck. Mit Umsicht haben Höbenreich und Rizzelli die Aussagen der römischen Juristen zusammengestellt und sachkundig kommentiert. Zweisprachig dargeboten, eignet sich das mit Quellen reich bestückte Werk gut zum Einsatz in der universitären Lehre. Nur kommt die Präsentation weitgehend ohne Diskussion aktueller Forschungskontroversen aus, auch wenn auf sie gelegentlich – meist allerdings ohne bibliographische Angaben – verwiesen wird. Wo die Forschung heute steht, das erfährt man in diesem Buch nicht. Zusammenhänge einzelner Rechtsregeln erschließen sich nur schwer. Der Nachvollzug der juristischen Debatte dominiert. Die angelsächsischen Forschungen zum öffentlichen Charakter des römischen Hauswesens, der domus und familia, die das Bild von der politischen Wirksamkeit der weiblichen Mitglieder einer domus stark verändert haben (vgl. insb. die Arbeiten von R. Saller), bleiben weitgehend ausgespart; die politische Ebene der juristischen Sachverhalte wird selten angesprochen, geschweige denn analysiert. Die juristische Fachsprache, die an modernen Unterscheidungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht orientiert ist, wird unhinterfragt auf antike Befunde angewendet und der politische Charakter des ‚Privaten‘ kaum thematisiert. Der Verzicht auf historische Kontextualisierung führt zur Vernachlässigung der Frage, ob es nicht die Schwächung dieser agnatisch strukturierten Familienverbände zugunsten der domus des Kaisers war, um die es vermutlich bei der Veränderung der Erb- und Eherechtsbestimmungen ging, wie sie seit der Kaiserzeit greifbar sind. Zwar brechen die Evelyn Höbenreich und Giunio Rizelli immer wieder traditionelle, der Rechtsgeschichte des 19. Jahrhunderts verpflichtete Einschätzungen auf, wenn sie z. B. auf die Rechtskundigkeit der Römerin in der späten Republik aufmerksam machen (Kap. 7) oder die Klagen römischer Autoren über das öffentliche Auftreten von Frauen in Volksversammlungen anführen (Kap. 9). Aber ohne Diskussion verschiedener Forschungsmeinungen wird es den Studierenden schwer gemacht, der Suggestion dessen, „wie es gewesen ist“, zu widerstehen und Geschichte als das zu verstehen, was jeder Blick auf Forschungsdebatten deutlich gemacht hätte: als Rekonstruktionsprozess, der je nach Zeitkontext und Standort der Betrachtenden unterschiedlich ausfallen kann. Höbenreich und Rizelli bezeichnen ihre Auswahl als rein subjektiv – wohl eine euphemistische Umschreibung des vorwiegend deskriptiven Charakters der Studie.
URN urn:nbn:de:0114-qn053312
Prof. Dr. Beate Wagner-Hasel
Universität Hannover, Historisches Seminar
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