Altern als Widerstand

Rezension von Roberta Maierhofer

Margaret Morganroth Gullette:

Aged by Culture.

Chicago: University of Chicago Press 2004.

280 Seiten, ISBN 0–226–31062–0, $ 18,50

Abstract: Gullettes kulturwissenschaftliche Untersuchung Aged by Culture ist wie bereits ihre zwei vorangehenden Werke, die sich mit Altern beschäftigen – Safe at Last in the Middle Years: The Invention of the Midlife Progress Novel (1988) und Declining to Decline. Cultural Combat and the Politics of the Middle (1997) –, von großem persönlichen Engagement und durch ein politisches Anliegen motiviert. Sowohl die Dringlichkeit als auch der Widerstand, den Gullette, die sich als „age critic“ definiert, als moralische und politische Notwendigkeit postuliert, werden in der Zweiteilung der Abhandlung angesprochen: „Cultural Urgencies“ und „Theorizing Age Resistantly“. Während Gullette den Begriff „aged by culture“ bereits in Declining to Decline einführt, stellt sie ihn nun in den Mittelpunkt ihrer Untersuchung. Das Buch ist einerseits einer gesellschaftspolitischen Analyse der USA gewidmet, andererseits wird eine Theorie des Widerstands gegenüber Altersdiskriminierung entwickelt.

Bewusstes Altern durch narrative Diskurse

Bereits in den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelte sich in den USA aus dem starken Bedürfnis nach einem menschenwürdigen Altern eine neue Fachrichtung, die als „humanistic gerontology“ bekannt wurde und eine neue Ausrichtung der Kulturwissenschaft begründete. Ähnlich wie der Feminismus wendet sich die kulturwissenschaftliche Gerontologie aufgrund persönlicher Betroffenheit, politischen Bewusstseins und moralischen Anspruchs gegen eine auf Binarität ausgerichtete Ideologie, die nur in Gegensätzen wie etwa jung – alt und Frau – Mann eine Gesellschaftsform begründet, die eine Gruppe gegenüber der anderen ausgrenzt und marginalisiert. Das Älterwerden vieler prominenter Feministinnen hat in den 1990er Jahren diese Zuwendung zum Thema „Altern“ noch verstärkt. Margaret Morganroth Gullette definiert sich durch ihr Buch Aged by Culture in diesem Sinne als Alternswissenschaftlerin. Darüber hinaus stellt sich Gullette auch in die Tradition der amerikanischen Kultur, in der der Mythos des Aufbruchs mit der Definition des Einzelnen im Erzählen einer Geschichte des Selbst verknüpft wird. Gullette postuliert einen „defensiven Optimismus“ (S. 20) in Bezug auf Altern und definiert sich entsprechend dem amerikanischen kulturellen Narrativ als Reisende:

„Progress“ is defined here at beginning in a personal relationship to time and aging, a willingness to get on the life course as on a train, for a lifelong journey, and an anticipation of staying on the Patagonian Local because the future seems worth it.“ (S. 16)

Gullette geht davon aus, dass Altern trotz der erschwerten sozialen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die sie in einem verstärkten neoliberalen Kapitalismus in der amerikanischen Gesellschaft begründet sieht, kreativ verstanden werden muss. Altersidentität, die für die Gestaltung des gesamten Lebens notwendig ist, ist eine narrative Leistung des gestaltenden Subjekts, das durch die im Verlauf seines Lebens erfahrene Vielfalt dem dominanten Diskurs der Eindimensionalität des Selbst Widerstand entgegensetzen kann. („Aging would be a constitutive aspect of all identities and identities would be an achievement of aging“. S. 139) Altern, als kontinuierlicher, kreativer Prozess definiert, der nicht an die Chronologie der Jahre gebunden ist, ist eine Auseinandersetzung des Individuums mit sich verändernden Lebensumständen.

Gullettes Zustandsanalyse der amerikanischen Gesellschaft fällt nüchtern aus. Durch einen politisch motivierten Generationskonflikt werden künstlich starre Altersgrenzen gezogen, die das Individuum in allen Lebensabschnitten vereinnahmen. Dieser „Generationalismus“, etwa die Benennung der Generationen mit Begriffen wie „baby boomers“, Generation X und Y, führten nur dazu, dass ähnlich wie bei Rasse und Geschlecht unüberbrückbare Gegensätze, Ressentiments und Gruppenschuldzuweisungen aufgebaut werden, die systemische Lösungen sozio-ökonomischer Probleme verhindern und politischen Aktivismus, Familiensolidarität und rationale Erklärungen gesellschaftlicher Veränderungen verunmöglichen. Gullette formuliert einen engagierten Appell, der vorherrschenden Ideologie Widerstand zu leisten.

