Gegen eine Mystifizierung von Herrschaftsverhältnissen

Rezension von Ulla Bock

Pierre Bourdieu:

Die männliche Herrschaft.

Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2005.

211 Seiten, ISBN 3–518–58435–9, € 19,90

Abstract: Die Beziehungen zwischen den Geschlechtern nehmen im Gesamtwerk Pierre Bourdieus keinen zentralen Raum ein. Gleichwohl ist er einer der wenigen Soziologen, die für die Geschlechterdifferenz einen Blick hatten, und das seit Beginn seiner Forschungstätigkeit in den 1960er Jahren. Doch erst in den 1990er Jahren begann er, das Thema systematischer zu analysieren, indem er seine Überzeugung, dass die männliche Herrschaft eine Grundstruktur unserer Gesellschaft sei, zum Ausgangspunkt der vorliegenden Studie machte. Bourdieus Absicht ist es, gegen die fortgesetzte Mystifizierung von Herrschaftsverhältnissen anzugehen, denn es gäbe – wie er schreibt – nichts Schlimmeres, als diese fortzuschreiben.

Eine seit langem erwartete Übersetzung aus dem Französischen

Die Buchfassung von La Domination masculine erschien zuerst 1998 in Frankreich, wurde bald darauf ins Englische übersetzt und liegt nun endlich auch in deutscher Übersetzung vor. Es handelt sich um eine überarbeitete Fassung des gleichnamigen Artikels, der bereits 1990 in der Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales veröffentlicht wurde. Dieser stand den deutschsprachigen Leser/-innen seit 1997 in dem von Irene Dölling und Beate Krais herausgegebenen Buch des Suhrkamp-Verlags Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktionen in der sozialen Praxis zur Verfügung. Schon hier sei gesagt, dass es sich dabei um eine konzisere Fassung dessen handelt, was nun in Buchform vorliegt.

Die Buchfassung ist eine überarbeitete und erweiterte Version dieses ursprünglichen Textes und zugleich eine Antwort auf die kontroverse Rezeption nach der Erstveröffentlichung. Die Studie ist in drei Kapitel gegliedert: Im ersten Kapitel geht es um die Bedeutung der Körper für die Herstellung und Aufrechterhaltung von männlicher Herrschaft, im zweiten um eine „Anamnese der verborgenen Konstanten“ der asymmetrischen Geschlechterverhältnisse, und im letzten thematisiert Bourdieu das Verhältnis von „Konstanz und Wandel“. Neu hinzugekommen ist ein „Postskriptum über die Herrschaft und die Liebe“.

Die Macht somatisierter Herrschaftsverhältnisse

Im Zusammenhang von Habitus und sozialer Praxis betont Bourdieu die Bedeutung des Körpers als „Träger von Geschichte“. Die soziale Welt benutzt die Körper als eine „Gedächtnisstütze“. Die Somatisierung der für die soziale Ordnung konstitutiven Beziehungen der Geschlechter führt zu der Institution von zwei unterschiedlichen „Naturen“, beide sind im Habitus eingelassen. Es ist deutlich zwischen einem weiblichen und einem männlichen Habitus zu unterscheiden. Sie sind entgegengesetzt und komplementär und sie bestätigen sich gegenseitig: „Männer und Frauen werden […] in einen Zirkel von Spiegeln eingeschlossen, die antagonistische, aber zur wechselseitigen Bestätigung geeignete Bilder unendlich reflektieren.“ (Bourdieu 1997, S. 163)

Das Habituskonzept ist Bourdieus wichtigstes Erkenntnisinstrument, ein Schlüssel auch zur Analyse der Herrschaftsverhältnisse zwischen den Geschlechtern. Mit dem Begriff des Habitus ist zu erfassen, wie die soziale Welt die Körper als vergeschlechtlichte Wirklichkeit und zugleich als Speicher von vergeschlechtlichenden Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien konstruiert.

