Leibhaftiges „Geschlecht“. Eine phänomenologische Spurensuche

Rezension von Luca Caracciolo

Ulle Jäger:

Der Körper, der Leib und die Soziologie.

Entwurf einer Theorie der Inkorporierung.

Königsstein/Ts.: Ulrike Helmer 2004.

234 Seiten, ISBN 3–89741–143–1, € 24,95

Abstract: Gefühle, Empfindungen und leibliche Regungen bleiben in (körper-)soziologischen Untersuchungen meist unberücksichtigt. Sie spielen jedoch eine bedeutende Rolle für die Praxis der Individuen im sozialen Alltag. Um dieser Vernachlässigung entgegenzuwirken, begibt sich Ulle Jäger mit ihrem Buch auf Spurensuche nach brauchbaren Begriffen und Konzepten in der Phänomenologie und der Anthropologie. Jägers explizites Ziel ist es dabei, den Körper einerseits als sozial geformt zu beschreiben, andererseits aber nicht auf seine materielle Beschaffenheit und die damit verbundenen leiblichen Erfahrungen des Selbst zu verzichten. Anhand der Kategorie des Geschlechts untermauert sie ihre auf dieser Begriffsreise gewonnenen Erkenntnisse.

Phänomenologie des Körpers

Die Körpersoziologie ist nach wie vor ein heiß diskutiertes Forschungsfeld. Insbesondere die Frage nach der Art und Weise der Einverleibung sozialer Strukturen steht zur Debatte. Wie gelangen die sozialen Strukturen in den Körper? Was lösen sie bei den Subjekten aus? Und wie erreichen sie ihre Wirkung? Um diese aktuellen Forschungsfragen in einer erweiterten Perspektive anzugehen, versucht Jäger im Rückgriff auf phänomenologische Ansätze ein begriffliches Instrumentarium zu entwickeln, das die Berücksichtigung von Emotionen und Empfindungen in einem körpersoziologischen Forschungskontext gestattet.

Im ersten Kapitel ihres Buches stellt Jäger kurz aktuelle körpersoziologische Theoriediskussionen vor. In den anschließenden Kapiteln zwei bis fünf geht sie ihr eigenes theoretisches Vorhaben an. Auf Basis der Leibphänomenologie Hermann Schmitz’ entfaltet sie im zweiten Kapitel einen Begriff des Leibes, den sie von einem poststrukturalistischen Begriff des „Körpers“ abgrenzt. Anschließend versucht sie, die Ebene des Leibes in die Arbeiten von Judith Butler und Michel Foucault zu integrieren. Auf Grundlage dieser begrifflichen Auseinandersetzung führt sie im dritten Kapitel den Begriff des „körperlichen Leibes“ (S. 103 ff.) ein, um vor dem Hintergrund einer analytischen Trennung zwischen Körper und Leib die Einheit des untersuchten Gegenstandes zu betonten. Die analytische Unterscheidung zwischen Körper und Leib verwendet Jäger im vierten Kapitel dann, um ihr Wechselverhältnis bei der alltäglichen Ausbildung von Geschlechtsidentität zu beschreiben. Theoretisch nimmt sie hierbei Bezug auf die philosophisch-anthropologischen Arbeiten von Helmuth Plessner und auf die mikrosoziologischen Arbeiten Gesa Lindemanns aus den 90er Jahren. Im fünften Kapitel versucht Jäger schließlich, den Begriff des Leibes in Pierre Bourdieus Habitus-Konzept zu integrieren, um so einen Beitrag zu einer allgemeinen Theorie der Inkorporierung sozialer Ordnung vorzulegen.

Was vom „Körper“ übrig blieb

Der Bezug auf phänomenologische Arbeiten zum Körper lässt sich insbesondere als Kritik an diskurstheoretischen Analysen des Körpers einordnen, die seit Anbeginn das körpersoziologische Forschungsfeld dominiert haben. Geht der Körper wirklich im Text auf, oder gibt es da noch ein „Etwas“, das nicht diskursiv bestimmbar ist? Was ist mit den leiblichen Regungen der Individuen, den Gefühlen und Empfindungen? Anhand des Leibbegriffes von Hermann Schmitz beschreibt Jäger eine Dimension des Körpers, die durchaus über einen Eigensinn verfügt und nicht mit Diskursivität gleichzusetzten ist. Der Leib ist die Seite menschlicher Existenz, von der sich die Individuen nicht einfach lossagen können (vgl. S. 52 ff.).

Der Versuch, diese leibphänomenologische Perspektive mit so genannten poststrukturalistischen Arbeiten wie die Judith Butlers und Michel Foucaults zu verknüpfen, ist allerdings nicht ganz unproblematisch. Butlers Hauptanliegen ist es, die diskursive Setzung eines natürlichen Körpers zu kritisieren und in Konsequenz die Zwangsmatrix der Heterosexualität als sozial produzierte zu beschreiben. Jede diskursive Bezugnahme auf die gelebte Erfahrung, auf die leibliche Ebene des Körpers ist Butler zu Folge eine Reproduktion bzw. Zementierung dieser normativen Setzungen. Jäger will aber nicht auf die Ebene des Leibes verzichten und hält sie in Butlers Denken für integrierbar, wenn der Leib nicht ontologisiert wird, sondern, genau wie der Körper, in einem historischen Prozess der diskursiven Materialisierung ausgesetzt ist (vgl. S. 80). Ist die an Butler anschließende Historisierung des Leibes im Sinne einer Denaturalisierung sinnvoll und für mikrosoziologische Analysen brauchbar, so ist Jägers Bezugnahme auf Foucault und die von ihr ins Auge gefasste Möglichkeit einer „Genealogie des Leibes“, einer eigenen Historie des Leibes, eher problematisch.

