Romanistik und gender studies

Rezension von Susanne Schlünder

Renate Kroll, Margarete Zimmermann (Hg.):

Gender Studies in den romanistischen Literaturen.

Revisionen, Subversionen.

Frankfurt am Main: dipa 1999.

567 Seiten, ISBN 3–7638–0526–5,  

Abstract: Die beiden Bände bieten ein breites Spektrum von Beiträgen zur französischen, italienischen und spanischen Literaturwissenschaft. Gedankliche Grundlage der im einzelnen unterschiedlichen Ansätze und Zielsetzungen ist ein im Anschluß an Judith Butler gender-reflektierendes, diskursives Konzept von Geschlecht, dessen wissenschaftsgeschichtliche Herleitung und Perspektiven Renate Kroll einleitend darlegt. Die einzelnen Artikel beschäftigen sich zum einen mit literarischen Strategien, die Schriftstellerinnen vom Mittelalter bis zur Gegenwart erprobt haben, und hinterfragen dabei die Rolle weiblicher Autoren in Literaturgeschichte und Literaturgeschichtsschreibung. Zum anderen widmen sie sich den literarischen Inszenierungs- und Repräsentationsformen von Weiblichkeit und stellen darüber einen Bezug zur Lebenswelt der behandelten Autorinnen her.

Diskussionsbedarf

Bereits der programmatisch anmutende Titel des von Renate Kroll und Margarete Zimmermann herausgegebenen Sammelbandes macht deutlich, worum es der Publikation geht

Sie will einen Einblick in die Vielfalt eines zwischen den Strömungen Frauenforschung, feministische Literaturwissenschaft und Gender Studies zu verortenden Forschungsgebietes liefern, das nach inzwischen überwundenen Berührungsängsten auch in der Romanistik intensiver bearbeitet wird. Damit knüpft die vorliegende Publikation an den 1995 von beiden Wissenschaftlerinnen herausgegebenen Band „Feministische Literaturwissenschaft in der Romanistik. Theoretische Grundlagen – Forschungsstand – Neuinterpretationen“ an.

Ähnlich wie der im Anschluß an eine Sektion des Potsdamer Romanistentages 1993 entstandene Sammelband antrat, ein Informationsdefizit in der Romanistik zu beheben, will die nun vorgelegte Veröffentlichung einem Diskussionsdefizit entgegentreten, mit dem diejenigen Studierenden bzw. Absolventinnen und Absolventen der romanistischen Literaturwissenschaft, welche sich mit feministischen, frauen- und genderspezifischen Fragestellungen beschäftigen, häufig konfrontiert sind. So schließt der vorliegende Band auch an ein 1998 von Renate Kroll in Siegen veranstaltetes Kolloquium zum Thema „GENUS: Zur Geschlechterdifferenz in den romanischen Literaturen“ an, das Examenskanditatinnen, Doktorandinnen und Habilitandinnen aus ganz Deutschland ein Diskussionsforum bot, um laufende und bereits fertiggestellte Arbeiten vorzustellen und zu diskutieren.

Die thematische Vielfalt und methodische Bandbreite der Publikation spiegeln damit die Offenheit des Siegener Kolloquiums, in dessen Rahmen ein Großteil der hier versammelten Vorträge gehalten wurde. In diesem Sinne beansprucht der Sammelband keinen Einführungs- oder Handbuchcharakter für sich; vielmehr wollen die Untersuchungen, die sich z.T. explizit als Vorstudien begreifen, so wie auch die umfangreiche, untergliederte Bibliographie im Anhang, Studierende und Forschende der romanistischen Literaturwissenschaft zur Auseinandersetzung mit genderspezifischen Fragestellungen anregen.

