Heike Kahlert, Claudia Kajatin (Hg.):
Arbeit und Vernetzung im Informationszeitalter.
Wie neue Technologien die Geschlechterverhältnisse verändern.
Frankfurt a.M., New York: Campus 2004.
314 Seiten, ISBN 3–593–37609–1, € 34,90
Abstract: Der Tagungsband Arbeit und Vernetzung im Informationszeitalter widmet sich der Frage, ob und wie die Geschlechterverhältnisse in der Informationsgesellschaft in Bewegung geraten. In theoretischen wie empirischen Reflexionen zeichnen die 13 Beiträge exemplarisch die Komplexität, Widersprüchlichkeit und Uneindeutigkeit der Auswirkungen des gesellschaftlichen Wandels auf deren Mitglieder nach und verdeutlichen die anhaltende Wirkungsmacht der Kategorie Geschlecht auch in einer vernetzten Welt.
Welche Auswirkungen haben die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien auf die vergeschlechtlichte Arbeitswelt? Lösen sich durch neue Technologien tradierte Verkettungen von Männlichkeit und Technik auf? Und wie verändert sich die politische Mitsprache von Frauen durch Nutzung des Internets? Durchdachte Antworten auf diese gesellschaftlich aktuellen Fragen bietet das vorliegende Buch, das Beiträge der Tagung „gender@future: Geschlechterverhältnisse im Informationszeitalter“ (Rostock, Oktober 2003) dokumentiert.
Der detailreiche Einführungstext der beiden Herausgeberinnen setzt sich mit den wichtigsten inhaltlichen Aspekten des Themenfeldes auseinander. Er endet mit zwölf aus den Ausführungen aller Autor/-innen abgeleiteten Thesen zum Informationszeitalter sowie dem Aufzeigen von Forschungslücken, die vielleicht besser am Buchende platziert wären. Die Publikation verliert ein wenig ihren Spannungsbogen, denn viele Antworten werden bereits vorweggenommen. Auffallende inhaltliche Klammer und Bezugspunkt für die Einzelbeiträge bildet etwas unvermutet die Trilogie von Manuel Castells The Information Age: Economy, Society, and Culture. Obwohl in den meisten Beiträgen kritisch auf seinen Entwurf einer Netzwerkgesellschaft, deren konstituierendes Merkmal die Vernetzung ist, Bezug genommen wird, bleiben die Inhalte aber auch ohne genaue Kenntnis dieser vielzitierten Gegenwartsdiagnose verständlich.
Im ersten Teil befassen sich drei Beiträge auf einer allgemeinen Ebene mit „Geschlechterverhältnissen im sozialen und technologischen Wandel“. Heike Kahlert untersucht in einer kritischen Reflexion das Werk Manuel Castells und die darin entworfene Theorie einer Netzwerkgesellschaft, deren Entstehen nach Ansicht des amerikanischen Soziologen auch zentral auf der Neuen Frauenbewegung beruht.
Auch Männlichkeitsentwürfe, Formen männlicher Homosozialität und männliche Hegemonievorstellungen unterliegen gegenwärtig einem Wandel. Michael Meuser analysiert diesen aus drei Perspektiven, indem er das Verhältnis von Männlichkeit und Technik, Männlichkeit in der Erwerbsarbeitssphäre und mediale Männlichkeitskonstruktionen näher beleuchtet. Dabei deckt er auch den eher vagen Erklärungsgehalt des Begriffs Informationszeitalter, wie Manuel Castells ihn entwirft, auf.
Claudia Kajatin geht der Frage nach, ob sich die in der Industriegesellschaft verfestigten Verkettungen von Männlichkeit und Technik durch neue digitale Technologien aufzulösen beginnen und einem weniger geschlechterspezifischen Technologieverständnis und -umgang Platz machen. Der von der Autorin gut gestaltete, auf techniksoziologische Arbeiten Bezug nehmende Überblick relativiert diese Hoffnungen und verdeutlicht den tief in die Gesellschaft eingeschriebenen Prozess des gendering von Technologie. Sie zeigt, wie soziale Verhältnisse über Technologie ein gendering erfahren.
Die zunehmend zu beobachtende Flexibilisierung der Erwerbsarbeitsverhältnisse zieht für alle Geschlechter Veränderungen im Berufs- wie im Privatleben nach sich, zunehmend müssen sich die Gesellschaftsmitglieder zu aktiven Gestalter/-innen ihrer Biographien erklären. Insbesondere für hochqualifizierte Frauen könnte die Flexibilisierung dabei neue Chancen auf bessere berufliche Positionen und auch die Aushandlung egalitärer Arrangements in Fragen der familiären Arbeitsteilung eröffnen, wie die Beiträge im zweiten Teil der Publikation demonstrieren.
