Rosa B. Schneider:
‚Um Scholle und Leben‘.
Zur Konstruktion von Rasse und Geschlecht in der deutschen kolonialen Afrikaliteratur um 1900.
Frankfurt a.M.: Brandes & Apsel 2003.
295 Seiten, ISBN 3–86099–311–9, € 19,90
Abstract: Rosa B. Schneider untersucht in ihrer literatur- und geschichtswissenschaftliche Fragen verbindenden Dissertation Um Scholle und Leben die Konstruktion von ‚Rasse‘ und Geschlecht in der deutschen Kolonialliteratur um 1900. Die ambitionierten Versprechen der Einleitung können zwar nicht alle eingehalten werden. Die Autorin kann dies jedoch durch großzügig über ihre Abhandlung verstreute ‚Aha-Effekte‘ glücklich wieder ausgleichen. So interveniert sie auf lesenswerte Weise in aktuell geführte Debatten beider Disziplinen.
Zumeist wird die Bedeutung des deutschen Kolonialismus wegen seiner kurzen Dauer von 1884 bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges negiert. Zu den Gedenkfeierlichkeiten in Namibia im Jahr 2004 anlässlich der blutigen, genozidalen Niederschlagung des antikolonialen Widerstandes der Herero und Nama vor hundert Jahren rückte jedoch die Erinnerung an den deutschen Kolonialismus auch in die deutschen Schlagzeilen – wenn auch keineswegs vergleichbar mit der Intensität der Erinnerungskultur der Opfer. Abzuwarten bleibt, in welcher Weise in der deutschen Öffentlichkeit dem sich 2005 zum hundertsten Mal jährenden Maji Maji-Krieg im heutigen Tansania mit seinen desaströsen Folgen für die einheimische Bevölkerung gedacht wird. Ebenso bleibt abzuwarten, ob eine nachhaltige Auseinandersetzung mit der deutschen Kolonialvergangenheit über eine tagespolitische Berichterstattung hinaus stattfinden wird.
Dieser unzureichende Stand der kritischen Auseinandersetzung spiegelt sich in der deutschen Literaturwissenschaft wider. Vereinzelte ideologiekritische und literatursoziologische Veröffentlichungen über die deutsche Kolonialliteratur in den 1980er Jahren wurden kaum rezipiert. Zu Beginn der 1990er Jahre übertrugen US-amerikanische Vertreter/-innen der German Studies ihre Kenntnisse aus den Colonial und Postcolonial Studies der angloamerikanischen Kulturwissenschaften auf ihr Fachgebiet und öffneten damit die Türen für ein neues Forschungsfeld. Langsam stoßen diese Arbeiten in der Bundesrepublik auf Gegeninteresse.
Somit befindet sich Rosa B. Schneiders Dissertation Um Scholle und Leben bereits 2003 auf der Höhe der aktuellen Diskussion: Sie thematisiert nicht nur die deutsche Kolonialgeschichte überhaupt, sondern sie betrachtet die „deutsche koloniale Afrikaliteratur“, die bisher in Literatur- wie in Geschichtswissenschaften ihr Dasein als Fußnote fristete. Waren diese Werke Literaturwissenschaftler/-innen zu trivial, erschienen sie Geschichtswissenschaftler/-innen als zu literarisch, um als historisches Belegmaterial herangezogen zu werden. Ferner widmet sich Schneider den besonders vernachlässigten, um die Jahrhundertwende in beträchtlicher Anzahl publizierten kolonialen Werken weiblicher Autorinnen. Mit der aktuell nicht nur in den Kulturwissenschaften erprobten Aufmerksamkeit für Whiteness, d. h. die Selbstkonstitution des/der Weißen bei Konstruktionen von ‚Rasse‘, untersucht sie an exemplarisch ausgewählten Werken die Konstruktion von ‚Rasse‘ und Geschlecht. An der Schnittstelle zwischen Geschichts- und Literaturwissenschaft widmet sie sich dem Zusammenhang von Text und Kontext und versucht damit eine zwar oft diskutierte, aber bisher selten umgesetzte Erweiterung des Gegenstandes literaturwissenschaftlicher Forschung.
Schneider macht als ein übereinstimmendes Merkmal der deutschen Kolonialliteratur drei immer wiederkehrende Motive aus: Fetische und fetischistische Praktiken, der Körper und dessen Begrenzungen sowie die visuelle Wahrnehmung des Fremden. Der Autorin zufolge wird das Zusammenwirken der „abstrakten Dreiheit“ von ‚Rasse‘, Klasse und Geschlecht in der „konkreteren Dreiheit“ dieser Motive greifbar (S. 53), die spezifische Positionen in der Vermittlung zwischen dem ‚Selbst‘ und dem ‚Anderen‘ einnehmen. In Auseinandersetzung mit ihnen will sie die ethnischen, geschlechter- und schichtspezifischen Charakteristika kolonialer Diskurse verdeutlichen. Für jedes Motiv konzentriert sich Schneider nun exemplarisch auf jeweils einen Roman und eine Autobiographie und kontextualisiert einzelne aus den Werken herausgegriffene Szenen äußerst detail- und kenntnisreich mit zeitgenössischen Diskursen.
Im Kapitel über das Fetisch-Motiv arbeitet Schneider am Beispiel von Lene Haases Raggys Fahrt nach Südwest (1910) und Margarethe von Eckenbrechers Was Afrika mir gab und nahm (nach Koschs Deutschem Literatur-Lexikon erschienen 1907) heraus, wie die Beschreibung abergläubischer Afrikaner/-innen benutzt wird, um sich selbst als säkularisiert und aufgeklärt zu präsentieren. Gleichzeitig wird aber auch eine Verunsicherung gegenüber dem Fetischzauber in den Texten deutlich, wenn die Figuren seine Auswirkungen nicht einzuschätzen wissen. Darüber hinaus wird die Wirkungsmächtigkeit von Fetischen in Europa beschrieben.
