Politisches „Milieu“, Familienwirklichkeit und Rechtsreform. Katholische und sozialdemokratische Positionen in der Weimarer Republik

Rezension von Arne Duncker

Rebecca Heinemann:

Familie zwischen Tradition und Emanzipation.

Katholische und sozialdemokratische Familienkonzeptionen in der Weimarer Republik.

München: Oldenbourg 2004.

349 Seiten, ISBN 3–486–56828–0, € 34,80

Abstract: Bei der verdienstvollen und materialreichen Arbeit Heinemanns handelt es sich um die gekürzte und überarbeitete Fassung einer an der Universität Augsburg 2002 abgeschlossenen Dissertation. Literatur ist bis einschließlich 2002 eingearbeitet. Mit Katholizismus und Sozialdemokratie hat die Arbeit zwei der bedeutendsten politischen und kulturellen Bewegungen – und auch „Milieus“ (S. 13 f.) – Deutschlands in der Zeit der Weimarer Republik zum Gegenstand. In der Arbeit werden Fragen der historischen Familienforschung, Sozialgeschichte und Parteiengeschichte behandelt. Sie enthält darüber hinaus – ausbaufähige – rechtshistorische, frauengeschichtliche, parlamentsgeschichtliche und ehephilosophische Abschnitte sowie ein Schwerpunktkapitel (S. 213–292) zur Bevölkerungspolitik.

Fragestellung

Einleitend (S. 11–19) umreißt Heinemann Fragestellung und Forschungsstand. Ihr Thema, die „öffentliche Diskussion über die Familie in der Weimarer Republik“ (S. 11), erweise sich in der damaligen Zeit als wesentlicher gesellschaftspolitischer Gegenstand. In der Frage, auf welchen normativen Grundlagen die Familie beruhe, welche Funktionen ihr zukämen und durch welche Maßnahmen sie zu stärken sei, bündele sich die politische Kultur der Weimarer Republik in einem zentralen Thema. Gerade weil das damalige System sozial, politisch und wirtschaftlich höchst instabil gewesen und die Gegenwart als eine Krisen- und Übergangszeit empfunden worden sei, habe man die Familie oft als fundamentalen Stabilitätsfaktor eingesetzt. Kernthema der Arbeit (S. 13) sei die gesellschaftliche Auseinandersetzung um das bürgerliche Familienmodell im katholischen und sozialdemokratischen Milieu. Beide Milieus hätten miteinander in Konkurrenz und Austausch gestanden, und die Auseinandersetzung um die moderne Kernfamilie hätte sich dabei als zentral erwiesen (S. 14). Zur Untersuchung empfehle sich ein teils chronologisch gegliederter, teils nach Schwerpunktbereichen eingeteilter Aufbau: nach Abschnitten zur Situation bis 1919 (Familie und Erster Weltkrieg; Familie und Weimarer Reichsverfassung) folgen daher Darlegungen zum katholischen und sozialdemokratischen Familienbegriff, zu zeitgenössischen Diskussionen über Ehe, Nichtehelichenfrage und „Funktionsverlust“ der Familie sowie zur Bevölkerungsfrage.