In einem komplex angelegten Parcours durch die Geschichte der feministischen Literaturtheorie und Frauenforschung wirft Renate Kroll einleitend die Frage auf „Was können Gender Studies heute leisten?“ und verbindet ihre Antwort mit einer Positionsbestimmung, die – uneingedenk einzelner methodischer Divergenzen – auch für die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes beansprucht wird. Jenseits essentialistischer Denkweisen und in gleichzeitiger Abkehr von den dichotomischen Festschreibungen einer poststrukturalistisch geprägten Differenztheorie französischer Provenienz schlägt R. Kroll im Sinne eines dekonstruktiven Feminismus vor, „[die] Kategorie Frau […] als ein unbezeichenbares Feld von Differenzen [aufzufassen], ähnlich wie Judith Bulter gender begreift – als Schauplatz ständiger Offenheit und Umdeutbarkeit“ (I, 23).

Wenn dabei vom weiblichen Subjekt die Rede ist, so unterliegt dem kein identitätslogisch funktionierender Subjektbegriff philosophischer Tradition; (geschlechtliche) Subjekte werden vielmehr begriffen als „Folgeerscheinung bestimmter regelgeleiteter Diskurse“ (I, 20) und mithin als „Konstrukt[e] eines kulturellen Diskurses und einer kulturellen Praxis“ (I, 17). Vor diesem Hintergrund werden die Texte von Autorinnen als „ambivalente Gebilde“ verstanden, die in der Lage sind, diskursive Setzungen im Sinne „eine[r] revisionistische[n] ré-écriture“ umzuschreiben (I, 25). Das hier angedeutete subversive Potential weiblicher Texte verdankt sich einem Konzept von Weiblichkeit, das die Marginalität (schreibender) Frauen als deren spezifischen historisch-kulturellen Erfahrungsraum begreift und ihre Versuche, diese Randpositionen zu verlassen, als „demaskierende Maskierungen, als destabilisierende Diskursbestätigungen, als Durchquerung des Symbolischen“ (I, 27) wertet.

Revision im doppelten Sinn

Unter dem Obertitel „Durchquerungen und Um-Schreibungen“ sind denn auch die Beiträge des ersten Bandes versammelt, welche die subversiven Potentiale der literarischen Texte von Schriftstellerinnen ausloten wollen und dabei insofern einer doppelten Revision nachspüren, als sie in ihrer Analyse literarischer Revisionen zugleich verfestigte literarhistorische Kanones in Frage stellen und aufweichen. In diesem Sinne arbeiten zahlreiche Artikel an der Etablierung jener weiblichen Memoria, nach der Margarete Zimmermann in ihrem zweiten Beitrag der �Ouvertures‘ fragt. M. Zimmermann expliziert ihr Forschungsprojekt einer „Autorinnen-Literaturgeschichte bis 1750“, die sich zwar als „geschlechtertrennende Literaturgeschichte“ (I, 30) versteht, gleichwohl aber – in Übereinstimmung mit Butlers Ansatz einer historischen Konstruiertheit von Geschlecht – textuelle Spiele mit Geschlechterrollen und -identitäten auch männlicher Autoren wie z.B. Jean de Meun oder Marivaux mit berücksichtigen will. Ziel dieser Autorinnen-Literaturgeschichte ist es, eine bloße Addition der von Frauen verfaßten Texte zur bisherigen Literaturgeschichte zu vermeiden, um stattdessen eine „Erschütterung liebgewordener literarhistorischer Gewißheiten, die Infragestellung und die Unterminierung des allzu Vertrauten“ (I, 34) zu unternehmen.

