Patricia Zuckerhut, Bärbel Grubner, Eva Kalny (Hg.):
Pop-Korn und Blut-Maniok.
Lokale und wissenschaftliche Imaginationen der Geschlechterbeziehungen in Lateinamerika.
Frankfurt a.M. u. a.: Peter Lang 2003.
250 Seiten, ISBN 3–631–50237–0, € 45,50
Abstract: Im Brennpunkt des Sammelbandes stehen die Geschlechterbeziehungen in verschiedenen historischen und gegenwärtigen indigenen Gesellschaften Lateinamerikas. Unter der Perspektive des von Henrietta Moore (1994) vorgeschlagenen feministischen Differenzansatzes richtet sich das Interesse der Herausgeberinnen besonders auf die Konzeptualisierung und die konkrete Verteilung gesellschaftlicher „Macht“ zwischen den Geschlechtern. Die sozialanthropologischen Konzepte der Geschlechterpolarität, der Geschlechterkomplementarität und der Geschlechterparallelität, die in diesem Zusammenhang von feministischen Ethnolog/-inne/n entwickelt wurden, werden zum Ausgangspunkt für eine Diskussion und kritische Neubewertung der schon vorliegenden „Ethnographien der Geschlechter“. Neben einer Reihe von neuen Beiträgen bietet der Sammelband insbesondere auch einen hervorragenden Überblick über den Stand der Geschlechterforschung in Lateinamerika.
Unter dem Titel A Passion for Difference postulierte die britische Sozialanthropologin Henrietta Moore 1994 eine „feministische Anthropologie“, die auf den sich erweiternden Kontext postkolonialer und postkolonial-feministischer Universalismuskritik verweist. Besonders Schwarze Feministinnen und „Feminists of Color“ hatten den „Weißen Feminismus“ dazu aufgefordert, die Analyse der Kategorie Geschlecht um die gleichberechtigte Analyse anderer „Achsen der Unterdrückung“ wie „Rasse“, Klasse, Religion und sexuelle Orientierung zu erweitern. An diese Kritik knüpfte sich in der Ethnologie der Ansatz, Geschlecht ausschließlich als soziales Konstrukt und in Überschneidung mit anderen „Achsen“ sozialer Differenzierung zu analysieren. Orientiert an diesem feministischen Differenzansatz unternahmen Patricia Zuckerhut, Bärbel Grubner und Eva Kalny mit dem vorliegenden Sammelband den Versuch, dem Ansatz einer feministischen Anthropologie auch in der lateinamerikanischen Ethnologie Geltung zu verschaffen. Die Notwendigkeit dazu sehen die Herausgeberinnen zum einen in einer Geschlechterforschung begründet, die lange Zeit fast ausschließlich vom marxistisch inspirierten Studium der geschlechtlichen Arbeitsteilung dominiert war. Zum anderen kamen, wie besonders im theoretischen Beitrag von Bärbel Grubner (S. 178) hervorgehoben wird, gesellschaftsspezifisch eine Reihe von Konzeptualisierungen der Geschlechterdifferenz (Geschlechterantagonismus, -komplementarität und -parallelismus) zur Anwendung, die weit mehr über die Sichtweise der einzelnen Forscher/-innen und der von ihnen vertretenen Schulen verraten als über die jeweils untersuchte Gesellschaft. So konnten Aussagen über die Geschlechterbeziehungen für ein und dieselbe Gesellschaft von (nahezu) egalitär bis zu stark antagonistisch variieren. Vor diesem Hintergrund soll mit dem Sammelband vor allem ein Beitrag dazu geleistet werden, „Theoreme empirisch zum ersten Mal auf breiter Basis“ zu überprüfen und „bereits erhobene Daten“ neu zu interpretieren (S. 37). Entlang regionaler und zeitlicher Schwerpunkte ist der Sammelband in drei Teile gegliedert. Der erste Teil stellt die Geschlechterbeziehungen im vor- und frühkolonialen Mexiko in den Mittelpunkt. Der zweite Teil geht auf die durch Kolonialismus und Kapitalismus transformierten indigenen Gesellschaften der Gegenwart ein. Der dritte Teil schließlich ist den viel diskutierten Geschlechterhierarchien im amazonischen Tiefland gewidmet.