Gullette Verdienst ist es, Altern in einen sozioökonomischen Kontext zu stellen, indem sie in ihrer kulturwissenschaftlichen Untersuchung die Beschleunigung des Lebens, die Verringerung der Freizeit durch verstärkte Ansprüche der Arbeitswelt auf eine Verfügbarkeit des Einzelnen rund um die Uhr und die Verdrängung der Arbeitnehmer/-innen in den mittleren Jahren aus dem Arbeitsprozess aufzeigt. Gullettes Argumente, dass der Generationskonflikt in den USA dem Einzelnen schadet und zum Rückgang guter Arbeitsplätze, zur Verringerung der Verdienstspanne, zu verstärkter Unsicherheit und zur Reduktion der Pensionen geführt hat und somit dem postindustriellen Kapitalismus dient, sind überzeugend. Die Aufweichung des Senioritätsprinzips in der Arbeitswelt, in der Arbeitnehmer/-innen in den mittleren Jahren durch junge Arbeitskräfte ersetzt werden, denen man altersbedingt grundsätzlich für den Arbeitsprozess positivere Eigenschaften zuweist, bildet die Grundlage des „middle-ageism“, der Missachtung jeder (Lebens-)Erfahrung. Durch die Verknüpfung altersdiskriminierender Haltungen mit wirtschaftlichen Gegebenheiten weist Gullette darauf hin, dass ökonomische oder berufliche Möglichkeiten nicht private Angelegenheiten bzw. natürliche Prozesse sind, sondern auf Marktideologien gründen.

Die Diskriminierung von Menschen in den mittleren Jahren untersucht Gullette auch anhand literarischer Texte, die sich mit dem Tod von Kindern auseinandersetzen. So weist sie darauf hin, dass sich seit den 1960er Jahren viele amerikanische Texte dem Kindestod widmen, etwa Romane von John Updike, Joseph Heller, Rosellen Brown, John Irving, Lynne Sharon Schwartz, William Kennedy, Lisa Alther, Anne Tyler, Maureen Howard, Richard Ford, Toni Morrison, Oscar Hijuelos und Barbara Kingsolver. Diese Romane bilden die Grundlage für Gulettes Untersuchung kultureller Lebenslaufvorstellungen. Romanhandlungen, die durch den Tod eines Kindes bestimmt werden, weisen auf die Verletzbarkeit des Einzelnen und die Risken, die mit einem Lebensverlauf verbunden sind, hin. Gullette beschreibt unterschiedliche Zugänge zu diesem Thema: Während literarische Darstellungen, in denen der Tod des Kindes zur absoluten Verzweiflung der Hauptfigur führt, von Gullette als Unfähigkeit zu altern und die Rolle eines verantwortungsbewussten Erwachsenen anzunehmen, interpretiert werden, weisen Romane, in denen die Hauptfiguren auch nach einem solchen Schicksalsschlag ihr Leben aktiv gestalten, auf eine altersbewusste Haltung hin, in der unterschiedliche Lebensentwürfe imaginiert werden können. Diese Romane nennt Gullette „literary cure stories“ oder auch „hope-sponsoring narratives“, die sie den „decline novels“ gegenüberstellt.

Im Gegensatz zu anderen Zuschreibungen wie Rasse, Klasse, Geschlecht, Ethnizität und sexuelle Orientierung – so Gullette – bleibt die Kategorie „Alter“ immer dominant, da sie die Solidarität zwischen den Generationen außer Kraft setzt. Gullette spricht in diesem Zusammenhang auch von „Verbrechen gegenüber dem Lebensverlauf“, wenn Altern als ahistorischer, biologischer, persönlicher, passiver und mystischer Prozess des Einzelnen wahrgenommen wird, wenn das Leben in feindliche Alterszonen eingeteilt wird und somit die Entmachtung des Individuums nachhaltig vollzogen wird. Dem kann durch ein Altersbewusstsein entgegengewirkt werden, durch das sowohl Unterschiede innerhalb der Altersgruppen als auch Gemeinsamkeiten über die Altersgruppen hinweg anerkannt werden.

Gullettes Abhandlung über das Altern liest sich gut, und sie bringt viele interessante Details. Aufgrund ihres programmatischen Zugangs, der sowohl einen moralisch-ethischen Diskurs als auch eine wissenschaftlich-rationale Beschäftigung mit dem Thema einfordert, bleibt der Eindruck bei der Leserin, dass ein bisschen von allem geboten wird. Gullettes persönliche Betroffenheit und ihr Engagement sind beeindruckend. Angesichts der vielfältigen und unterschiedlichen Themenstellungen, die Gullette in ihrer Abhandlung anreißt, entsteht jedoch der Eindruck, dass zu viele unterschiedliche Aspekte angesprochen werden, die nicht immer mit notwendiger Schärfe behandelt werden. Ein lesenswertes Buch, das wichtige Anregungen bietet, aber zur weiteren Beschäftigung mit Altern auffordert. So gesehen, hat Gullette ihr selbst gestecktes Ziel erreicht.

URN urn:nbn:de:0114-qn062142

ao.Univ.-Prof. Mag.Dr. Roberta Maierhofer M.A.

Vice Rector for International Relations and Affirmative Action for Women; Department for American Studies; Karl-Franzens-Universität Graz

E-Mail: roberta.maierhofer@uni-graz.at

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