Eine derartige Erschütterung bzw. Aufweichung literarhistorischer Setzungen und Wertungen, deren Mechanismen Roswitha Böhm für das 19. Jahrhundert in Frankreich aufzeigt, unternehmen verschiedene Beiträge zur spanischen Literaturgeschichte, deren Kanones unter genderspezifischer Perspektive besonders unverrückbar erscheinen. Denn bislang – so Ursula Jung in ihrer Untersuchung zum siglo de oro – besteht ein „überfälliges Desiderat“ insbesondere der deutschen Hispanistik, „Traditionen weiblichen Schreibens in der spanischsprachigen Welt herauszuarbeiten und […] die weibliche Literaturtradition in Spanien zu erschließen“ (I, 135). In ihrer intertextuellen Analyse verschiedener Novellen von María de Zayas gelingt U. Jung nicht nur die überzeugende Lektüre dieser Novellen als Um-Schreibungen verschiedener cervantinischer Erzählmuster. Vielmehr läßt die von ihr festgestellte ré-écriture von Texten Miguel de Cervantes‘, bei der sich letztlich die Unterwanderung des im spanischen Barock übermächtigen Ehrkodexes vollzieht, nach einer Neubewertung des Geschlechterverhältnisses fragen, dessen relative Geschlossenheit bisher für die spanische Literatur des goldenen Zeitalters in Anspruch genommen wurde.

Eine entsprechende Revision festgeschriebener Einschätzungen strebt auch Doris Grubers Beitrag zu Carmen Martín Gaite und Juan Goytisolo an, deren frühe Romane zwar von der traditionellen Literaturgeschichtsschreibung gleichermaßen im Umfeld des realismo social verortet, dabei aber, wie Gruber darlegt, aufgrund ihrer unterschiedlichen Erzählweise und -situation bis heute unterschiedlich gewichtet werden. Von einer anderen Seite nähert sich Gesa Stedmans intertextuell ausgerichteter Beitrag „Channel Crossings: Zum Verhältnis französischer und englischer Autorinnen im 19. Jahrhundert“ der Frage nach der Rolle von Frauen innerhalb der Literaturgeschichte/ Geschichtsschreibung. Anders als S. Koloch in ihrer materialreichen Einflußstudie zur Rezeption Scudérys in Deutschland, geht es G. Stedman in ihrer mythenkritischen Untersuchung um die Aufnahme französischer, zumeist aristokratischer Schriftstellerinnen und um die Umdeutung ihrer Schriften sowie der Prämissen ihres Schreibens durch bürgerlicher Autorinnen im England des 19. Jahrhunderts. Ähnlich wie auch von R. Böhm festgestellt, scheinen die Normalisierungszwänge, die eine zunehmende Verbürgerlichung der Subjekte im 19. Jahrhundert mit sich bringt, mit Rollenzuweisungen einherzugehen, welche die Spielräume schreibender Frauen – vordergründigen Liberalisierungstendenzen zum Trotz – einzuengen scheinen.

Geschlechterkriege und postmoderne Geschlechterspiele

Um das Verhältnis der Geschlechter zueinander, ohne das – wie R. Kroll eingangs postuliert – ein Denken der Geschlechterdifferenz(en) jenseits einfacher Dichotomien undenkbar ist, geht es in verschiedenen Beiträgen zur Querelle des Femmes bzw. zum Geschlechterkrieg in den romanischen Literaturen. So legen u.a. M. Zimmermanns Analyse einer Witwenschelte Boccaccios und Joan DeJeans Untersuchung zu Darstellungen kämpferischer Frauen im französischen 17. Jahrhundert die Funktion gängiger Weiblichkeitsvorstellungen schreibender Männer offen:

Die Weiblichkeitsimaginationen entpuppen sich dabei häufig als (Negativ-)Folie männlicher Selbstbespiegelungen. Im Zuge einer solchen Infragestellung tradierter Geschlechterstereotype und Weiblichkeitsmythen, die auch von anderen Beiträgen des Sammelbandes unternommen wird, kommen bislang ausgeblendete, wenn nicht gar tabuisierte Bereiche zur Sprache wie z.B. das weibliche Altern (Marlene Kuch), das männliche Autoren zumeist stigmatisierend einsetzen, das aber von Schriftstellerinnen zuweilen – ähnlich wie Krankheit und Tod (Ida Todisco) – als Ort der (Zu-)Flucht oder Verweigerung begriffen wird.

