Elisabeth Herrmann-Otto (Hg.):
Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart.
Hg. unter Mitarbeit von Georg Wöhrle und Roland Hardt.
St. Ingbert: Röhrig Universitätsverlag 2004.
200 Seiten, ISBN 3–86110–372–9, € 24,00
Abstract: Der Sammelband eröffnet verschiedene Perspektiven auf Die Kultur des Alterns von der Antike bis zur Gegenwart. In drei Sektionen (I. Die historische Perspektive, II. Die medizinische Sicht, III. Alter und Altern als Herausforderung für Individuum und Gesellschaft in Gegenwart und Zukunft) wird die Sozialgeschichte des Alter(n)s und die Geriatrie betrachtet. Dabei wird jede Verengung der Problematik einer alternden Gesellschaft auf renten- und finanzpolitische Aspekte vermieden. Vor diesem Hintergrund werden im letzten Teil aus Sicht von Sozialstatistik, Philosophie und Soziologie Zukunftsperspektiven in den Blick genommen. Geschlechtsspezifische Differenzierungen von Alter und Altern in Geschichte und Gegenwart werden in den meisten Beiträgen vernachlässigt.
Der Sammelband bündelt Beiträge zu einem Symposium an der Universität Trier, das in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft für Geriatrie im Oktober 2003 stattfand. Die Beiträge des ersten Teils umfassen die Hälfte des gesamten Bandes und bilden deshalb auch den Schwerpunkt dieser Rezension. Die Beiträge dieser Sektion gehen – ohne eine nähere Erläuterung des verwendeten Diskursbegriffes – von einer Diskrepanz zwischen ‚Altersdiskursen‘ und ‚Altersrealität‘ aus bzw. von Unterschieden in der „Theorie und Praxis“ der „Wertung des Alters“ (S. XII). Vorrangig soll mit hartnäckigen Klischees (generelle Wertschätzung und Macht der Alten in der Antike / sorgenfreies Altern in der mittelalterlichen Großfamilie / Idyllisierung des Alters im 19. Jh.) aufgeräumt werden, die sich jedoch in der eigenen Disziplin nicht zuletzt deshalb so lange halten konnten, weil nach Peter Borscheids Abhandlungen über die Geschichte des Alters (1989/1992/1995) das Alter(n) in der Geschichtswissenschaft keine große Beachtung fand. Borscheids Versuch, Alterskonjunkturen in der Geschichte herauszuarbeiten, wird sowohl von Elisabeth Hermann-Otto als auch von Dirk Multrus und Andreas Gestrich in ihren Beiträgen dahingehend kritisiert, dass er unreflektiert literarische Quellen zum Beleg seiner Argumentation wähle. Deren Relevanz sei für eine „sozialhistorisch fundierte Bestimmung struktureller Determinanten für den sozialen Status und die Lebensumstände alter Menschen“ aber nur „beschränkt“, denn „ohne eine Rückbindung an sozialhistorische Untersuchungen der Lebensformen älterer Menschen […] bleiben diese Bezüge auf die Altersdiskurse ohne Fundament“ (Andreas Gestrich, S. 64 f.). Diese Art der Argumentation impliziert letztlich immer noch eine Zwei-Welten-Theorie, die die alte Opposition zwischen Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte fortführt. Dennoch – die Diskussion, welche Quellen unter welcher Methodik an welche Realität des Alter(n)s heranführen, ist unerlässlich, und es bleibt zu hoffen, dass sich mehr kulturwissenschaftlich arbeitende Disziplinen als bisher an ihr beteiligen, um eine größere Anzahl der Facetten des Alter(n)s in Geschichte, Gegenwart und Zukunft beleuchten zu können.
