Die Ehe spaziert nicht auf der Strasse

Rezension von Sigrid Nieberle

Caroline Arni:

Entzweiungen.

Die Krise der Ehe um 1900.

Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004.

415 Seiten, ISBN 3–412–11703–X, € 39,90

Abstract: Caroline Arni rekonstruiert die Ehe und die Erfahrungen in der Ehe von ihrem Ende her, indem sie Scheidungsakten aus Bern um 1900 untersucht und auswertet. Aus diesen Analysen des „offenkundigen Unglücks“ wird hervorragend nachvollziehbar, wie eine soziokulturelle Institution in die Krise geriet, die im Laufe des 20. Jahrhunderts von Lebensformen wie Lebenspartnerschaften und patchwork families Konkurrenz bekam. Arni gelingt es, aus staubigen Aktenbergen eine kurzweilige und überaus forschungsinnovative Studie zu gewinnen.

Quellenmaterial und Methode

Die Einleitung in Arnis Dissertation ist von der zentralen Frage durchzogen: „Was bedeutet das Wort: Ehe?“ Von verschiedenster Seite wurde um 1900 versucht, hierauf Antworten zu finden, sei es von Literaten und Kulturkritikern, von Feministinnen, Politikern oder Jurist/-innen. Stets ging es darum, das Wörtchen ‚Ehe‘ entweder mit konservativen Werten wie Treue und Ökonomie oder mit revolutionären Ideen der freien Liebe aufzuladen, die Generativität zu regeln und nicht zuletzt das heterosexuelle Geschlechterverhältnis zu artikulieren. Das Spannungsverhältnis, das sich zwischen diskursiver Regelung und gelebter Erfahrung, zwischen Öffentlichkeit und Intimität, zwischen Individualität und einer „Gesellschaft zu zweien“ (Georg Simmel) eröffnet, weckt das spezifische Interesse von Caroline Arni: „Diese Ehe als Institution aber spaziert nicht auf der Strasse – um es in abgewandelten Worten Karl Mannheims zu sagen –, auf der Strasse spazieren die Ehepaare.“ (S. 7)

Quellenmaterial für Arnis Rekonstruktion der ideengeformten und vom juridischen Diskurs dominierten Ehe einerseits und der sozialhistorischen Ehepraxis andererseits sind die Dossiers von 479 Ehescheidungsprozessen, die von 1912 bis 1916 im Amtsbezirk Bern anhängig waren. Diese außergewöhnlich umfangreichen Dossiers unterscheiden sich insofern vom üblichen Archivbestand, als sie nicht nur Urteile und Protokolle enthalten, sondern auch ‚Beweismaterial‘ der klagenden und beklagten Parteien (Klage- und Klageantwortschriften, Zeugenaussagen, ärztliche Gutachten, u. a. m.). Dem Material kommt zunächst dokumentarischer Status für die Zeit von ca. 1880 bis 1910 zu, zugleich wird es aber auch als Erinnerungsmaterial gelesen und gewertet, das vergangene Erfahrungen aufarbeiten und womöglich bewältigen soll. Mit diesem Ansatz wird sowohl der illusionäre Blick durchs historische „Schlüsselloch“ als auch die Rede von der bloßen „Fiktionalität“ historischer Dokumente vermieden (S. 16). Zu rekonstruieren gilt es vielmehr eine „Beziehungskultur“ und deren Probleme. Der Terminus „Beziehungskultur“ meint hierbei „Deutung und Praxis der individuellen Paarbeziehung in ihrer Verschlingung mit einer symbolischen und sozialen Geschlechterordnung und in ihrer Situiertheit in einem sozioökonomischen Kontext“ (S. 11).