Rolle der Ehefrau und Mutter; Geschlechterfragen

Auf der Ebene der Formulierung von Fragestellungen herrschen insgesamt die abstrakten traditionellen sozial- und politikwissenschaftlichen Einordnungsversuche vor. Kaum thematisiert wird hier hingegen die naheliegende Beobachtung, dass Ehe- und Familienfragen immer auch Geschlechter- und Frauenfragen sind, dass der Kampf für oder gegen politische und bürgerlich-familienrechtliche Gleichberechtigung der Frauen in Deutschland spätestens seit etwa 1895 eine bedeutende Komponente der Familienrechtspolitik gebildet hat und speziell die Frage nach der Rolle der Frau in der Familie zusehends von Frauenseite selbst gestellt und von sozialistischen und katholischen Aktivistinnen oft recht unterschiedlich beantwortet wurde. Lediglich auf S. 13 verweist Heinemann kurz auf Positionen der Sekundärliteratur zur Geschlechtergeschichte, welche „den Blick auf den Begriff der Familie“ vermeintlich eher „verstellen“. Es wäre gleichwohl gerade auch im Rahmen eines familiengeschichtlichen Erkenntnisziels wünschenswert gewesen, bereits einleitend neben den Fragen zu Familientheorie, politisch-philosophischer Ideengeschichte, Bedeutung der Familie als Institution etc. auch einmal kurz die konkrete Frage nach der wirtschaftlichen, rechtlichen und faktischen Stellung und Lebenszielbestimmung der Frau (und des Mannes) zu vermerken, deren Beantwortung je nach Familienkonzeption sehr unterschiedlich ausfallen kann und häufig ein zentraler Gegenstand dieser Familienkonzeption ist. Freilich führt die eingeschränkte Fragestellung nicht zu größeren Defiziten in den Hauptteilen der Arbeit. Gerade aufgrund der umfassenden und äußerst gewissenhaften Auswertung zeitgenössischer Quellen spricht Heinemann dort fast zwangsläufig auch immer wieder geschlechtsbezogene Fragen an. So schildert sie bereits auf den ersten Seiten des Hauptteils (S. 21 f.; 29–34) die unterschiedlichen Erlebniswelten von männlichen Soldaten des Ersten Weltkriegs einerseits und Frauen und Kindern in der Heimat andererseits, nebst vielfältiger Enttäuschung und Desillusionierung bei Wiederaufnahme des Familienlebens nach Kriegsende.

Familie und erster Weltkrieg

Im ersten Kapitel (S. 21–65; „Familie und erster Weltkrieg: Die erträumte Familie und ihre Wirklichkeit“) werden die schädlichen Auswirkungen von Krieg und kriegsbedingter Wirtschaftskrise auf die Familien analysiert. Die überlebenden Kriegsteilnehmer (S. 21) seien – so Hachenburg 1922 – mit einem unsagbaren Verlangen nach einem eigenen Heim und nach Liebe nach Hause zurückgekehrt. Während des Krieges aber hatte sich das Leben in der Heimat verändert. Viele Familien waren durch wirtschaftliche Not destabilisiert worden (Preissteigerungen, Güterknappheit, Hunger, schlechter Gesundheitszustand, Mütter- und Kindersterblichkeit, Tuberkulose, Rachitis, verzögertes Körperwachstum der Kinder, die verheerende Grippe-Epidemie im Herbst 1918). In der Nachkriegszeit normalisierte sich die Lage nur sehr zögerlich. Namentlich das Krisen- und Inflationsjahr 1923 brachte neue Belastungen. Besonders litten die Familien nach dem Kriege unter der Wohnungsnot (S. 25–29). Diese traf nicht nur Arbeiterfamilien, sondern auch große Teile des Mittelstandes.

