Geschlechterstereotype – systemtheoretisch

Rezension von Ursula Pasero

Sabine Kampmann, Alexandra Karentzos, Thomas Küpper (Hg.):

Gender Studies und Systemtheorie.

Studien zu einem Theorietransfer.

Bielefeld: transcript 2004.

210 Seiten, ISBN 3–89942–197–3, € 22,80

Abstract: Die Herausgeber/-innen haben einen ausgesprochen heterogenen Mix aus soziologischen, literatur- und kunstwissenschaftlichen Beiträgen zusammengestellt, deren Gemeinsamkeit die Bezugnahme auf die Systemtheorie Niklas Luhmanns ist. So weit, so gut. Den ausgesprochen disparaten Ertrag des kleinen Bandes als „Theorietransfer“ auszuflaggen, ist eine Selbstzuschreibung, die keinesfalls von allen Beiträgen eingelöst wird. Der Theorietransfer kreist im Wesentlichen um das Phänomen der Wirksamkeit von Geschlechterstereotypen, die selbst in der funktional differenzierten Gesellschaft noch durchschlagen. Solche Stereotype sind wiederum ein ergiebiges Material für die Gegenwartskunst, um auf den Kopf gestellt oder ironisch umgebaut zu werden.

Soziologische Beiträge

Der Autor Kai-Uwe Hellmann wirft eingangs die Frage auf, welche Resonanz der 1988 publizierte Essay von Niklas Luhmann „Frauen, Männer und George Spencer Brown“ hervorgerufen hat. Luhmanns ausgesprochen scharfe Polemik gegen Frauenbewegung und Frauenforschung und vor allem seine These der geringen Relevanz der Geschlechterdifferenz für die moderne Gesellschaft bewirkten, dass Systemtheorie und Geschlechterforschung als unvereinbar wahrgenommen wurden. Dennoch entstanden im Anschluss an den Essay von Niklas Luhmann Versuche, systemtheoretische Perspektiven für die Geschlechterforschung aufzuschließen. Ausgangspunkt dieser Arbeiten war die Verortung der Geschlechterdifferenz im Rahmen einer Gesellschaftstheorie, die die moderne Gesellschaft als funktional differenzierte Gesellschaft beobachtet. Von diesem „starting point“ aus kann die Omnirelevanz der Kategorie Geschlecht – wie sie zumindest von der feministischen Frauen- und Geschlechterforschung vertreten wird – nicht länger plausibilisiert werden. Der daraus hervorgehende Befund lautet: „dass sich das Geschlecht durchaus als eine Kategorie der Gesellschaftstheorie eignet – nur eben als eine Kategorie neben vielen anderen, die allesamt kein Privileg auf Präferierung beanspruchen können“ (S. 35 f.). Mit der Feinjustierung auf die systemtheoretische Unterscheidung von Interaktion, Organisation und Gesellschaft konnte schließlich gezeigt werden, dass der Geschlechterdifferenz „auf allen drei Ebenen eine je unterschiedliche Relevanz zukommt, womit sich die Paradoxie auflöst, der Geschlechtskategorie eine abnehmende Relevanz zu bescheinigen, obgleich sie nichtsdestoweniger überall noch vorkommt“ (S. 36). Dennoch konstatiert der Autor eine kaum zu überbrückende Distanz zwischen Systemtheorie und Geschlechterforschung, weil der systemtheoretische Fokus der Geschlechterfrage lediglich eine marginale Bedeutung einräumt. „Dies könnte wiederum die Gender Studies davon abhalten, das faszinierende Beobachtungs- und Erklärungspotential der Systemtheorie für sich in Anspruch zu nehmen“ (S. 46).

Die Autorin Christine Weinbach schlägt diese Unvereinbarkeitsformeln in den Wind und geht in ihrem Aufsatz genau dieser Paradoxie noch einmal nach. Denn einerseits ermöglicht die funktional differenzierte Gesellschaft in nie zuvor gekanntem Ausmaß die Gleichgültigkeit gegenüber zugeschriebenen Eigenschaften, andererseits zeigen sowohl Empirie als auch Alltagserfahrungen, dass die Geschlechtszugehörigkeit „als informelles Inklusionskriterium“ weiterhin sehr lebendig ist (S. 48 f.). Dabei verweist die Autorin vor allem auf „Interaktion als den Ort, an dem die Geschlechterdifferenz ihre soziale Distinktionskraft heute noch entfaltet“ (S. 53). Die nachfolgenden Ausführungen beginnen mit dem systemtheoretischen Begriff der „Form Person“, der als strukturierendes Moment der Kommunikation in interaktiven Zusammenhängen entwickelt wird. In diesem Kontext wird der Personenbegriff Luhmanns mit dem Bourdieu’schen Habitusbegriff amalgamiert, um den Wahrnehmungsaspekt sozialer – und damit auch vergeschlechtlichter – Körper einzubeziehen. Das Paradox von Neutralität und Relevanz der Geschlechterdifferenz ist für Weinbach somit geklärt: Während in der Kommunikation geschlechtsneutrale Erwartungen an die Personen gerichtet werden, orientiert sich das wahrnehmende Bewusstsein an der habituell verfassten Seite der Person – und da lassen sich Frauen von Männern unschwer unterscheiden. In diesem Kontext leben klassische Geschlechterstereotype auf, die für die Autorin den Dreh- und Angelpunkt geschlechtlicher Ungleichheit ausmachen.

