Neue Alter(n)srisiken – eine geschlechtsneutrale Standortbestimmung?

Rezension von Insa Fooken

Gertrud M. Backes, Wolfgang Clemens, Harald Künemund (Hg.):

Lebensformen und Lebensführung im Alter.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004.

224 Seiten, ISBN 3–8100–4135–1, € 24,90

Abstract: Lebensformen und subjektive Varianten der Lebensführung älterer und hochaltriger Menschen sind einem beschleunigten Wandel unterworfen. Das vorliegende Buch nimmt eine diesbezügliche Standortbestimmung in bewährt-brillanter Weise über theoretische Orientierungsvorgaben und empirische Befundlagen vor. Dennoch: So wichtig die Identifikation von sich neu konstituierenden sozialen Ungleichheiten ist, so bedauerlich ist die relative Vernachlässigung des „alten“ sozialen Differenzierungskonstrukts „Geschlecht“.

Warum dieses Buch? Warum diese Rezension?

Argumentativer Ausgangspunkt der Herausgeberin Gertrud M. Backes und der beiden Herausgeber Wolfgang Clemens und Harald Künemund ist die Forderung nach adäquaten Analysekonzepten für objektive und subjektive Zugänge zum Thema „Alter“, gerade angesichts der sich zunehmend verstärkenden Diversifikation der Lebensrealitäten auch und gerade in dieser Lebensphase. Das Herausgeberteam, zurecht einschlägig bekannt und renommiert in „gerosoziologischen Kreisen“, legt mit dem Begriffstandem „Lebensformen und Lebensführung“ ein solch explizit breit angelegtes Konzept vor. Dabei kann Gertrud Backes eigentlich nicht der Vorwurf gemacht werden, der Kategorie „Geschlecht“ im Altersdiskurs keine Aufmerksamkeit zu schenken, hat sie doch bereist 1981 in ihrer (veröffentlichten) Diplomarbeit die besondere Benachteiligung von Frauen im Alter als Resultat einer lebenslangen Unterprivilegierung zum Thema gemacht und seither die Vernachlässigung und unzureichende Behandlung der Gender-Thematik in der gerontologischen Fachliteratur immer wieder aufgezeigt. Vielleicht ist man/frau es aber nach fast 25 Jahren Fachfrau-Sein fürs „Frausein im Alter“ dann irgendwann doch einmal Leid, das alte soziale Ungleichheitsmerkmal „Geschlecht“ immer weiter fortzuschreiben oder es in den Varianten und Verwerfungen der neuen Geschlechterforschung (und Geschlechterbeziehungsforschung) stets neu aufzuspüren. Ich selber habe allerdings gut reden, da ich mich, nach urspünglicher „Frauenzentrierung“, auch auf „Männer im Alter“ gestürzt und somit das Geschlechterthema auf diese Weise für mich etwas variiert habe. Die Rezensionsanfrage zur o. g. Veröffentlichung im Kontext von Frauen- und Geschlechterforschung löste bei mir dementsprechend recht ambivalente Gefühle aus. Ich habe mich mit erheblichen Loyalitätsgefühlen gegenüber der wertgeschätzten Kollegin und den Kollegen herumgeplagt und mich kritisch gefragt: Fehlt dir der Genderbezug in dieser Veröffentlichung? Die Antwort lautet: Ja, … doch, … ein wenig. Im übrigen fehlt mir nicht nur die Gendervariable als zentrale differenzierende und Ungleichheit konstruierende Kategorie an sich, sondern auch die mangelnde Reflexion ihrer zeithistorischen Einbindung angesichts der großen Zahlen von im Zweiten Weltkrieg geborenen Männern und Frauen, die ja aktuell in die Lebensphase Alter einmünden und als Handlungsträger/-innen ja einen wesentlichen Teil der „Erkenntnisobjekte“ des Buches bilden. Wenngleich bei den betroffenen Jahrgängen zwar nicht unbedingt ein diesbezügliches Generationenbewusstsein vorliegen muss, so handelt es sich dennoch fraglos um Geburtskohorten, die in einer ganz besonderen Weise von Geschlechterrollen und Geschlechterbeziehungsrollen (Stichwort: starke Mütter, schwache oder abwesende Väter; Stichwort: Frauenbewegung) geprägt worden sind und sich zeitlebens damit mehr oder weniger heftig auseinandergesetzt haben.