Einbezogen werden ferner die durch den Krieg bedingten psychisch-mentalen Veränderungen (S. 29–40): der Krieg hatte viele unvollständige Familien hinterlassen, in Deutschland 533.000 Kriegswitwen und 1.192.000 Kriegswaisen. Unter den über zehn Millionen Wehrpflichtigen waren ein Großteil der jungen verheirateten Männer. Diese waren oft mehrere Jahre lang von der Familie getrennt, so dass es häufig zu einer Entfremdung gegenüber Ehefrauen und Kindern kam. Diese wurde zusätzlich durch die unterschiedlichen Erfahrungswelten der Frauen und Männer während des Krieges bedingt. Hieraus folgte im Zusammenleben (S. 30) „eine oft beklemmende Sprachlosigkeit“, mitunter kam es zu blutigen Familientragödien. Auch hatte sich die Rolle der Frauen im Krieg wesentlich verändert. In Abwesenheit der Männer hatten die Frauen selbständig dem Haushalt vorgestanden, die Erziehung geleitet und oft in typischen damaligen Männerberufen gearbeitet, z. B. in kriegswichtigen Betrieben bei recht hoher Entlohnung. Eine Unterordnung unter die traditionelle Eheherrschaft des zurückgekehrten Mannes erschien danach nicht mehr selbstverständlich. Die Politik war freilich bestrebt, die ehemaligen Soldaten in Erwerbsleben wieder einzugliedern, was bedeutete, dass Frauen entweder in „Frauenberufe“ oder an den Herd zurückgeführt werden sollten. Ähnliche Unterordnungsprobleme hatten die Jugendlichen, die in Abwesenheit des Vaters oft ein selbständiges Leben geführt hatten, oft als gut bezahlte Hauptverdiener der Familie, zugleich häuften sich die zeitgenössischen Klagen über Jugendverwahrlosung. Die als Verlierer aus dem Krieg heimkehrenden Männer waren ihrerseits mitunter nicht in der Lage, wieder in ihre alte Autoritätsposition zurückzukehren. Oft waren sie kriegsversehrt oder psychisch traumatisiert. Zuvor war während des Krieges (S. 40–46) die Familie stark idealisiert und in Bezug zur „Volksgemeinschaft“ gesetzt worden. Zugleich kam es erstmals zu einer massiven finanziellen Unterstützung von Familien durch den Staat (S. 46–49). Neben kleineren Komponenten von hoher symbolischer Bedeutung (portofreie Feldpost: die täglich 14–19 Millionen Feldpostsendungen trugen zum Zusammenhalt der Familien bei) ist hier in erster Linie die „Familienunterstützung“ zu nennen, eine Geldunterstützung für die Familien eingezogener Soldaten, auch für deren schuldlos geschiedenen Ehefrauen und nichtehelichen Kinder. Ende 1915 bezogen rund vier Millionen Familien und elf Millionen Personen diese Unterstützung. Zugleich förderte diese Leistung ungewollt die wirtschaftliche Selbständigkeit der Ehefrauen.

Weiterhin führte der Krieg zu veränderten Positionen in der „Bevölkerungsfrage“ (S. 49–65). Kriegsverluste und kriegsbedingter Geburtenrückgang trugen dazu bei, „Reproduktion“ bzw. Kindererzeugung als wichtigste Aufgabe der deutschen Familie hervorzuheben. Durch eine große Bevölkerungszahl sollte die Wehrkraft, Wirtschaftskraft und politische Macht Deutschlands gestärkt werden. Es kam vor 1918 noch nicht zu einer systematischen Bevölkerungspolitik, wohl aber wurden Grundlagen für die spätere Bevölkerungsdebatte (S. 213–292) gelegt. Erste Maßnahmen zielten auf eine verbesserte Familienfürsorge und Verbesserungen im Mutterschutz. Später wurden auch weitergehende Pläne diskutiert: steuerliche und sonstige Förderung kinderreicher Familien, Erweiterung der Sozialversicherung durch eine Elternschaftsversicherung.