Literatur- und kunstwissenschaftliche Beiträge

An dieser Stelle endet meiner Meinung nach das Angebot eines Theorietransfers für die Gender Studies. Die nachfolgenden Aufsätze fallen eher durch einen aufgesetzten Bezug zur systemtheoretischen Semantik auf als durch systemtheoretische Klärung.

Geradezu sinnentstellend erscheint mir der Beitrag von Natalie Binczek, die den systemtheoretischen Begriffen von Medium und Form eine durchgehende geschlechtsstereotype Konnotation zuschreibt und diese Zuschreibung zudem noch als „Die Biologie [!] der Medium/Form-Unterscheidung“ tituliert. Originalton: „Luhmann qualifiziert Medien also [!] als passiv, Formen hingegen als aktiv und unterlegt die Medium/Form-Unterscheidung auf diese Weise [!] mit einem Kategorienensemble, das für die traditionelle Abgrenzung der Geschlechter kennzeichnend ist“ (S. 81). Ein solcher Reduktionismus erinnert eher an frühe ideologisierte Techniken, jeder komplementären Unterscheidung eine vergeschlechtlichte Bedeutung anzuhängen. Möglicherweise habe ich die Ironie dieses Beitrags nicht verstanden?

Die Autorin Bettina Gruber hantiert in ihrem Aufsatz ebenfalls mit dem Schema Medium/Weiblich – Form/Männlich, indem sie ein Gedicht von Baudelaire interpretiert. Wird das sinnentstellende Medium/Form-Manöver weggelassen, dann verbleibt eine gender-sensible Gedicht-Interpretation, die die Wirksamkeit der bekannten Geschlechterstereotype des 19. Jahrhunderts zu Tage fördert.

Ein in die gleiche Richtung weisender, ausgesprochen detailreicher Aufsatz von Dagmar Steinweg behandelt den Ausschluss von Frauen aus der Literatur- und Kunstproduktion in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts.

Thomas Küpper verbindet seine kleine kurzweilige Untersuchung von „Kitsch und Camp“ anhand eines Schlagers mit der wuchtigen Vorgabe, das Thema „aus evolutionstheoretischer Sicht“ abzuhandeln und „Kitsch und Camp in der Koevolution der Systeme“ (S. 148) zu verorten. Auch hier vermute ich handfeste Ironie, die mir nicht ganz aufgegangen ist. Jedenfalls erschließt sich mir nicht der Sinn solcher Kombinationen von wenigen Seiten Illustration mit hoch elaborierten systemtheoretischen Begriffen.

Alexandra Karentzos entfaltet in ihrem „Manifest für Ironiker/innen“ den Begriff der Ironie, der von den Gender Studies „häufig unscharf“ verwendet werde. Ironie ist für Karentzos ein klassischer Anwendungsfall von „Beobachtung zweiter Ordnung“, die am Beispiel eines Werks der Verpackungskünstlerin Kara Walker exemplifiziert wird.

Der abschließende Beitrag von Sabine Kampmann „Was heißt eigentlich Post-Feminismus? ‚… eine möglichst trittsichere und graziöse Flucht nach vorn‘ (Pipilotti Rist)“ ist eine anschauliche Interpretation eines Werks der Künstlerin Pipilotti Rist, die damit überrascht, dass sie erwartbare Genderstereotype irritiert. Das Werk spricht derart für sich selbst, dass überbordende Theorie-Etiketten entfallen können. Das macht den Beitrag ausgesprochen lesbar.

URN urn:nbn:de:0114-qn061127

Dr. Ursula Pasero

Gender Research Group; Institut für Soziologie der Universität Kiel

E-Mail: pasero@gender.uni-kiel.de

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