Jutta Eming u.a. (Hg.):
Historische Inzestdiskurse.
Interdisziplinäre Zugänge.
Königstein/Ts: Ulrike Helmer 2003.
350 Seiten, ISBN 3–89741–124–5, € 29,95
Abstract: Der vorliegende Sammelband bietet einen vielschichtigen, aber ergänzungsbedürftigen Überblick zur Geschichte der Inzestproblematik vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Er beinhaltet interdisziplinäre Studien sowohl zu dem sich historisch wandelnden Inzestbegriff als auch zu der sich verändernden Umgangsweise mit dem Phänomen Inzest. Im Zentrum des Interesses stehen dabei die unterschiedlichen Verwandtschaftsvorstellungen und Sexualitätsnormen, die im Rahmen der Inzestthematik verhandelt werden.
Wie die Herausgeberinnen in ihrer Einleitung deutlich machen, ist es das Anliegen des Sammelbandes, das Phänomen Inzest als historisches in den Blick zu nehmen. Damit wenden sie sich gegen die überaus einflussreich gewordenen Überlegungen von Freud und Lévi-Strauss, nach denen Inzest bzw. ein apostrophiertes Inzestbegehren immer noch als natürliches Phänomen, gleichsam als anthropologische Konstante angesehen werden. Historisch zu erklären sei demnach lediglich das Inzesttabu, nicht aber das vermeintliche Begehren. In dieser Perspektive erscheint Verwandtschaft als biologische Größe, Sexualität bzw. bestimmte Aspekte des sexuellen Begehrens, intime Beziehungen im sozialen Nahbereich, in der Familie, vor allem unter Eltern und Kindern, werden auf diese Weise naturalisiert. Die Geschichte der Inzestproblematik indes macht darauf aufmerksam, dass sich die Vorstellungen von Verwandtschaft und Familie stetig verändern und sehr unterschiedliche sexuelle Kontakte und intime Beziehungen unter dem Inzestbegriff subsumiert werden. Inzest im 20. Jahrhundert meint mitnichten dasselbe wie Inzest im 13. Jahrhundert! Stattdessen, so argumentieren die Herausgeberinnen vollkommen überzeugend, sollte man die Inzestproblematik als eine „Problematik der Grenzziehung“ (S. 9) betrachten, der Grenzziehung zwischen als legitim oder illegitim erachteten Kontakten und Beziehungen ebenso wie zwischen Liebe und Sexualität. Diese genealogische Perspektive in Anlehnung an Foucault oder Butler ist aus der Körper- und Geschlechtergeschichte wohl vertraut. Sie erlaubt es, als natürlich geltende Phänomene einer historischen und damit kritischen Betrachtung zugänglich zu machen.
Auffallend ist, dass sich elf Autorinnen diesem Thema widmen – und kein einziger Autor. Vielleicht verweist dieser Umstand auf ein besonderes Problem bei der Beschäftigung mit der Inzestthematik: Es sind immer noch – ob zur Recht oder Unrecht – Männer, die mit dem Phänomen Inzest als Täter in Verbindung gebracht werden. Dass es sich hierbei – so oder so – um eine Zuschreibung handelt, die sich in dieser Form erst nach dem 18. Jahrhundert herausbildete, zeigt Brigitte Kerchner in einem überaus gelungenen Beitrag zur Geschichte der Inzestproblematik im 19. Jahrhundert.
In insgesamt elf Beiträgen geht der Sammelband der Geschichte der Inzestproblematik seit dem Mittelalter nach. Einen deutlichen Schwerpunkt nimmt dabei die Beschäftigung mit der Frühen Neuzeit ein. Die Beiträge sind sehr unterschiedlich angelegt, teilweise eher literaturwissenschaftlich, vielfach rechtsgeschichtlich, insgesamt auf einer sehr breiten Quellenbasis – von Romanen über Traktate und Verhörprotokolle bis zu Gesetzessammlungen. Es ist leider nicht möglich, alle Beiträge und alle wichtigen Aspekte des Bandes im Folgenden anzusprechen.
Jutta Eming und Judith Klinger widmen sich zu Beginn des Bandes der Inzestthematik in der mittelalterlichen Literatur, insbesondere im Adelsroman. Das Inzestmotiv findet sich in der Literatur seit dem 11. Jahrhundert, typisch für die Beschäftigung mit der Inzestproblematik ist dabei, so Eming, „die Verknüpfung der Inzest- mit der Herrschaftsthematik“ (S. 31). Exogamie sicherte oder stiftete Adelsdynastien, so die mehr oder weniger offen ausgesprochene Botschaft der Romane. Vor allem der Aufsatz von Klinger zum Melusinemythos widmet sich in dieser Hinsicht eher dem Problem der Verwandtschaft im Allgemeinen als dem Problem des Inzests im Besonderen.