Ehe und Familie in der Weimarer Reichsverfassung

Im zweiten Teil der Arbeit (S. 67–108) wird die „Entstehung familienbezogener Inhalte der Weimarer Reichsverfassung“ kommentiert. Die Familie stellte (S. 67) einen zentralen Gegenstand in den Grundrechtsdebatten der Weimarer Nationalversammlung dar. Im Ergebnis wurden in Art. 119–121 WRV Ehe, Familie, Mutterschaft, Elternrecht und Rechte der „unehelichen“ Kinder geschützt. Dabei wurde (Art. 119 I WRV) die Ehe zweckbezogen als „Grundlage des Familienlebens und der Erhaltung und Vermehrung der Nation“ besonders geschützt, wobei sie „auf der Gleichberechtigung der beiden Geschlechter“ beruhe. Die grundsätzliche verfassungsgeschichtliche Einordnung dieser Bestimmungen erfolgt bei Heinemann (vgl. S. 67–69) in Anlehnung an die Positionen Dieter Schwabs von 1976. Im weiteren Verlauf werden detailliert und umfassend die parlamentarischen Akten und Stimmen der zeitgenössischen juristischen Fachliteratur ausgewertet. Diese Abschnitte verkörpern den rechtshistorisch aufschlussreichsten Teil der Arbeit. Die rechtshistorische Frauen- und Familienforschung wird in Zukunft auf diesen Teil der Ausführungen Heinemanns zurückgreifen können und auch müssen. Hierbei könnte in zukünftigen Arbeiten die Momentaufnahme der verfassungsrechtlichen Diskussion von 1919 in die Reformdiskussionen zum Frauen- und Familienrecht 1871–1933 eingeordnet werden. Exemplarisch sei dazu verwiesen auf den Änderungsantrag von Luise Zietz (USPD, S. 95) zugunsten einer weitgehenden Gleichstellung der nichtehelichen Kinder oder auf die Entstehung des – im Laufe der Beratungen nachträglich eingefügten – Gleichberechtigungssatzes (S. 95–97). Dieser ging nicht etwa auf einen SPD- oder USPD-Antrag zurück, sondern wurde von der linksliberalen DDP eingebracht. Weiter ist von Bedeutung, dass die Parlamentsberatungen erstmals unter Beteiligung weiblicher Abgeordneter stattfanden: diese waren unter den Debattenbeiträgen zur Familienpolitik sogar sehr stark repräsentiert (vgl. hierzu insbesondere S. 90). Grundlegende Inhalte der Verfassungsartikel wurden allerdings durch den katholischen Rechtswissenschaftler und Zentrumsabgeordneten Konrad Beyerle geprägt: nicht die Artikel zur Gleichberechtigung und den Rechten der Nichtehelichen, wohl aber die zum besonderen Schutz der Ehe und Familie und deren ausdrückliche bevölkerungspolitische Begründung (vgl. S. 74, S. 83).

Katholischer und sozialdemokratischer Familienbegriff

Im weiteren Verlauf werden auf der Grundlage von zeitgenössischen Quellen der katholische, politisch vom Zentrum vertretene, und der sozialdemokratische Familienbegriff analysiert (S. 109–149). Dies beginnt mit einem Rückgriff auf die katholische Variante des Naturrechts (S. 110–123), weiter werden katholische Bestrebungen um eine Stabilisierung der Arbeiterfamilie im 19. Jahrhundert behandelt (S. 123–126), die Familie als Grundlage einer gesellschaftlichen Erneuerung und als Ursprung von „Gemeinschaft“ in katholischen Familienlehren der Nachkriegszeit (S. 126–133), der sozialdemokratische Familienbegriff im Kontext der Ablehnung der traditionellen bürgerlichen Familie als Garantin der bestehenden Gesellschaftsordnung (S. 134–136), des das Beispiels der „respektablen Arbeiterfamilie“ (S. 136–138), emanzipatorischer Ansätze in der Weimarer Republik (S. 138–144) sowie sozialdemokratischer Kritik an der kommunistischen Familienauffassung (S. 144–149). Als Quintessenz dieses Abschnitts lässt sich festhalten, dass – bei im einzelnen sehr heterogenen Positionen – katholische Quellen um 1920 die Familie als naturbedingte Gemeinschaft und mitunter als Keimzelle des Staates betrachteten, Sozialdemokraten zwar die „bürgerliche Familie“ ablehnten, aber in Abgrenzung zur frühen sowjetischen Politik die Familie als natürliche Gemeinschaft von Kindern und Eltern mehrheitlich bejahten. Oft wurde dabei das Ziel einer auf Gleichberechtigung der Geschlechter und Achtung vor den Kindern beruhenden Kleinfamilie vertreten.

Bankrott der bürgerlichen Familie?

Der nun folgende Abschnitt, überschrieben mit „Bankrott der bürgerlichen Familie?“ (S. 151–211) bündelt in drei Abschnitten „zeitgenössische Diskussionen zu Ehe, Nichtehelichenfrage und „Funktionsverlust“ der Familie“. In den Überschriften werden diese Diskussionen durchweg als „Diskurse“ bezeichnet. Dem entspricht eine häufige Verwendung des Diskursbegriffs auch in anderen Abschnitten (vgl. nur S. 126, 213, 253): sprachlich hätte unter Umständen dieser eher dem späten 20. Jahrhundert angehörende Terminus durch Worte wie „Positionen“, „Diskussionen“, „Kontroversen“ etc. variiert werden können. Möglicherweise beabsichtigt die Verfasserin hier die Subsumtion historischer Texte unter eine neuere Diskurstheorie, was als grundlegendes Erläuterungsmuster der vorliegenden Quelleninterpretationen allerdings in der Einleitung kurz hätte definiert werden sollen.