Die Herausgeberin des Sammelbandes Elisabeth Herrmann-Otto kontrastiert in ihrem Beitrag die äußerst unterschiedliche Wertschätzung der Alten in den antiken Gesellschaftssystemen Sparta und Athen (jeweils vom 6. bis 4. Jh. v.Chr.) und im Römischen Reich der späten Republik bis zur frühen Kaiserzeit (200 v.Chr. bis 120 n.Chr.). Sie misst diese Wertschätzung an der Grundfrage, ob es in ihnen überhaupt einen Ruhestand gebe, wer in seinen Genuss kam und wie er gesellschaftlich jeweils konnotiert war. Die Grundfrage ihres Aufsatzes habe einen aktuellen Bezug, so die Autorin, jedoch wagt sie es nicht, den Bezug explizit in seinen Konsequenzen für die Gegenwart auszuformulieren.
Georg Wöhrle behandelt in seinem Aufsatz die Anfänge der Altersmedizin in der Antike und findet erste Ansätze bereits im Mythos, in der griechischen Literatur und den Texten der Vorsokratiker, die dann im Corpus Hippocraticum (4. Jh. v.Chr.) und vor allem von Galen (2. Jh. n. Chr.) im Hinblick auf die physiologischen Hintergründe des Alterungsprozesses zur Geriatrie weiterentwickelt werden. Das Aufkommen geriatrischer Untersuchungen müsse, so Wöhrle, jedoch immer vor dem Hintergrund gesehen werden, dass der Bedarf nach einer ausgebildeten Geriatrie in der Antike eingeschränkt war – zum einen aufgrund der geringen Anzahl der Hochaltrigen, zum anderen waren es wenige, die sich im Alter eine medizinische Betreuung überhaupt leisten konnten. So kommt er zu dem Schluss, dass das Aufkommen einer medizinischen Altersbetreuung als „Luxusphänomen“ der Antike zu sehen ist, möchte darin aber keine Parallele zur heutigen Zeit sehen (vgl. S. 30).
Dirk Multrus bezieht in seinem Beitrag über die Versorgung alter Menschen im Mittelalter die Geschlechterperspektive mit ein: Die mittelalterliche Altersversorgung sei insbesondere in sozialer Hinsicht (in bezug auf Besitzlose) und in geschlechtsspezifischer Weise (im Hinblick auf die Witwenversorgung) prekär gewesen. Neben den häufigsten Formen der Altersversicherung, dem Haus- und Grundbesitz und der Unterstützung durch die Familie, stellen in der Stadt auch konventartige Wohngemeinschaften sowie Miet- und Kostgängerverhältnisse eine Alternative dar. Pflegeverträge verdeutlichen als Quelle eine „weitgehend synonyme Verwendung von Freundschaft und Verwandtschaft“ (S. 49) – ein weiteres Anzeichen dafür, dass die finanzielle Vorsorge mit einer Vorsorge im zwischenmenschlichen Bereich (auch außerhalb der Familie) direkt gekoppelt war. Außerdem wurde gearbeitet, bis er/sie weder „gon noch ston mag“ (Bonenfant, vgl. S. 33). Multrus betont, dass es ein mit dem heutigen Stereotyp des rüstigen, materiell abgesicherten Alten vergleichbares Altersbild in der Geschichte noch nie gab.
Andreas Gestrich differenziert seine Überlegungen zur Versorgung alter Menschen in der Neuzeit topographisch nach Land und Stadt. Die bereits im Mittelalter etablierte Praxis der Pflegeverträge setzt sich fort: Vertraglich geregelte Übereinkünfte im Rahmen von Familie und Haus bleiben gerade in ländlichen Gebieten weiterhin die häufigste Altersversorgung, wenn Besitz vorhanden ist. Weitaus häufiger sind jedoch Not und Obdachlosigkeit von Alten, so dass „das vielfach auch in der sozialwissenschaftlichen Forschung noch kolportierte Bild von der Einbettung der Alten in Familie und Haus in vorindustrieller Zeit eine starke Idyllisierung darstellt“ (S. 70). Auch in der Stadt ist die Situation der Alten, wenn kein Besitz vorhanden ist, problematisch. Geringe Berufsvererbung und hohe Mobilität führen zwar zu vermehrten familienunabhängigen Versorgungsangeboten wie Spitälern, in denen die Altersversorgung kommerzialisiert wird, dennoch sei bis zur Einführung von Versicherungsformen der Altersversorgung im Laufe des 19. und 20. Jh. die Altersversorgung durchgängig als prekär anzusehen. Eine sozialgeschichtliche Analyse dieser strukturellen Rahmungen sei sinnvoller, als (wie Peter Borscheid) „in der Neuzeit große Phasen der Achtung oder Verachtung feststellen zu wollen“ (S. 76).
