Marguérite Bos, Bettina Vincenz, Tanja Wirz (Hg.):
Erfahrung: Alles nur Diskurs?
Zur Verwendung des Erfahrungsbegriffs in der Geschlechtergeschichte.
Zürich: Chronos 2004.
396 Seiten, ISBN 3–0340–0591–1, € 32,00
Abstract: Erfahrung: Alles nur Diskurs? Dieser Frage, die insbesondere die materiale und diskursive Qualität des Erfahrungsbegriffs in den Blick zu nehmen verspricht, stellten sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der 11. Schweizerischen HistorikerInnentagung 2002 für Frauen-, Männer- und Geschlechtergeschichte. Der sorgfältig edierte Tagungsband präsentiert eine gelungene Zusammenschau der disparaten Umgangsweisen mit dem Erfahrungsbegriff als Analysekategorie in der Geschlechterforschung. Reich an Einblicken in die Vielfältigkeit gegenwärtiger Forschungspraxis, hält die Publikation etliche zur Vertiefung anregende Fallstudien bereit. Sie lässt jedoch eines vermissen: die Einlösung eines in der Geschlechtergeschichte seit langem reklamierten Forschungsdesiderats, nämlich eine sowohl theoretisch als auch methodisch profunde Auseinandersetzung mit den zu Leitbegriffen der Tagung erhobenen Kategorien „Erfahrung“ und „Diskurs“.
Initiiert und organisiert von Studentinnen der Universität Zürich, wurde ebendort im Februar 2002 die international und interdisziplinär besetzte 11. Schweizerische HistorikerInnentagung veranstaltet. Rund 300 Teilnehmende waren anwesend, renommierte Vertreterinnen und Vertreter der Geschlechterforschung, angehende Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sowie mit ihren Lizenziatsarbeiten befasste Studierende wirkten an insgesamt sieben thematischen Workshops mit, referierten über ihre Forschungsarbeiten und diskutierten im Rahmen zweier Podiumsgespräche zur Wissenschaftspolitik und Institutionalisierung der Geschlechterforschung in der Schweiz. 2004 ist der Sammelband zur Tagung erschienen. Er enthält die vier Hauptreferate, gehalten von Barbara Duden, Kathleen Canning, Ute Daniel und Martin Dinges (letzterer berichtet über „Stand und Perspektiven in der ‘neuen Männergeschichte‘“ am Beispiel der Frühen Neuzeit), eine umfangreiche Auswahl der Workshopbeiträge, einen informativen, zugleich selbstkritischen Rückblick auf die seit 1983 regelmäßig stattfindenden HistorikerInnentagungen sowie zwei Zusammenfassungen der Podiumsgespräche. Zudem ist der Band mit einem einführenden Kommentar der Herausgeberinnen Marguérite Bos, Bettina Vincenz und Tanja Wirz versehen.
Für die Publikation ordneten die Herausgeberinnen 26 Workshopbeiträge den folgenden vier Sektionen zu: (1) „Identität und Erfahrung“, (2) „Erinnerte Erfahrung: Lebensgeschichte und Oral History“, (3) „Politisierbarkeit von Erfahrung“, (4) „Am eigenen Leib: Körpererfahrung und Diskurs“. Ob des Umfangs der gesamten Unternehmung schien es wohl geboten, die Workshopbeiträge kurz zu halten, das heißt auf 7–9 Seiten zu beschränken. Die Kürze kam vor allem der Breite des Themenspektrums zugute: Die einzelnen Artikel vermitteln insgesamt einen sehr anschaulichen Eindruck von der inhaltlichen und methodischen Vielfalt gegenwärtiger, vor allem deutschsprachiger Geschlechterforschung.
Die zu Beginn der 1990er Jahre insbesondere durch den Artikel „The Evidence of Experience“ (1991) der amerikanischen Historikerin Joan W. Scott angeregte, vornehmlich in der Alltagsgeschichte, der Arbeitergeschichte und der Frauengeschichte geführte Debatte um den Erfahrungsbegriff stand mit ihrem – heute noch aktuellen – theoretischen und methodischen Potenzial Patin für die inhaltliche Konzeption der Tagung; meinungsbildende Protagonistinnen von damals waren als Hauptreferentinnen vertreten. Gefragt wurde nach der unterschiedlichen Verwendungsweise des Begriffs und danach, was die Debatte um seine Nützlichkeit für die historische Forschung bedeute, doch eine eindeutige und abschließende Begriffsdefinition wurde als Resultat der Tagung nicht erwartet (vgl. S. 9). Gleichwohl lassen die Herausgeberinnen wissen, dass die Beschäftigung mit dem Erfahrungsbegriff in der Geschlechtergeschichte längst über die Kontroverse um Scotts Kritik hinausgeführt habe (vgl. S. 12). Gestützt wird die Behauptung durch allenthalben bekundete Stetigkeit, mit der die Geschlechtergeschichte theoretische und methodische Anregungen seit jeher, das heißt seit ihren Anfängen in den späten 1970er Jahren [sic!], liefere und in deren Tradition der vorliegende Band stehe (S. 9, siehe auch den historischen Rückblick von Béatrice Ziegler, „Schweizerische Geschlechtergeschichte im Spiegel“, S. 369 ff.). Allein diese Bekundungen machen eine Arbeit am Begriff noch nicht aus.