Vier Hochzeiten – und vier Scheidungen

Die Untersuchung Arnis gliedert sich in fünf der Einleitung folgende Kapitel, wovon das erste die schweizerische Rechtsprechung nach dem Zivilgesetzbuch von 1907/1912 darlegt und kontextualisiert. Nur 3% der 479 dokumentierten Prozesse werden ohne Scheidungsurteil abgeschlossen, in allen anderen Fällen erachten die Richter auf „tiefe Zerrüttung“ (vgl. S. 326), wobei die Begründungen zumeist auf die fehlende Liebe zwischen den Ehepartnern und/oder auf deren nicht zueinander passende Charaktere abzielen. Auf der juridisch-diskursiven Grundlage werden im Anschluss die Fälle von vier exemplarischen und für ihre Klassenzugehörigkeit repräsentativen Ehepaaren entfaltet, aus denen sich jeweils spezifische Diskurse und Erfahrungen extrapolieren lassen. Alle Fälle wurden anonymisiert bzw. fiktionalisiert, nur das Ehepaar Rosa und Robert Grimm behielt seine Klarnamen, weil es von übergreifender zeitgeschichtlicher Bedeutung ist.

Der erste Fall widmet sich dem „Idealtypus der schweizerisch bürgerlichen Familie“ (S. 83), die sich aus dem Bildungsbürgertum und dem ländlichen Mittelstand bildet (Emil und Madeleine Frey). Allerdings zerbricht diese Ehe genau an ihren idealtypisch gedachten Konzepten und der Ambivalenz der bürgerlichen Ehe: Hält sich die Ehefrau nicht strikt an die Trennung von weiblicher Familienwelt und männlicher Erwerbswelt, weil in ihrem vom ländlichen Mittelstand geprägten Verständnis die Partizipation der Frau selbstverständlich ist, so wird dies vom Ehemann, der an seiner Karriere im Arztberuf arbeitet, als Einmischung aufgefasst. Sein männliches Selbstverständnis, das die Ausschließlichkeit männlicher Autorität beansprucht, die vor allem aus dem öffentlichen Erwerbsleben bezogen wird, steht hier auf dem Spiel. Deshalb setzten die Berner Richter 1912 noch beim „Scheitern männlicher Autorität“ an, während heute der psychologische Diskurs aufgerufen wäre (S. 132).

Auch im Fall der Arbeiterfamilie (Anna und Johann Probst) geht es um den Anspruch des Mannes, die Ernährerrolle auszufüllen, wie es die Orientierung an der bürgerlichen Lebensweise nahelegt. Die instabilen ökonomischen Verhältnisse der Familie, die eigentlich die flexible Mitarbeit der Ehefrau nötig machten, riefen Konflikte hervor, die vom Ehemann mit häuslicher Gewalt ausagiert wurden. Hier interpretierte das Gericht die Gewalt allerdings noch als unabänderlichen Ausdruck seines Charakters, ohne nach den Ursachen zu fragen. An dieser Familie tritt – womöglich noch deutlicher als bei den anderen – das Grundproblem von der auf Dauer angelegten Ehe und der Zeitlichkeit von Eheversprechen und nicht eingelösten emotionalen und ökonomischen Erwartungen zutage, war doch der Ehemann von der Entwicklung seiner Frau, einer gelernten Schneiderin, zutiefst enttäuscht, denn eine Kellnerin hätte er nicht geheiratet. Das gab ihm – nach Auffassung des Gerichts – jedoch kein Recht auf das Mittel der Gewalt.

Anders hingegen das Paar aus dem kaufmännischen Mittelstand, das den dritten Fall für die Rekonstruktion abgibt (Clara und Henri Dubois). Ob Clara Dubois ihren Mann betrogen hat, ist den Akten nicht zu entnehmen. Die Dokumente sprechen aber von Sexualität, Kinderwünschen, Verhütung und von einem Entwurf einer „famille moderne“, der sich jedoch mehr aus Widersprüchen und Ambivalenzen denn aus einem klaren Lebenskonzept speist (S. 230). Die Nähe zu den literarischen Fällen der Effis, Annas und Emmas ist deutlich – der Plot ist die ökonomisch und ständisch motivierte Heirat für die Frau, die ihre Ausflucht in der Passion mit dem Geliebten sucht. Ebenso deutlich löst hier der sexualpathologische Diskurs das ab, was früher im Register der Sünde verhandelt worden wäre. Die Ehe ist vor allem auch wegen der „Vergnügungssucht“ der Ehefrau und ihrer Ambitionen zum sozialen Aufstieg zerrüttet, was wiederum deutlich macht, wie sehr sich der Ehemann von den Ansprüchen der Frau bedroht fühlen musste. Das machtasymmetrische Geschlechterverhältnis wird auf den „Konsum der Romantik“ (wie eine Studie zur Liebe seit 1900 von Eva Illouz betitelt ist) zu Lasten der Frau fokussiert.