Yong Liang stellt der eurozentrischen Perspektive das traditionelle chinesische Konzept des Alter(n)s gegenüber: Der Einfluss der shou-Kultur, der ‚Kultur des langen Lebens‘, bestimme den respektvollen chinesischen Umgang mit den Alten bereits seit der ausgehenden Shang-Dynastie und der nachfolgenden Zhou-Dynastie des chinesischen Altertums (ca. 1200 v. Chr.). Parallelen zwischen dem Verhältnis der familieninternen Ordnung und der politischen Ordnung erklären die Förderung, die die shou-Kultur durch die herrschenden Klassen in den chinesischen Dynastien erfahren hat: „Was in der Familie Pietät (xiao) gegenüber den Eltern bedeutete, hieß im Staat Treue und Loyalität (zhong) gegenüber den Herrschenden.“ (S. 84) Durch Modernisierungs- und Individualisierungsprozesse sowie die 1970 verordnete Ein-Kind-Familie steht die shou-Kultur jedoch heute in der Gefahr, so Yong Liang, die tiefgreifenden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Probleme angesichts der Vergreisung der chinesischen Gesellschaft nur kulturell zu überformen.
In der zweiten Sektion des Bandes wird das Alter aus medizinischer Sicht beleuchtet. Auch für medizinisch wenig Bewanderte wie die Verfasserin wird deutlich, welche Probleme empirische Untersuchungsmethoden in der Analyse von Spezifika des Alters und der Höchstaltrigkeit aufwerfen. Die Aufstellung von Kriterien über Erfolg bzw. Nicht-Erfolg zur Evaluation der Häufigkeit erreichter bzw. nicht-erreichter Ziele lässt sich, wenn keine ‚harten‘ Kriterien aufgestellt werden können, wahrscheinlich nur intersubjektiv im Hinblick auf ihre Generalisierbarkeit interpretieren.
Sigrun-Heide Filipp stellt unterschiedliche psychologische Theorien über den Umgang mit Verlusterfahrungen im Alter vor. Die Theoriemodelle werden von ihr auf zwei gegensätzliche Nenner gebracht: „Im Alter ist vieles leichter“ und „Im Alter ist alles noch schlimmer“. Ob die Verlustbewältigung im Alter leichter, schneller, erfolgreicher, routinierter oder eben schwieriger etc. erfolgt, lässt sich, so Filipp, nicht sicher sagen. Das liegt methodisch an den verständlichen Schwierigkeiten, einen Konsens darüber zu erzielen, welche Kriterien einen erfolgreichen Umgang mit Verlusten kennzeichnen. Empirisch lässt sich wohl vor allem eins gut belegen: „[I]n keiner Phase des menschlichen Entwicklungsverlaufs [sind] die Unterschiede zwischen den einzelnen Menschen innerhalb einer Altersgruppe so groß […] wie im hohen Alter“ (S. 116). Deshalb kann Filipp auch im Hinblick auf Geschlechterdifferenzen zwar feststellen, dass irreversible Verluste von älteren Frauen und Männern unterschiedlich verarbeitet werden – ob erfolgreicher oder nicht, bleibt die Frage.
Roland Hardt zeigt anhand einer Trierer Langzeitstudie Ziele und Erfolge geriatrischer Therapien auf, die die durch Multimorbidität, Funktionsstörungen und geriatrische Syndrome eingeschränkte Selbständigkeit von Hochaltrigen wiederherstellen sollen. Methodisch stützt sich die Langzeitstudie auf das sogenannte „geriatrische Assessment“ (S. 130 f.), bei dem Untersuchungsskalen für körperliche, geistige und soziale Funktionen entwickelt wurden. Das Gesamtergebnis der Trierer Studie zeigt, so Hardt, dass es gelingt, „die Anzahl der schwerpflegebedürftigen Patienten auf ein Minimum zurückzuführen, während die Mehrzahl der Patienten die Klinik in einem akzeptablen Funktionsstatus verlassen kann“ (S. 134). Ziel der geriatrischen Medizin sei das „Kompressionsmodell“, das die relative Verlängerung der selbständigen Lebenszeit gegenüber der absoluten Verlängerung chronologischer Lebenszeit präferiert (S. 139).