Die Beiträge des zweiten, „Weibliche Subjektivitäten: Dekonstruktionen und Inszenierungen“ betitelten Bandes, schreiben sich methodisch in das Spannungsfeld feministischer Theoriebildung der 70er und 80er Jahre (Cixous, Irigaray) einerseits und einer dekonstruktiven Geschlechterforschung der 90er Jahre andererseits ein. So analysieren verschiedene Untersuchungen zur französischen Literatur und insbesondere zur Problematik einer weiblichen Autobiographie (Natascha Ueckmann) die literarischen Versuche von Frauen, sich schreibend ihres eigenen Ichs zu versichern bzw. sich schreibend selbst zu entwerfen (Margot Brink). Vor allem die Frage nach weiblichen Subjektivitätsentwürfen sieht sich dabei vor ein von einzelnen Beiträgerinnen reflektiertes, methodisches Paradox gestellt: Es gilt, die Entwürfe weiblicher Subjektivität(en) nachzuzeichnen, ohne dabei die tradierten Setzungen männlich / weiblich essentialistisch zu perpetuieren.

Als in dieser Hinsicht aufschlußreich erweist sich dabei die literarische Inszenierung von gender perfomances, welche verschiedene Autorinnen variantenreich durchspielen. Wie Iris Korte-Klimach anhand ihrer Analyse textueller Strategien der fin-de-siècle Autorin Rachilde darlegt, sind es die palimpsestartigen Überschreibungen geschlechtsspezifischer Zuschreibungen, deren Überlagerungen letztlich zu einer ironischen Umdeutung der Kategorien männlich/weiblich beitragen, indem sie „eine Diskontinuität zwischen biologischer Markierung des Geschlechts und der Geschlechteridentität [inszenieren]“ (II, 69).

Folgt man den Beiträgen Kerstin Amrheins zu Camille Laurens und R. Krolls zu Carme Riera, scheint die spielerische Durchkreuzung und Aufhebung von Geschlechteroppositionen eine Tendenz der gegenwärtigen, von Frauen verfaßten Romanproduktion zu bezeichnen. Ähnlich wie Camille Laurens essentialistische Setzungen am Beispiel der Protagonistin von Index desavouiert, die unilineare Rezeption der Leserin Claire im Roman als nur eine mögliche Lesart erkennbar wird, entpuppt sich (geschlechtliche) Identität auch bei der katalanischen Romanautorin und – in feministischer Literaturtheorie versierten – Literaturwissenschaftlerin Carme Riera als flexible Größe: An die Stelle eines geschlossenen Identitätsbegriffs treten „vielfach gespiegelte und auf verschiedenen Ebenen miteinander verschränkte Identitäten, die in Texten und Kon-Texten aufzugehen scheinen“ (II, 145), womit literarische Identitätskonstruktion zur Aufgabe der Leserinnen und Leser wird.

Greift man Renate Krolls eingangs gestellte Frage nach dem Ertrag genderspezifischer Literaturbetrachtung erneut auf, so läßt sich in der Rückschau auf die besprochenen Beiträge folgendes Resümee treffen: Indem die gender studies zur Wiederentdeckung ‚vergessener‘ Texte weiblicher Autorinnen beitragen und neue Lesarten bekannter, von Frauen wie Männern verfaßter Literatur vorschlagen, werfen sie implizit wie explizit die Frage nach dem literaturgeschichtlichen Stellenwert der Literatur von Schriftstellerinnen auf und plädieren damit – wie der vorgelegte Band – „für neue Formen der romanistischen Literaturgeschichtsschreibung an der Schwelle zum 21. Jahrhundert.“ (I, 28)

URN urn:nbn:de:0114-qn012188

Dr. Susanne Schlünder

Romanische Literaturen I, Universität Stuttgart

E-Mail: susanne.schluender@po.uni-stuttgart.de

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