Den Abschluss der Fallstudien bildet das Ehepaar Rosa und Robert Grimm. Sie stehen paradigmatisch für die Intellektuellenehe um 1900: sie die Tochter aus dem russischen jüdischen Bürgertum, die zum Studium nach Europa kam und sich für Sozialismus und Revolution engagierte; er der Sohn einer schweizerischen Arbeiterfamilie, der sich über seinen Lehrberuf aus dem Milieu der Eltern herausarbeitete und als Redakteur, Sozialdemokrat und Frontmann der schweizerischen Arbeiterbewegung in die Geschichte einging. Genau jene Geschichts- und Biographieschreibung sorgten für eine „Neudichtung“ dieser Ehe, deren Scheidung von den Ehepartnern als „nur eine Formsache“ eingeschätzt worden war (S. 266). Auch diese Einstellung der Ehepaare gegenüber der Scheidung als bloßem formellen Akt, die eine Reflexion der eigenen Ehegeschichte vor Gericht mehr oder weniger verweigert, führte letztlich auch zum Zerfall der Institution Ehe. Was die beiden dann vor Gericht selbst „neu dichten“, zeigt an, wie die revolutionären Ideen der Geschlechtergleichheit, die vor allem von der Ehefrau in Form einer egalitären „Freundschaft“ mit ihrem Mann eingefordert wurden, mit dem Geschlechteralltag inkommensurabel bleiben und wiederum das männliche Selbstverständnis – „eine gewisse und sozial plausible Maskulinität“ (S. 312) – in Frage stellten.

Ergebnisse

Nur die wichtigsten Punkte können hier als Ergebnisse angerissen werden. Arni macht drei generative Strukturen für die Ehekrisen aus, als da sind „die ökonomischen Bedingungen“, „das Beziehungsgewebe von Paar und Familie“ und die „unterschiedlichen Konzeptionen von Ehe, Liebe und Familie“, wobei vor allem letztere eng mit den Entwürfen und der Kommunikation männlicher und weiblicher Identität verknüpft sind (vgl. S. 318 f.). Festzuhalten bleibt auch, dass die Geschlechterspezifik in allen vier rekonstruierten Fällen die Klassenspezifik dominierte und dass die in jedem Fall beobachtbare „Krise der Männlichkeit“ nicht eine irritierende Erweiterung, sondern eher eine „Verengung des Spektrums männlicher Identität“ bedeutete (S. 323). Den Frauen hingegen eröffneten sich neue Möglichkeiten von Identitätsentwürfen, was aber zu Lasten ihrer Beziehungen ging und regelmäßig in die Krise und zum Scheitern der Ehe führte.

Eher nebenbei erwähnt Arni den hohen Stellenwert des Erzählens, mit dem die Beteiligten das Geschehen zu verarbeiten und darzustellen suchten (vgl. S. 321). Vor dem Hintergrund der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, die die Studie methodisch dominiert, stellt sich abschließend die Frage, welche narrativen Muster den betroffenen Personen für eine Erzählung der Krise überhaupt zur Verfügung standen – impliziert doch das Wort ‚Krise‘ bereits spezifische Erzählmuster des Bewältigens oder Scheiterns. An dieser Stelle ergeben sich deshalb wünschenswerte Anknüpfungsmöglichkeiten für narrativ orientierte Ansätze in den Kultur- und Sozialwissenschaften.

Caroline Arnis Dissertation repräsentiert eine überaus lesenswerte Geschichtsschreibung, die sich ihres narrativen Potentials durchaus bewusst ist und ihren Gegenstand der spannenden Dramaturgie der Fallgeschichte unterwirft. Dabei hält sie kunstfertig die Balance zwischen dem interessanten Detail und dem nötigen ‚großen Ganzen‘.

URN urn:nbn:de:0114-qn062193

Dr. Sigrid Nieberle

Universität Greifswald, Institut für Deutsche Philologie

E-Mail: nieberle@uni-greifswald.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.