Weiblichen Beschäftigten in Unternehmen der IKT-Branche, die von Maria Funder und Steffen Dörhöfer aufgrund der fortschrittlichen Unternehmens- und Arbeitsorganisation wie der flexiblen Beschäftigungsmodelle für eine empirische Untersuchung herangezogen wurden, gelingt es, sich öfter als im übrigen Arbeitsmarkt im Management zu positionieren. Gleichzeitig stellen Funder und Dörhöfer aber bei den Beschäftigten in den untersuchten Unternehmen ein geringes Bewusstsein über die in der Branche dominierenden Geschlechterasymmetrien fest, nur in Ausnahmefällen, dann aber zumeist erfolgreich, wird von der Geschäftsführung aktiv an Geschlechtergleichstellung gearbeitet.
Annette Henninger untersucht die wachsende Bedeutung von verschiedenen beruflichen und privaten Netzwerken für hochqualifizierte Freelancer-/innen, die in Medienberufen tätig sind. Diese Netzwerkkontakte und Vernetzung können die Befragten insofern für innovative Arrangements von Arbeit und Familie nutzen, als sie ihnen neue Aushandlungsoptionen eröffnen abseits des im deutschen Wohlfahrtsstaat weiterhin verankerten Standards des Normalarbeitsverhältnisses und männlichen Haupternährer-Modells.
Insbesondere alternierende Telearbeit birgt Potenziale als tragfähiges Beschäftigungsmodell der Informationsgesellschaft. Gabriele Winker und Tanja Carstensen weisen für Telearbeitende nach, dass die zeitweise Verlagerung der Erwerbsarbeit nach Hause Vereinbarkeitsleistungen erleichtert. Während für Frauen die Telearbeit oft den Berufswiedereinstieg nach der Familiengründung vereinfacht, leisten telearbeitende Männer mit Familie mehr Haushaltstätigkeiten und verbringen mehr Zeit mit ihren Kindern. Um den neu entstehenden beruflichen wie privaten Leistungsanforderungen auf der theoretischen Ebene Rechnung zu tragen, erarbeiten die Autorinnen das Konzept ‚Arbeitskraftmanager/-in‘, ein neuer Typus von Arbeitskraft, der auch reproduktive Tätigkeiten einschließt.
Anneli Rühling präsentiert Forschungsarbeiten zu Auswirkungen der Flexibilisierung von Erwerbsarbeit auf Modelle der Elternschaft. Sie identifiziert bei Paaren, die Erwerbs- und Familienarbeit teilen, komplexe und fragile Aushandlungen mit hohem Abstimmungs- und Planungsbedarf. Obwohl die Paare das Risiko diskontinuierlicher Erwerbsbiographien eingehen und sich oftmals an den für ihren Alltag unpassenden institutionellen Rahmenbedingungen „abarbeiten“, gewinnen sie auch Handlungsspielräume und tragen als Vorreiter und Minderheit zur Transformation gesellschaftlicher Leitbilder bei.
Im dritten Teil der Publikation wird in fünf Beiträgen der Themenbereich „Politiken, Partizipationen und Identitäten im Netz“ behandelt. Gezeigt wird die Bedeutung, die Internet und Vernetzung mittlerweile auch für die Ausformung gesellschaftlicher (Geschlechter-)Verhältnisse gewonnen hat bzw. noch bekommen wird.
Cilja Harders widmet sich in einer übersichtlichen Zusammenstellung von Forschungsarbeiten der Frage, ob und inwiefern sich Frauen im und durch das Netz neue politische Teilhabemöglichkeiten eröffnen. Obwohl prinzipiell Potenziale bestehen, im Netz der weiterhin andauernden „selektiven Integration“ von Frauen in Staat und Politik eine neue Entwicklung entgegenzusetzen, zeigt die Forscherin, wie auch im vernetzten World Wide Web politische Prozesse und Partizipation einer Vergeschlechtlichung unterliegen und auch Kategorien wie ethnische Zugehörigkeit oder soziale Lage tragend werden. Einzig die aktive Eigeninitiative über Networking und unter Ausnutzung aller technischen Mittel des Netzes sieht sie als Chance und Strategie zu deren Überwindung und als Aussicht, Aufmerksamkeit auf (Gegen-)Öffentlichkeiten abseits des politischen Mainstreams zu lenken.