Die Teufelin steckt bekanntlich im Detail. Die lesenswerten, historisch jeweils gut verankerten Ausführungen von Bos, Vincenz, Wirz und Ziegler kommen selbst um eine „invention of tradition“ (Bos/Vincenz/Wirz, S. 15) nicht herum, wenn vom „Bewusstsein, in einer Tradition zu stehen“, die Rede ist, vereint „mit der Anstrengung, den Prozess der Neuschreibung von Geschichte aus der Geschlechterperspektive weiterzutreiben“ (Ziegler, S. 369). „[E]xperience […] is a unifying phenomenon, overriding other kinds of diversity“ (Scott 1991, S. 784), vermerkte bereits Scott und wies damit auf einen wesentlichen psychologischen und zugleich politischen Aspekt des Erfahrungsbegriffs hin. Auf Joan W. Scott rekurrieren denn auch fast alle am Sammelband Beteiligten, indem sie sich auf mehr oder weniger explizite Weise für oder gegen Scotts erfahrungskritische, dem linguistic turn Rechnung tragende Arbeiten aussprechen.
Um die Wahrung ihrer Haltung geht es der Körperhistorikerin Barbara Duden. „Ich will Zeugin sein“, schreibt sie, „dafür, dass es eine leibhaftige Erfahrung gab, die nicht das Resultat kategorialer Konstruktion war, und die doch in ihrer historischen Prägung untersucht werden kann“ (S. 25 f.). In Dudens Hauptreferat, das die Veränderung von Körperwahrnehmung durch die Entwicklung neuer Technologien, insbesondere der Diagnose, kritisch beleuchtet, haben sich die emotiven Spuren einer offenkundig nicht frei von Animositäten geführten Debatte erhalten. Doch unerfreulich an Dudens pathetischem Plädoyer für das somatische Wissen ist weniger ihre übergriffige Formulierung vom Lachen „über herzlose Akademiker [sic!] wie Joan Scott“ (S. 35). Vielmehr scheinen die folgenden zwei Punkte bedenklich: Zum einen reklamiert Duden auf problematische Weise den Begriff der „Zeugin“ für sich. Angesichts der grundsätzlichen Vermitteltheit historischer Quellen bedarf es für „Einsichten in die Historizität des Leibes“ (S. 33) in dem von ihr beschriebenen Fall zumindest der textuellen Analyse – Zeugnis über das haptisch erfahrene Selbstverständnis der Patientinnen eines Eisenacher Arztes im frühen 18. Jahrhundert geben letztlich die schriftlichen Aufzeichnungen. Zum anderen ist es die Fortschreibung und somit Aufrechterhaltung der vermeintlichen Dichotomie „Erfahrung“ / „Diskurs“, die einem gewollten Missverständnis oder einer allzu oberflächlichen Rezeption der strittigen Evidence of Experience geschuldet sein mag (siehe dazu Canning, die die Folgen der Polarisierung treffend benennt: „Die Reichweite des Konzepts Erfahrung wurde auf diese Weise beschränkt, [es, Anm. C.K.] verlor deutlich an Dynamik und blieb fast statisch“, S. 38).
Die Herausgeberinnen und die Hauptreferentinnen Duden und Daniel geben mit ihren verkürzten Bezugnahmen auf Scott (siehe Daniel, S. 63 f.) das reflexive Limit vor, nach dem sich – mit wenigen Ausnahmen, genannt sei der ebenso kenntnisreiche wie konstruktive Beitrag von May B. Broda „Erfahrung, Erinnerungsinterview und Gender. Zur Methode Oral History“ (S. 159 ff.) – die theoretischen und methodischen Ausführungen in den Workshopbeiträgen richten. Im Zuge der Kritik an Scott wird allerdings die Tatsache vernachlässigt, dass Scott weder fordert, dass Historikerinnen und Historiker den Erfahrungsbegriff nicht mehr verwenden sollten (Bos/Vincenz/Wirz, S. 11, vgl. Scott 1991, S. 797), noch die Handlungsfähigkeit von Subjekten, gar die Konstitution von Subjekten durch Erfahrung (Bos/Vincenz/Wirz, S. 11, vgl. Scott 1991, S. 777–779 und 793) oder die Historizität von Erfahrung im Allgemeinen (Scott 1991, S. 779f., vgl. Duden, S. 28) in Abrede stellt.