Inhaltlich werden jeweils zunächst die katholischen und dann die sozialdemokratischen Quellen analysiert: im „Diskurs“ über die Ehe auf S. 157–170 sakramentales Eheverständnis und katholische Reaktionen auf die moderne Ehefrage, dann (S. 170–176) Kritik an der bürgerlichen „Zwangsehe“ und der Entwurf eines sozialdemokratischen Ehemodells, schließlich der Versuch einer Liberalisierung des Ehescheidungsrechts (S. 176–181), welcher an der ablehnenden Haltung katholischer Kreise scheiterte. Die besondere Bedeutung der Nichtehelichenfrage wird klar, wenn die Verfasserin deren Verbindungen zur damaligen Bevölkerungspolitik betrachtet (S. 185–189). Als katholische Positionen werden der Schutz der legitimen Ehe sowie vorsichtige Überlegungen zu einer Reform des Nichtehelichenrechts beschrieben (S. 189–197). Dem stehen sozialdemokratische Bestrebungen um die Gleichstellung der nichtehelichen Kinder und die gesellschaftliche Anerkennung der ledigen Mutterschaft entgegen (S. 197–203). Trotz einer Reihe von Reformkonzepten, u. a. Gesetzentwürfen von 1922, 1925 und 1929, und trotz prinzipieller Einigkeit über die Notwendigkeit eines neuen Nichtehelichenrechts scheiterte die Reform (S. 203–205).

Skandalöse kinderfeindliche Details des alten Rechts wie die sog. Einrede des Mehrverkehrs (§ 1717 BGB a.F.) blieben so bis in die Zeit der Bundesrepublik Deutschland hinein erhalten, Gesetz und Rechte erbten sich hier, wie Mephisto es im „Faust“ formuliert, „wie eine alte Krankheit fort“. Heinemann (S. 204 f.) wendet sich hier gegen die damals und heute oft vertretene Position, die Reform sei an einer Blockadepolitik des Zentrums gescheitert. Trotz mancher Differenzen seien die Reformbemühungen auch von Zentrumspolitiker/-innen wie Agnes Neuhaus und Josef Frenken grundsätzlich unterstützt worden. Es müsse berücksichtigt werden, dass auch Teile der Sozialdemokratie, vor allem aber die Wohlfahrtsverbände die Reformentwürfe als verfehlt kritisiert und damit zum Scheitern beigetragen hätten. Diese Auffassung Heinemanns erscheint trotz gewisser Einschränkungen plausibel. Wenn sie die scharfe Kritik der Wohlfahrtsverbände, es handele sich um eine nicht praxisorientierte Reform, vor allem auf Christian Jasper Klumker zurückführt, so wird damit – zutreffend – vor allem das Archiv Deutscher Berufsvormünder als Kritiker gesehen (S. 196 f.). Heinemann selbst meint freilich, dessen Kritik hätte in den wesentlichen Punkten mit der katholischen Position zur Reform übereingestimmt (S. 196).

Aufschlussreich ist im übrigen, dass die Berufsvormünder und Personen aus der öffentlichen Jugendpflege es oft kategorisch ablehnten, der nichtehelichen Mutter die elterliche Gewalt über das Kind zu ermöglichen. Dies wurde damit begründet, die Aufsicht durch das Jugendamt diene dem Wohl des Kindes. Heinemann deutet diesen Diskussionspunkt auf S. 197 und 202 kurz an, aufgrund ihres nicht primär frauengeschichtlichen Erkenntnisgegenstandes vertieft sie ihn allerdings nicht. Für eine spezifisch frauenrechtsgeschichtliche Bearbeitung des Themas bieten sich hier weitere und neue Ansatzpunkte. Insbesondere ließe sich hier kritisch die Motivation der beteiligten Personen, darunter speziell der in der öffentlichen Jugendpflege beschäftigten Frauen hinterfragen. Ging es den (älteren und eher dem Bürgertum entstammenden) Amtsträger/-innen in Berufsvormundschaft und Jugendämtern tatsächlich nur, wie vorgegeben, um das Kindeswohl, oder nicht doch auch um Beschäftigungssicherung für den eigenen Berufsstand, und dies zu Lasten der Selbständigkeit nichtehelicher Mütter?