Das Kapitel über Körper dokumentiert anhand der Werke Weiß oder Schwarz von Ada Cramer (1913) und Alfreds Frauen von Hanna Christaller (nach Koschs Deutschem Literatur-Lexikon erschienen 1904) die Konstruktion eines geschlossenen europäischen Körpers im Gegensatz zu einem chaotischen, ungeschlossenen afrikanischen Körper. Eine europäische, männlich konnotierte Sesshaftigkeit wird einem afrikanischen, weiblich konnotierten Nomadentum in Metaphorisierungen von ‚Volk‘ als Volkskörper gegenübergestellt. Auch werden insbesondere die Körper afrikanischer Frauen als grenzenlos und kannibalisch dargestellt und bedrohen so begrenzte europäische Körperverständnisse. Schneider lokalisiert in den Texten die Angst der Europäer/-innen vor Störungen der ‚Geschlossenheit‘ ihrer Körper. Außerdem benennt sie deren Dilemma, einerseits ihre ‚Rasse‘ durch Reproduktion in den Kolonien stärken zu wollen, aber andererseits Afrikaner/-innen eine unbegrenzte Reproduktionsfähigkeit zuzuschreiben.
Für die Betrachtung des Blicks werden alle vorher besprochenen Werke sowie die von Elise Bake verfassten Schweren Zeiten (1913) und Als Farmerin in Deutsch-Südwest von Lydia Höpker (1927) herangezogen. Schneider thematisiert die unterwerfende Macht des ‚Weißen männlichen Blickes‘, wie er z. B. in Völkerschauen praktiziert wurde. Ähnlich wie in den zoologischen Gärten werden afrikanische Menschen auch in den Kolonialromanen als ‚äffisch‘ dargestellt, womit ihnen die Anpassungsfähigkeit in Form von Bildung, sprachlicher Gewandtheit und Intellekt, die als Kennzeichen des zivilisierten Menschen gilt, abgesprochen wird. Sie können jedoch nach Homi K. Bhabhas Konzept der Mimicry europäische Herrschaftspraxen unterlaufen, indem sie sich Verhaltensweisen und Aussehen von Kolonist/-innen durch Nachahmung aneignen und neu besetzen. Dadurch geben sie ihrer Stigmatisierung als ‚lächerlich‘ eine ironische Wende und irritieren festgefügte Zuschreibungen.
Die aufgebotene Fülle an Informationen kann aber nicht alle Lücken zwischen Literatur- und Geschichtswissenschaft schließen. Beispielsweise ist die dezidierte Textauswahl jeweils einer Autobiographie und eines Romans nicht einsichtig, da an das Genre keine Fragen gestellt werden. Auch kommt es zu keiner Würdigung literarischer Leistungen oder einer Befreiung vom so oft gegen die Kolonialliteratur erhobenen Vorwurf der Trivialität. Die Feststellung Schneiders, sie sei viel gelesen worden, ist ja durchaus ein Merkmal trivialer Literatur. Auch die Anmerkung, sie rezipierten und produzierten koloniale Phantasien ähnlich der kanonisierten Literatur, kann hier nicht weiterhelfen. Stellenweise überwiegen die Informationen zum Kontext der Werke über die Auseinandersetzung mit den Texten selbst. So bleibt unklar, welchen Beitrag diese zur Erschließung der kolonialen Vergangenheit leisten können.
Möglicherweise ist es zudem der Fülle des Materials und der vielen Referenzen an unterschiedliche Theorien geschuldet, dass mitunter ein roter Faden vermisst wird, der durch die Lektüre des Bandes hätte leiten können. Eine Verknüpfung der drei Analyseteile hätte möglicherweise durch einen Rück- und einen Ausblick am Ende eines jeden Kapitels hergestellt werden können.
Eben diesem Materialreichtum ist es aber zu verdanken, dass sich an vielen Stellen unerwartete ‚Aha-Effekte‘ einstellen, die das Buch gerade so lesenswert machen. Beispielsweise wurde das Wort „Fetisch“ vom portugiesischen feitiço (lat. facticius) abgeleitet, welches der mittelalterliche Klerus zur Desavouierung vorchristlicher Volksbräuche verwendete. So wird die Stigmatisierung afrikanischer Bräuche als ‚Fetischglaube‘ als eine Projektion der Europäer/-innen entlarvt.
Schneider verfügt über einen angenehm lesbaren Schreibstil und hat einige Partien zum Schmunzeln in ihrem Text versteckt. Jedem Kapitel des Analyseteils stellt sie eine Einleitung mit persönlichen Erlebnissen aus dem Alltagsleben voran, mit denen sie die Kontinuität kolonialer Phantasien bis in unsere Alltagswelt hinein veranschaulicht. Diese Einschübe können als informative Entspannungsphasen empfunden werden. Außerdem sorgt ein achtseitiger Bildteil für eine visuelle Illustration des Geschriebenen.
Insgesamt ist Rosa B. Schneiders Um Scholle und Leben ein sehr lesenswerter Beitrag auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion. Zu wünschen ist, dass der vorliegende Band innerhalb einer breiteren gesellschaftlichen Debatte um den deutschen Kolonialismus diskutiert wird.
URN urn:nbn:de:0114-qn062097
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