Es soll hier nicht bestritten werden, dass Scott in ihrer Konzeption wesentliche Aspekte des Erfahrungsbegriffs zwar nicht negiert, so doch außer Acht lässt, wenn sie beispielsweise auf die erlebte Unmittelbarkeit gegenwärtiger Erfahrung, die „sowohl Emotionen als auch Denken umfasse“ (Canning, S. 39), und folglich auf die Notwendigkeit einer räumlichen und zeitlichen Differenzierung nicht eingeht. Kathleen Canning weist, bezugnehmend auf Raymond Williams und Martin Jay, auf die „spezifischen methodologischen Fragen“ hin, die sich aus einem solchermaßen in Erlebnis und Erfahrung zweigeteilten Erfahrungsbegriff ergeben (Canning, S. 40 und 53). Entscheidend, so meine ich, bleibt aber Joan W. Scotts Kritik an einer unhinterfragten Verwendung ahistorisch festgeschriebener Kategorien.
Während der neuerlich abgedruckte Aufsatz von Kathleen Canning „Problematische Dichotomien. Erfahrungen zwischen Narrativität und Materialität“ (S. 37 ff., auf deutsch erstmals erschienen 2002) einen höchst aufschlussreichen analytisch-historischen Blick auf den Erfahrungsbegriff freigibt, Ute Daniel auf allemal wohlstrukturierte Weise „zentrale Fragen erfahrungsgeschichtlicher Zugänge“ (S. 59) thesenhaft erläutert und Christian Koller im Zuge seiner forschungspraktischen Auseinandersetzung mit „Alterität und Identität in Feldpostbriefen indischer Soldaten des Ersten Weltkrieges“ von der analytischen Unterscheidung zwischen „Kriegserlebnis“ und „Kriegserfahrung“ (Klaus Latzel) auf wohltuend reflektierte Weise Gebrauch macht (S. 118 f.), bleibt die zweite titelgebende Kategorie „Diskurs“ – symptomatisch? – sowohl in theoretischer als auch in methodischer Hinsicht unterbelichtet. Ein weitgehend unreflektierter beziehungsweise problematischer Umgang mit dem Diskursbegriff (etwa in dem Versuch von Elsbeth Kneuper, eine „ethnologische Diskursanalyse“ zu etablieren, S. 331 ff.) scheint mir denn auch der gravierendste Schwachpunkt der Publikation zu sein.
Ganz allgemein wird die historische Diskursanalyse als das methodische Verfahren in der Geschichtswissenschaft akzeptiert, mit dem sich Kommunikationsverhältnisse untersuchen lassen; Michel Foucault hat mehr oder weniger dezidiert der Urheber des Verfahrens zu sein. Dass es freilich auch andere Zugangsweisen gibt, um Diskurse aus historischer Perspektive zu untersuchen, demonstriert Franz X. Eder. Er rekurriert für seine Analyse des „onanistischen Subjekts im späten 18. Jahrhundert“ (S. 255 ff.) auf das dreidimensionale Diskurskonzept des Linguisten Norman Fairclough, wonach Text, diskursive Praxis und soziale Praxis als analytische Einheiten zu fassen wären. Wer Sprache im pragmatischen Sinne als Handlung versteht, der oder dem will allerdings nicht einleuchten, weshalb die diskursive Praxis von der sozialen Praxis zu trennen sei.
Der Tagungsband vermag eine erfrischende Unvoreingenommenheit hinsichtlich einer gelingenden Zusammenarbeit von Alt- und Jungakademikerinnen und -akademikern zu vermitteln. Dass neben Beiträgen von etablierten und gut institutionalisierten Forschenden auch die Stimmen engagierter Studierender wie Caroline Senn und Nathan Schocher, verantwortlich für die Zusammenfassungen der Podiumsgespräche, enthalten sind, ist äußerst begrüßenswert.
Scott, Joan W. (1991): The Evidence of Experience. In: Critical Inquiry 17, S. 773–797.
URN urn:nbn:de:0114-qn061063
Mag.a Christina Kleiser
DOC-Stipendiatin der Österreichischen Akademie der Wissenschaften / Institut für Zeitgeschichte der Universität Wien, derzeit Forschungsaufenthalt am Berliner Kolleg für Vergleichende Geschichte Europas (BKVGE)
E-Mail: christina.kleiser@gmx.at
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