Der Habitus ist strukturiert und wirkt strukturierend auf das soziale Umfeld. Dergestalt ist der Habitus nach Bourdieu die Grundlage praktischer Erkenntnis- und Anerkennungsakte; sie ziehen die „magischen“ Grenzlinien, die den Unterschied zwischen den Herrschenden und Beherrschten erzeugen. „Dieses vom Körper vermittelte Wissen bringt die Beherrschten dazu, an ihrer eigenen Unterdrückung mitzuwirken, indem sie, jenseits jeder bewußten Entscheidung und jedes willentlichen Beschlusses, die ihnen auferlegten Grenzen stillschweigend akzeptieren oder gar durch ihre Praxis die in der Rechtsordnung bereits aufgehobenen produzieren und reproduzieren.“ (Bourdieu 1997, S. 170)

Dermaßen somatisierte Herrschaftsverhältnisse sind nur schwer zu durchschauen und noch schwerer zu verändern. Bourdieu hat immer wieder darauf hingewiesen, dass die verschiedenen sozialen (Emanzipation-)Bewegungen die Mächtigkeit der somatisierten Herrschaftsverhältnisse unterschätzt haben. Deshalb betont er auch stets aufs Neue, wie wichtig es sei, nicht nur die realen Verhältnisse zu verändern, sondern zugleich auch die symbolische Ordnung zu revolutionieren.

Anamnese der verborgenen Konstanten

Um zu dem so selbstverständlich Erscheinenden (doxa) durchzudringen, muss man ihm fremd werden. Ein „Umweg über eine fremdartige Tradition ist unvermeidlich, um das Verhältnis trügerischer Vertrautheit aufzubrechen, das uns mit unserer eigenen Tradition verbindet.“ (S. 11) Dem gemäß wählt Bourdieu als Ausgangspunkt seiner Analyse die vormoderne kabylische Gesellschaft im Norden Algeriens, wo noch alles nach dem Gegensatz von weiblich und männlich strukturiert ist. Damit versucht er die Prinzipien der Di-Vision erkennbar zu machen, die – so Bourdieu – auch in unserer Gesellschaft noch tief verankert seien.

Dieser erkenntnistheoretische Umweg über die kabylische Gesellschaft wird vielen, die seine früheren Texte nicht kennen, unverständlich bleiben. Bourdieu meinte zwar, damit ein „vergrößerndes Bild“ zu schaffen, das die Strukturen moderner Gesellschaften verdeutlichen könne, doch es ist ein zu grobkörniges Bild, das die vielfältigen Verwerfungen und Brüche im Verhältnis der Geschlechter der Moderne im Unscharfen belässt.

Des Weiteren nutzt Bourdieu einen Roman von Virginia Woolf, in dem sie die traditionell asymmetrische Komplementarität von Frau und Mann in Szene setzt. In To the Lighthouse muss Mrs. Ramsay um jeden Preis und gegen besseres Wissen ihren Ehemann als Helden „spiegeln“, will sie selber nicht an Ansehen verlieren, denn ihr eigenes Ansehen ist nur ein vom Ehemann abgeleitetes. Bourdieu lenkt die Aufmerksamkeit auf das, was Virginia Woolf die „hypnotische Macht der Herrschaft“ nennt, und was er selber als „Charme der Macht“ (S. 140) bezeichnet. „Da die auf Geschlechterdifferenzierung gerichtete Sozialisation die Männer dazu bestimmt, Machtspiele zu lieben, und die Frauen dazu, die sie spielenden Männer zu lieben, ist das männliche Charisma zum einen Teil der Charme der Macht, der verführerische Reiz, den der Besitz der Macht von selbst auf die Körper ausübt, deren Triebe und Wünsche politisch sozialisiert worden sind.“ (S. 140 f.)