Als eine Maiskorn-Braut ihren Maiskorn-Bräutigam in der Hochzeitsnacht allzu lange warten lässt, findet sie im Bett schließlich nur noch ein Popkorn vor: ihr Bräutigam ist „explodiert“. Diesen ‚Witz‘, der bei den Maya-Kiché erzählt wird, nimmt Eva Kalny im zweiten Teil des Buches zum Ausgangspunkt dafür, die Repräsentation/en von Geschlecht, Körper und Sexualität im indigenen Guatemala der Gegenwart zu untersuchen. Sie zeigt zum einen, wie sich im Hinblick auf eine allgemein negativ konnotierte weibliche Sexualität indigene und koloniale, vom Katholizismus geprägte Vorstellungen überlagern, zum anderen, wie die Repräsentationen ‚der Frau‘ sich im Zusammenhang mit aktuellen politischen und sozialen Bewegungen verändern. Kalny leistet mit ihrem Beitrag Pionierarbeit, stehen doch für Lateinamerika – wie auch im Beitrag von Soledad Gonzáles Montes hervorgehoben wird – Studien über indigene Konzeptionen von Körper und Sexualität weitgehend aus.
Mehr Aufmerksamkeit wurde dem kolonial erzwungenen sozialen Wandel zuteil, der auch den Rahmen für eine Verschlechterung des weiblichen Sozialstatus bildet. Susan Schroeder zeigt im ersten Teil, wie Kolonialismus und katholische Kirche den Handlungsspielraum (und Sozialstatus) indigener Frauen einschränkten, aber auch, wie indigene Frauen sich Freiräume schufen und Widerstand dagegen leisteten. Patricia Zuckerhut schließlich behandelt die vorkolonialen Geschlechterbeziehungen bei den Nahua (Aztek/-inn/en) Zentralmexikos. Sie analysiert die aztekische Geschlechterhierarchie des frühen 16. Jahrhunderts insbesondere im Hinblick auf die symbolische Parallelisierung des – primär dem ‚Krieg‘ zugeordneten – ‚Mannes‘ und der – primär dem Haus zugeordneten – ‚Frau‘. Sie macht deutlich, wie schwer angesichts der komplexen Geschlechterrepräsentationen und der internen Heterogenität der Geschlechterkategorien selbst die Beantwortung der Frage fällt, ob aztekische Geschlechterbeziehungen als „komplementär“ oder als hierarchisch beschrieben werden können. Die Frage, ob nicht weniger „westlich“ geprägte Konzeptualisierungen der Geschlechterbeziehungen („Geschlechterdualität“, „Geschlechterparallelismus“) in diesem Zusammenhang vorzuziehen wären, bleibt offen.
Der dritte Teil des Sammelbandes ist den Geschlechterbeziehungen im Amazonastiefland gewidmet. Ernst Halbmayr wendet sich in seinem Beitrag über Menarche und Initiation bei den amazonischen Carib-Sprecherinnen gegen das bislang hegemoniale Verständnis der Menstruation als „Verunreinigung“, die eine – angeblich ausgeprägte – Geschlechterhierarchie – markiere und unterstreiche. Dem gegenüber betrachtet er Menarche, Menstruation und Initiation als Neugestaltung der Beziehungen zwischen menschlicher und nichtmenschlicher Welt. Im Rahmen einer „selektiven“ Kontaktetablierung werden erwünschte Fähigkeiten durch Initiand/-inn/en angeeignet, wodurch – in regional unterschiedlichen Logiken – der soziale geschlechtliche Körper erst „produziert“ wird.
Der an den Anfang von Teil III gestellte Beitrag von Irène Bellier warf 1993 erstmals die Frage auf, ob der den Gesellschaften Amazoniens im Allgemeinen zugeschriebene egalitäre Charakter auch die Geschlechterbeziehungen umfasse. Bellier stellt in diesem Zusammenhang soziale, symbolische und politische Praktiken in den Vordergrund, die Frauen ausgrenzen, und wirft schließlich die Frage nach dem Verhältnis von „symbolischer“ und realer „Macht“ auf. Diesen Artikel nimmt Bärbel Grubner zum Ausgangspunkt dafür, neuere Ergebnisse aus der Geschlechterforschung in Amazonien zu diskutieren. Sie demonstriert, in welchem Ausmaß die jeweilige analytische Perspektive der Forscher/-innen bestimmt, ob Egalität oder Hierarchie in den Geschlechterbeziehungen in den Brennpunkt gerückt werden. Als erste Voraussetzung für eine künftige (Geschlechter-)Forschung in der Region postuliert sie daher die Notwendigkeit, die – formal und inhaltlich – unterschiedlich bestimmten Geschlechterkategorien und Geschlechterkonzeptualisierungen gründlich zu überdenken. Als Alternative schlägt Grubner vor, die Kategorie „Person“ zum Ausgangspunkt für die Untersuchung von „Geschlecht“ zu machen. Nur so sei es möglich, sich als Voraussetzung für die Analyse von „Geschlecht“ Gesellschaften als „social wholes“ zu nähern – und, wie hinzuzufügen wäre, indigenen Gesellschaften und Geschlechterbeziehungen einigermaßen gerecht zu werden.
URN urn:nbn:de:0114-qn053142
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