Die Geschichte der Inzestproblematik in der Frühen Neuzeit, vor allem deren religiöse Ebene, nehmen zwei Aufsätze von Birgit Klein und Ulinka Rublack in den Blick. Klein beschäftigt sich mit jüdischen Heiratsregeln und der Bedeutung des Inzestverbotes im Buch Leviticus. Sie interessiert sich vor allem für das Problem, das daraus entsteht, dass es Ausnahmen von diesem Verbot gibt, Verwandtschaftsgrade, die nicht betroffen sind, wie die intime Beziehung zwischen Onkel und Nichte. Sehr deutlich wird an dieser Stelle die Rolle der Interpretation, über die in diesem Fall die Rabbiner wachen. Insgesamt sind allerdings nur sehr wenige Kontakte und Beziehungen bzw. Ehen unter Juden zwischen Onkel und Nichte überliefert – tatsächlich handelt es sich hierbei um ein antijüdisches bzw. antisemitisches Stereotyp. In einem sehr interessanten Artikel beschäftigt sich Rublack mit der Verschärfung der Inzestgesetzgebung in Südwestdeutschland im 16. und 17. Jahrhundert, also nach der Reformation. Sie rekonstruiert die scharfe Verurteilung des Inzests durch protestantische Theologen, die Inzest als „Trennungslinie zwischen Kultur und Natur“ (S. 117) begreifen und behandeln: Auf Inzest stand – im schlimmsten Fall – Enthauptung. Vollkommen überzeugend argumentiert Rublack, dass es gerade diese Verschärfung der Inzestgesetzgebung war, die zu einer wachsenden Vertuschung von Inzestvorfällen führte. Anzeigen waren nunmehr für alle Beteiligten potentiell lebensgefährlich, nicht nur für die Täter; auch die Opfer im Fall einer Vergewaltigung galten als schuldig, so sie nicht massiven Widerstand gegen die Vergewaltigung geleistet hatten.
Festzuhalten gilt: Die Inzestproblematik erstreckte sich im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit nicht nur auf die nächste Verwandtschaft oder die sog. Blutsverwandtschaft, sie betraf ebenso sehr die sog. Stief- oder Schwagerverwandtschaft und schließlich die sog. geistliche Verwandtschaft – auch die intime Beziehung zwischen einem Paten und seinem Patenkind oder einem Geistlichen und einem Gemeindemitglied wurde in diesem Zusammenhang unter dem Inzestbegriff subsumiert.
In zwei überaus gelungenen Artikeln beschäftigen sich Claudia Jarzebowski und Brigitte Kerchner mit dem sich gegen Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts stark wandelnden Inzestbegriff. Beide Autorinnen betonen an dieser Stelle die Rolle des Allgemeinen Preußischen Landrechts von 1794, das den Einfluss der Aufklärung auf den Inzestdiskurs in der Formierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft dokumentiere. In den Vordergrund rückte dabei eine Verengung des Inzestbegriffes auf die nächste Verwandtschaft, vor allem auf die Eltern-Kind-Beziehung. Zum zentralen Skandalmoment werde dabei jedoch weniger der Verwandtschaftsgrad als solcher als der damit einhergehende Altersunterschied. Diese Verengung auf die nächste Verwandtschaft bezeichnet Jarzebowski zu Recht als „Biologisierung“ (S. 165 f.) der Inzestproblematik. In der Formierungsphase der bürgerlichen Gesellschaft und im Schatten einer sich etablierenden Liebessemantik rücke die sog. Kernfamilie in das Zentrum der Diskussion, insbesondere das Vater-Tochter-Verhältnis und die Unterscheidung zwischen eingeklagter Liebe und verdrängter Sexualität. Fast zwangsläufig geraten auf diese Weise alle anderen Inzestbeziehungen aus dem Sichtkreis. Kerchner macht darauf aufmerksam, dass im Verlauf des 19. Jahrhunderts vor allem der Mann und Vater aus der Unterschicht, der Proletarier, als potentiell inzestuös in den Blick genommen werde, und spricht in diesem Sinne vom Inzest als einem imaginierten „Klassendelikt“ (S. 264). Gegen Ende des 19. Jahrhunderts schließlich setze jene Pathologisierung des Inzesttäters ein, die in ähnlicher Form auch heute noch ist im Rahmen der Debatte um Missbrauch und Pädophilie zu beobachten ist.
An dieser Stelle, so darf man meinen, hätte der Band nicht abbrechen dürfen. Der Gang der Entwicklung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die „Geschichte der Gegenwart“, bleibt quasi im Dunkel. Der Beitrag von Bettina Bannasch zum Motiv der Geschwisterliebe in der Literatur nach dem Ersten Weltkrieg und der Beitrag Judith Butlers zum Problem der Anerkennungspolitik von Verwandtschaftsbeziehungen durch den Staat können diese Lücke nicht schließen. Die – sehr klugen und dringend notwendigen – strategischen Überlegungen Butlers können eine historische Analyse allenfalls anleiten.
Die aus der Perspektive der Gegenwart einschneidende Verschiebung von der Inzest- zur Missbrauchs- und schließlich zur Pädophilieproblematik nimmt der vorliegende Sammelband leider nicht in den Blick. Vielleicht konzentriert er sich zuweilen zu sehr auf den Aspekt der Verwandtschaft und verliert dabei einen Aspekt aus den Augen, der die moralische und politische Brisanz der Inzestproblematik – heutzutage – in besonderem Maße berührt: den Aspekt der Kindheit. Genealogisch betrachtet ist der Inzest-, Missbrauchs- und Pädophiliediskurs einer jener Diskurse, in deren Kontext sich das Phänomen Kindheit, so wie wir es zu verstehen gelernt haben, erst konstituiert, gleichsam ex negativo. In diesem Sinne – wie drückt man das aus? – „macht“ der Inzestdiskurs Kinder, Kinder die als „Kinder“ vor dem Inzestvollzug geschützt werden sollen… ein abgründiges Thema.
URN urn:nbn:de:0114-qn053105
Pascal Eitler
Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft, SFB 584 „Das Politische als Kommunikationsraum in der Geschichte“
E-Mail: pascaleitler@web.de
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