Die symbolische Revolution

In dem dritten Kapitel lotet Bourdieu die Möglichkeiten des sozialen Wandels aus und fordert dazu auf, das scheinbar naturgegebene Primat des Männlichen zu bekämpfen. Er verweist auf die symbolischen Ordnungen in einer Gesellschaft, die die Welt in bestimmter Weise erkennbar machen: „Die soziale Ordnung funktioniert wie eine gigantische symbolische Maschine zur Ratifizierung der männlichen Herrschaft, auf der sie gründet.“ (S. 21)

Bourdieu geht davon aus, dass alle Macht eine symbolische Dimension hat und ihre Wirkung nicht in der klaren Logik des erkennenden Bewusstseins entfaltet, sondern im Dunkel der praktischen Schemata des Habitus, der Dispositionen. Im Verborgenen des Unbewussten ist die Herrschaftsbeziehung verankert und somit der Selbstreflexion und der Willenskontrolle weitgehend entzogen.

Auch in diesem Kontext hebt Bourdieu das „Paradox der doxa“ hervor, das darin besteht, dass die, die der Herrschaft unterworfen sind, diese auch anerkennen und mitkonstruieren und damit auch immer wieder reproduzieren. Dieses schwer zu akzeptierende Faktum der Komplizenschaft mit der Macht, auch um den Preis der eigenen Unterdrückung, ohne die keine Macht der Herrschaft möglich wäre, ist Bourdieu deshalb so wichtig, weil es alle Versuche der Veränderungen von Strukturen unterminieren kann. Diese Komplizenschaft sieht Bourdieu darin begründet, dass Frauen wie Männer den gleichen sozialen Strukturen unterliegen, die unsere Denk-, Handlungs- und Wahrnehmungsschemata prägen.

amor fati versus amour fou

Der Sozialanalytiker Bourdieu wird nicht müde, die Macht der (Herrschafts-)Strukturen ins Feld zu führen. Minutiös wie kaum ein anderer hat er den Aufbau von sozialen Ordnungen und die Gründe für deren Stabilität herausgearbeitet, so dass ihm bisweilen vorgeworfen wurde, er sei mehr an der Analyse des Bestehenden interessiert als am Erkennen der Möglichkeiten zur Veränderung, und weil er den (positiven) sozialen Wandel nicht sehe, fehle in seinen Studien eine positive Perspektive.

In dieser Hinsicht fühlte sich Bourdieu gründlich missverstanden, und er versuchte diese Sicht zurechtzurücken. Er glaubte an Utopien als Motor der Veränderung und nannte sich im Sinne Ernst Blochs einen „überlegten Utopiker“, der sowohl die gesellschaftliche Wirklichkeit als auch die konkreten Chancen der Veränderungen sehen könne. In diesem Rahmen formuliert Bourdieu (s)eine Utopie der Liebe, die einen „Bruch mit der gewöhnlichen Ordnung“ herbeiführen könne und letztlich die symbolische Gewalt aufzuheben vermöge.

Aber er wäre nicht Bourdieu, wenn nicht zugleich die Frage folgen würde, ob diese Idee nicht doch nur eine Illusion und die Liebe gar die höchste, weil subtilste und unsichtbarste Form von symbolischer Gewalt sei. In diesem Sinne wäre die Liebe eine Form der akzeptierten Herrschaft. Wenn ein Herrschaftsverhältnis und die ihr inhärente Gewalt als unvermeidlich angesehen werden (als unvermeidlich, weil sowohl in den Herrschenden als auch in den Beherrschten habituell angelegt), dann zeigt sich die Akzeptanz in der „Liebe zum Schicksal“ (amor fati), und gewöhnlich wird diese Form der Herrschaft „verkannt und in der glücklichen oder unglücklichen Leidenschaft praktisch anerkannt“. (S. 187)

Klar ist dieses Postskriptum nicht. In Kenntnis seiner Schriften ist man geneigt anzunehmen, Bourdieu könne die Utopie der reinen Liebe nur als eine Illusion annehmen, denn – wie er an anderer Stelle immer wieder betont – alles, eben auch die Liebe, folgt gewöhnlich einem strategischen Nutzen. Doch im Weiteren führt er seine Gedanken zur „romantischen Liebe“ aus, und man erfährt, er glaubt an die Liebe, die keinen anderen Zweck hat als sich selbst. Dabei meint er nicht die „normale“ Liebe, die eheliche, die gesellschaftlich sanktionierte, sondern die Liebe in ihrer „vollendetsten Gestalt“, die leidenschaftliche Liebe (amour fou), die immer auch einen Bruch mit der gesellschaftlichen Ordnung bedeutet. (S. 190)