Hinsichtlich des vermeintlichen Funktionsverlustes der Familie werden katholische Positionen (Funktionsverlust als Destabilisierung, S. 206–208) sozialdemokratischen Meinungen (Funktionsverlust als Funktionsentlastung, S. 208–211) gegenübergestellt.

Bevölkerungspolitik

Der fünfte Abschnitt des Werkes („Der Zugriff auf die Familie“, S. 213–292) behandelt den „bevölkerungspolitische(n) Diskurs“. Nach einem Überblick über Bevölkerungsentwicklung und Wandel der Familienstruktur seit der Jahrhundertwende (S. 214–222) behandelt Heinemann ausführlich Friedrich Burgdörfer (S. 222–239), der in Weimarer Republik und NS-Zeit durchgehend als Statistiker und Bevölkerungstheoretiker wirkte. Burgdörfer trat für traditionelle Ehen in der Form der kinderreichen „Familienehe“ ein. Sein Ziel war, Deutschland als Nation zu stärken und den deutschen „Volkskörper“ vor „Überfremdung“ zu bewahren. Der Wunsch nach Kinderreichtum bezog sich somit ausschließlich auf deutsche Familien und war völkischer Natur.

Sodann werden katholische und sozialdemokratische Positionen zur Bevölkerungspolitik verglichen. Nach Abschnitten zum katholischen Engagement in der Bevölkerungsfrage (S. 242–250) und kritischen Stellungnahmen zur Bevölkerungspolitik (S. 250–253) wird ausführlich auf die abweichenden Auffassungen des katholischen Eugenikers Hermann Muckermann eingegangen (Rolle der Rassenhygiene im katholischen Familiendiskurs, S. 253–273). Die Einstellung von Sozialdemokraten zum wissenschaftlichen und praktischen Malthusianismus wird erörtert (S. 273–280), die Beurteilung des Geburtenrückgangs aus sozialdemokratischer Perspektive (S. 280–283) und Aufgaben einer staatlichen Bevölkerungspolitik (S. 283–288). Danach hätte die SPD als erste politische Partei auch negative Eugenik „politisch diskursfähig“ gemacht, während die Themen positiver Eugenik vor allem vom Zentrum besetzt worden seien (S. 288). Abschließend wird die Verschärfung der Bevölkerungsfrage in der Endphase der Weimarer Republik behandelt (S. 289–292), es folgt das Resumé der Arbeit (S. 293–297).

Hervorzuheben ist die Ergänzung der Arbeit durch ein Personenregister (S. 347–349). Dadurch wird das insgesamt empfehlenswerte Werk über Familien- und Bevölkerungspolitik zufriedenstellend erschlossen. Seine besondere Stärke liegt in der umfangreichen Auswertung zeitgenössischer Primärquellen. Getreu der von der Autorin formulierten Fragestellung werden die eigentlich naheliegenden frauengeschichtlichen und männergeschichtlichen Teilfragen in der Gliederung nicht verortet, dort sind vor allem Ehe und Familie als Institutionen zu finden. In der Detailuntersuchung sind – letztlich sachlich unvermeidbar – dann doch an unterschiedlichen Punkten Einzelabschnitte zur Situation von Frauen und Müttern zu finden. Diese Passagen bilden teilweise beachtliche Erstuntersuchungen der Bezugsquellen. Insofern wäre zusätzlich zum Personenregister auch ein Sachregister zwingend erforderlich gewesen, um die Stärken dieser recht erfreulichen Arbeit noch besser zur Geltung kommen zu lassen. Über die Weimarer Republik hinaus trägt sie auch für angrenzende Zeiten – vor 1918 und nach 1933 – zu einem vertieften Verständnis der Familienpolitik bei.

URN urn:nbn:de:0114-qn061038

Dr. Arne Duncker

Hannover

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