Spurensuche nach der Kategorie Geschlecht

Einführend verweist das Herausgeberteam auf die zunehmenden Varianten eines differenziellen Alter(n)s und die steigende Diversifikation der Gruppe älterer Menschen. Im Sinne einer genuin soziologischen Konzeptualisierung der Lebenssituationen von Menschen in dieser Lebensphase geht es darum, sowohl strukturelle Lebensformen und Rahmenbedingungen für individuelles Handeln als auch subjektive Möglichkeiten der individuellen Lebensgestaltung und Lebensführung sowohl in theoretischen Perspektiven als auch in empirischen Befunden zu erfassen und in einer Art „Brückenschlag“ aufeinander zu beziehen. Dieses Programm wird in beeindruckender Weise durchdekliniert, u.a. unter Rückgriff auf die Arbeiten und Daten der Berliner Projektgruppe „Alltägliche Lebensführung“, und als Anspruch gefasst, eine „soziologische Praxistheorie“ zu formulieren. Im Beitrag von Anton Amman „Lebensformen und Lebensführung – Konzepte für die Altersforschung?“ wird der Bereich der Lebensformen als überwiegend „familien- und beziehungskonstelliert“ identifiziert, der Bereich der Lebensführung aber als wesentlich von einer individualisierten Gelegenheitsrationaliät determiniert konstruiert. Mögliche geschlechtstypisierte Ausprägungen dieser Wechselbeziehung werden allerdings nicht thematisiert. Im gleichfalls theoretischen Beitrag von Wolfgang Clemens „Lebenslage und Lebensführung – zwei Seiten einer Medaille?“ wird das Geschlecht, unter anderen Merkmalen, bei den lebenslaufbezogenen sozialen Ungleichheiten genannt, die als Ausdruck von typischen, unterscheidbaren Lebenslagen im Alter angesehen werden. Das im Weiteren spezifizierte Konzept der „Lebensführung“ und mögliche typische Konfigurationen der beiden Konzepte werden allerdings „geschlechtsneutral“ formuliert. Der dritte theoretische Beitrag von Ludwig Amrhein „Die zwei Gesichter des Altersstrukturwandels und die gesellschaftliche Konstruktion der Lebensführung im Alter“ befasst sich gleichfalls in ausgeprägter ‚Geschlechtsneutralität‘ mit der Zusammenführung kollektiver Modelle des Alter(n)s als struktureller Rahmenbedingung für die „‚lebensweltliche‘ Konstitution von individuellen Modelle der Lebensführung im Alter“ (S. 82), obwohl explizit auf die hohe Bedeutung der – mit Sicherheit geschlechtstypisiert erworbenen – sozial konstruierten und biografisch eingebetteten Deutungs- und Handlungsschemata verwiesen wird. Schließlich verweist auch der grundsätzlich sehr lesenswerte Beitrag von Rainer Heuer „‚Politik‘ in der Familie des mittleren und höheren Alters – Die Ambivalenz der Macht in den Generationenbeziehungen: ein heuristisches Modell“ auf das ‚gender-sensible‘ Thema von Macht- und Generationenambivalenz, ohne aber die Geschlechterverhältnis-Dimension zur Spezifizierung und Klärung der Machtambivalenzen weiter heranzuziehen.

Auch bei den insgesamt fünf einbezogenen empirischen Beiträgen werden geschlechterbezogene Ergebnisse eher ‚nebenher‘ mit vermittelt, ohne dass sie offenkundig den Wert einer eigenständigen Hauptaussage einnehmen. In ihrer Untersuchung „Die Zeitgestaltung älterer Menschen und ihr Beitrag zum Konzept der Lebensführung“ belegt Nicole Burzan ihre empirisch ermittelten „Zeitgestaltungsmuster“ zwar überwiegend mit weiblichen Fallbeispielen, stellt aber dennoch keinen Bezug zu den Konstitutiva weiblicher Lebensläufe her. Auch das leicht provozierende Schlussstatement in Corinna Barkholdts Beitrag „Potenziale des Alters und das Postulat Lebenslanges Lernen – Implikationen für Lebenslage und Lebensführung im Alter“, das man als ein Plädoyer für eine (legitime) „Unproduktivität“ im Alter lesen kann, scheint v. a. auf dem Hintergrund (männlicher) betrieblicher Erwerbsbiografien formuliert zu sein, wird aber als solches eher nicht reflektiert. Franz Kolland und Silvia Kahri liefern in ihrer Studie „Kultur und Kreativität im späten Leben: Zur Pluralisierung der Alterskulturen“ eindrucksvolle Daten zur deutlich höher ausgeprägten ‚Innovationskompetenz‘ bei älteren Frauen mit höheren Bildungsabschlüssen im Vergleich zu ihren gleichfalls gut gebildeten Geschlechtsgenossen. Es bleibt aber dennoch bei dem weitgehend „geschlechtsneutralen Fazit“ einer „Polarisierung des Alters“. Simone Scherger, Kai Brunner und Harald Künemund analysieren Daten des deutschen Alterssurveys zum Thema „Partizipation und Engagement älterer Menschen – Elemente der Lebensführung im Stadt-Land-Vergleich“. Auch hier hätte man sich nicht nur eine Angabe über die Geschlechterverteilung gewünscht (55% Frauen), sondern hätte die Daten zu den verschiedenen Formen des Engagements in Ost und West gerne einmal geschlechtsspezifisch ausgewiesen gesehen. Und schließlich ermitteln auch Heidrun Mollenkopf und Roman Kasper in ihrem Beitrag „Technisierte Umwelten als Handlungs- und Erlebensräume älterer Menschen“ eine Reihe – zumeist erwartungsgemäßer – Unterschiede im Handeln und Erleben der von ihnen befragten älteren Männer und Frauen: In der Gruppe der eher ‚Technikfernen‘ finden sich fast ausschließlich Frauen!

Fazit: Ein lesenswertes Buch, aber etwas mehr ‚Gendersensibilität‘ hätte es noch lesenswerter gemacht.

URN urn:nbn:de:0114-qn062072

Prof. Dr. Insa Fooken

Siegen, Universität Siegen, Fachbereich 2, Psychologie

E-Mail: Fooken@psychologie.uni-siegen.de

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