Der Frage, ob und wie sich (Gegen-)Öffentlichkeiten über das Internet konstituieren, gehen auch Gabriele Winker, Ricarda Drüeke und Kerstin Sude nach. Sie zeigen die Bedeutung eines feministischen Verständnisses von Öffentlichkeit, wie es etwa Nancy Fraser in ihrem Konzept der subalternen Gegenöffentlichkeit entworfen hat, um die politische Funktion von Öffentlichkeiten im Netz als wichtigen demokratiefördernden Faktor wahrnehmen und einschätzen zu können. In der vorgestellten Untersuchung von Internetauftritten politisch arbeitender Frauennetzwerke in Deutschland offenbaren sich jedoch deren eklatante Schwächen.
Tanja Paulitz nimmt in ihrem Text das Verhältnis von Netz und Subjektivität anhand des empirischen Beispiels der Virtuellen Internationalen Frauenuniversität (Vifu) in den Blick. In der Sicht der Konstrukteur/-innen der Vifu erweist sich dabei die Herstellungspraxis von Netz(en) und Vernetzung(en) als Wechselspiel von virtuellen und nichtvirtuellen kommunikativen Ausdrucksformen. Paulitz‘ Ausführungen zeigen, wie Dimensionen von Subjektivität in Vernetzungsprozessen entstehen und verstanden werden können. Eine eingehende Auseinandersetzung mit den Begriffen Netz und Vernetzung bereichert die Darstellung.
Christina Schachter und Bettina Duval geben einen Einblick in ein qualitatives Forschungsprojekt über fünf Frauen- und Mädchennetzwerke im Internet. Die Netze entwickeln in der Einschätzung der Userinnen aufgrund ihres zielgruppenspezifischen Vernetzungsangebots einen Communitycharakter und können neben einer Ressourcenbündelung auch dem Empowerment der Beteiligten dienen. Ob sich durch die Nutzung dieser Netze letztlich auch nachhaltige politische und wirtschaftliche Teilhabechancen für Frauen und Mädchen in der Informationsgesellschaft ergeben, bleibt offen, wird von den Autorinnen aber etwas überzogen als Frage nach der „Teilhabe oder Nicht-Teilhabe an der Moderne“ (S. 279) interpretiert.
Christiane Funken stellt in ihrem Beitrag Ergebnisse eigener Forschungsarbeiten zur Identitätskonstruktion im Internet vor dem Hintergrund eines medial vermittelten und dominierten Gesellschaftsentwurfs vor. Die Arbeit an einem virtuellen Selbst, das die Teilnehmer/-innen von Chats, MUDs oder Computerspielen inszenieren, gerät zu einem Spiel um Aufmerksamkeit und Glaubwürdigkeit, die es in den spezifischen Settings zu erzeugen gilt. Trotz Virtualität verliert dabei der Körper als scheinbar unhintergehbares Zeichen und Teil einer auch geschlechtlichen Identität nicht etwa an Bedeutung, sondern festigt seine Position gerade über die virtuellen Räume und die darin simulierten materiellen Handlungsumwelten. Interessant wäre, welche (identitäts-)politischen Statements den virtuellen Ichs dabei auch eingeschrieben werden.
Indem sie den Blick auf Geschlechterfragen richten, verdeutlichen die Befunde in dem Band die Uneindeutigkeit, Komplexität und Widersprüchlichkeiten der Auswirkungen des aktuellen gesellschaftlichen Wandels. So stellt die Publikation eine bereichernde Informationsquelle sowohl für Einsteiger/-innen in das Thema als auch Fachwissenschaftler/-innen dar. Trotz mancher inhaltlicher Wiederholungen, insbesondere, was die Ausgangsbasis der einzelnen Beiträge betrifft, ist es den Herausgeberinnen gelungen, in überwiegend gut lesbaren Artikeln sowohl wichtige Begriffsklärungen als auch Verweise bzw. Zusammenfassungen zu relevanten neueren Forschungsarbeiten zusammenzuführen und überdies manch Neues zu präsentieren.
URN urn:nbn:de:0114-qn062235
Eva Reisinger
Freie Universität Berlin, Fachbereich Geowissenschaften, Fachrichtung Anthropogeographie
E-Mail: ereising@geog.fu-berlin.de
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