Diese reine Liebe, die frei sei von egoistischen Kalkülen und jeglicher Instrumentalisierung, sei die Basis für eine Beziehung, in der vollkommene Reziprozität und gegenseitige Anerkennung gegeben ist, „durch die ein jeder sich im anderen wiedererkennt, den er selbst als einen anderen anerkennt und der ihn seinerseits als einen solchen anerkennt […].“ (S. 191). In dieser so beschriebenen Liebe komme es zu einem „wunderbaren Waffenstillstand“, in dem die Herrschaft aufgehoben und die männliche Gewalt befriedet zu sein scheint. (S. 188) Die reine Liebe sei ein „Wunder“ und in diesem Sinne zwar unwahrscheinlich, doch möglich. Man wird den Verdacht nicht los, dass diese persönlichen Gedanken, aus einem Augenblick der „Verzauberung“ geboren, seinen eigenen theoretischen Einsichten kaum länger standhalten können als eben diesen einen Augenblick.

Männliche Herrschaft ist nicht mehr zu rechtfertigen

Der Ausgangspunkt der Bourdieu’schen Studie ist der Satz, dass die männliche Herrschaft ideologisch derart abgesichert ist, dass sie kaum der Rechtfertigung bedarf. Seine Darstellung, wie objektive Strukturen und subjektive Dispositionen ineinander greifen, und seine Analyse der symbolischen Gewalt, mit der in modernen Gesellschaften Macht erzeugt, durchgesetzt und reproduziert wird, sind überzeugend. Nahtlos kann er das Konzept der „sanften Gewalt“ in seine Kritik der androzentrischen Gesellschaft einfügen; aber neu sind seine Erkenntnisse nicht. Neu ist noch nicht einmal, dass der Diskurs über das Geschlechterverhältnis auch für Männer an Bedeutung gewinnt, denn Männlichkeit und vor allem männliche Herrschaft sind in modernen Gesellschaften eben nicht mehr in dem Maße selbstverständlich, dass sie keiner Rechtfertigung mehr bedürften. Dass der reale soziale Wandel der vergangenen 30 Jahre, zu einer Ent-Legitimisierung geführt hat, will Bourdieu in der vorliegenden Studie denn auch nicht besonders hervorheben, obwohl er bereits 1994 in einem Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke die Einsicht vertrat, es stehe außer Frage, dass sich männliche Herrschaft nicht mehr mit der Evidenz des Selbstverständlichen durchsetzen könne, dass man sie heute verteidigen oder rechtfertigen müsse. Bourdieu betont vielmehr die Trägheit des Wandels, die Konstanz im Wandel.

Trotzdem habe ich dieses Buch mit Gewinn gelesen, denn Bourdieus luzide Diagnostik, seine dialektische Denkweise und sein Gespür für soziale Paradoxien sind immer wieder beeindruckend. Es bleibt zu wünschen, dass sich nun, wo diese Studie über die männliche Herrschaft auch in deutscher Sprache vorliegt, eine größere Aufmerksamkeit für die Schriften Bourdieus auch in der hiesigen Frauen- und Geschlechterforschung entwickelt, denn ohne Zweifel hat er Erkenntnisinstrumente hinterlassen, die es ermöglichen, nicht zuletzt den Anspruch von Selbstreflexivität, der für die Frauen- und Geschlechterforschung so wichtig ist, auch einzulösen.

URN urn:nbn:de:0114-qn062057

Dr. Ulla Bock

Berlin/Zentraleinrichtung zur Förderung von Frauen- und Geschlechterforschung an der Freien Universität Berlin

E-Mail: bocku@zedat.fu-berlin.de

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