Der Leib-Diskurs wäre Jäger zu Folge im Sinne Foucaults eine Art Gegendiskurs, „eine Wissensform, die hinter das hegemoniale naturwissenschaftliche Körperverständnis zurückgetreten ist“ (S. 99). Somit versucht Jäger eine Ebene des Leibes in Foucaults Machtanalytik zu integrieren, die bei Foucault allenfalls in Ansätzen erkennbar ist. Leider führt sie die interessanten Stellen in diesem Zusammenhang kaum aus. Welche andere Form der Erfahrung wäre mit dem Einbezug eines Leibbegriffes nach Schmitz historisch beschreibbar? Wenn eine Genealogie des Leibes betrieben wird, ist dann nicht dennoch eine Geschichte des Leibes nur in Form historischen Wissens zugänglich? Diese Methodik zur Erschließung „leiblichen Wissens“ könnte nur diskursiv arbeiten und damit dem widersprechen, was Jäger eigentlich intendiert: eine andere Form der Erfahrung sichtbar zu machen, die sich eben nicht mit der Geschichte des „Körpers“ deckt. Insofern ist eine Genealogie des Leibes so nicht machbar, weil sich Methode und Gegenstand ausschließen.

Die Ebene des Leibes und soziale Ordnung

Die Beschreibung der Verschränkung zwischen Körper und Leib in einem soziologischen Kontext geht im Wesentlichen auf die Arbeiten von Gesa Lindemann zurück. Vor allem ist hier die empirische Studie Das paradoxe Geschlecht – Transsexualität im Spannungsfeld von Körper, Leib und Gefühl (1993) zu nennen. Insofern es ein spezifisches Wissen über den Körper gibt, so Lindemann, spürt und fühlt der Leib entsprechend dieses Körperwissens. Sie schreibt dem Leib in einer mikrosoziologischen Perspektive in erster Linie die Funktion der Stabilisierung und Reproduktion sozialer Ordnung zu. Jäger aber interessiert sich darüber hinaus auch für die Spuren in Lindemanns empirischer Untersuchung, die von einer subversiven Rolle des Leibes Zeugnis ablegen (vgl. S. 152 ff.). So sei laut Jäger vor dem Hintergrund der Transgender-Bewegung ein Geschlechtswechsel bei Transsexuellen auch ohne Operation keine Seltenheit mehr. Eine solche Umdeutung würde bedeuten, dass „die vergeschlechtlichende Wirkung des Körpers von den Empfindungen des Leibes“ (S. 163) trennbar zu sein scheint. Eine genauere Analyse darüber, wie die Umdeutung körpergeschlechtlicher Zeichen im Kontext einer Unterscheidung zwischen Körper und Leib in sozialer Interaktion funktioniert, unternimmt Jäger leider nicht.

In der Auseinandersetzung mit Bourdieus Habitus-Konzept versucht die Autorin schließlich die Leibesebene für eine allgemeine Theorie der Inkorporierung sozialer Ordnung fruchtbar zu machen. Nach Jäger ist es nämlich „vor allem der Leib, der das unbewusste Funktionieren des Habitus garantiert“ (S. 189). Um diese leibliche Komponente des Habitus-Konzepts genauer zu fassen, greift Jäger auf Plessners Konzept der „zentrischen Positionalität“ zurück (S. 199 ff.). Der Mensch könne sich trotz seiner Fähigkeit zur Reflexion nie gänzlich vom Hier-und-Jetzt seiner Umgebung, was Plessner als zentrisch positioniert beschreibt, trennen. Er bleibt immer auch den Gefühlen, Empfindungen und Regungen seiner unmittelbaren Umwelt verhaftet. Bourdieu spricht hierbei von den „Beharrungskräften des Habitus“ und unterstreicht damit die Resistenz habitueller Dispositionen gegenüber Veränderungen. Mit der Integration der „zentrischen Positionalität“ in das Habitus-Konzept zeigt Jäger eine interessante Möglichkeit auf, wie die Stabilität inkorporierter sozialer Ordnung genauer gedacht werden kann. Damit kann sie zwar die Frage nach der Resistenzkraft des Habitus vertiefend behandeln, eine Antwort auf das „Wie“ der Inkorporierung sozialer Strukturen liefert sie damit aber nicht. Somit schafft Jäger ein verbessertes Verständnis von der Strukturiertheit menschlicher Existenz im Verhältnis zur sozialen Umwelt, keines aber darüber, wie diese Strukturiertheit mit Inhalten, den Strukturen der sozialen Welt, gefüllt wird.

Leibhaftige Klassen?

Erst die Berücksichtigung der leiblichen Dimension des Körpers kann Phänomene wie Geschlecht, die im sozialen Alltag eine so drückende Herrschaft ausüben, umfassend analysieren. Jägers Verdienst liegt darin, diese in den Sozialwissenschaften vernachlässigte begriffliche Differenzierung mit Sorgfalt zu präsentieren und dabei eine Ontologisierung des Leibes zu vermeiden. Doch bringt sie in ihrer Untersuchung nicht viel Neues. Lindemanns Arbeiten liegen schon über zehn Jahre zurück und wurden schon mehrfach aufgegriffen, ebenso wie die Arbeiten von Plessner und Schmitz. Die spannende Frage, was sich aus dem im Bereich der Geschlechterforschung zu verortenden Konzept der Körper-Leib-Verschränkung für die Inkorporierung von sozialen Strukturen im Allgemeinen ableiten lässt, ob also die von Lindemann „in Bezug auf die Geschlechterordnung nachgewiesene Funktion des Leibes auch auf andere Ordnungssysteme übertragbar ist“ (S. 222), bleibt unbeantwortet.

URN urn:nbn:de:0114-qn061010

Diplom-Sozialwissenschaftler Luca Caracciolo

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