Auch die Palliativmedizin, deren Arbeitsfelder Franz-Josef Tentrup beschreibt, sieht das Hauptziel ihrer Bemühungen darin, für Menschen im Angesicht des Todes „ein möglichst hohes Maß an Lebensqualität möglichst lange zu erhalten“ (S. 141). Hauptarbeitsfelder der Palliativmedizin sind nach Tentrup Symptomkontrolle, problematische Entscheidungsprozesse bezüglich Medikamentierung und eventueller künstlicher Ernährung, Autonomiestärkung und -achtung der Patient/-innen, Kommunikation.
Der dritte Teil des Sammelbandes stellt sich der Herausforderung, wissenschaftlich fundiert Aussagen über die gesellschaftliche und individuelle Zukunft des Alter(n)s ausgehend von der Basis des Ist-Zustandes zu treffen. Die Wirtschafts- und Sozialstatistik hat es angesichts bereits feststehender Zahlen methodisch vergleichsweise leicht, die demographische Entwicklung in Deutschland vorherzusagen: Unterschieden nach den statistischen Indikatoren (Lebenserwartung, Medianalter, Altenquotient der Bevölkerung, einzelne Prozentanteile der Altersgruppen an der Gesamtbevölkerung) präsentiert und erläutert Walter Krug Prognosen des Statistischen Bundesamts, der Weltbank, der Vereinten Nationen und der OECD, die bis in das Jahr 2050 reichen. Die Zukunftsprognosen auf Basis der Bevölkerungs-Statistiken sind bekannt, doch welche Konsequenzen lassen sich daraus ziehen? Eine Schlussfolgerung, die Krug aus extremen demographischen Entwicklungen der Vergangenheit ableitet [die deutsche ‚Bevölkerungsexplosion‘ und die Abnahme der Geburtenraten in Frankreich im 19. Jh. „führte zu Friktionen im Machtgefüge der europäischen Länder, die schließlich im Ersten Weltkrieg gipfelten“ (S. 158)], will er wohl nicht übertragen wissen.
Die letzten beiden Beiträge beschäftigen sich mit zukünftigen, aber in der gegenwärtigen Situation bereits aufscheinenden Konsequenzen verlängerter Lebenszeiten: Anselm Winfried Müller warnt vor gentechnischen Eingriffen zur Verlängerung der Lebenszeit aus ethischen Gründen. Hans Braun sieht es angesichts verlängerter Lebenszeiten zukünftig als wahrscheinlich an, dass alle individuell stärker vorsorgen und ihr Leben planen. Gesamtgesellschaftlich sei das Defizit in der Rentenkasse wohl nur durch Senkung der Rentenbezüge in den Griff zu bekommen. Leider wurde in keinem der Beiträge zunächst ein „Tableau möglicher Zukünfte“ angestrebt (vgl. Methodischer Rahmen der Kulturwiss. Forschungsgruppe Demographischer Wandel), das ein unvoreingenommeneres Abwägen ermöglichen würde. Im Rahmen dieses ‚Tableaus der Möglichkeiten‘ ließen sich dann auch historische und gegenwärtige Altersbilder, soziale Praktiken im Umgang mit dem Alter/den Älteren, Altersdiskurse etc. als Facetten einer neuen Alter(n)skultur begründet annehmen oder ablehnen.
URN urn:nbn:de:0114-qn062083
Dr. Miriam Haller
Universität zu Köln/ Kulturwissenschaftliche Forschungsgruppe Demographischer Wandel / Koordinierungsstelle Gasthörer- und Seniorenstudium
E-Mail: miriam.haller@uni-koeln.de
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