Ilse Lenz, Lisa Mense, Charlotte Ullrich (Hg.):
Reflexive Körper?
Zur Modernisierung von Sexualität und Reproduktion.
Opladen: Leske + Budrich 2004.
311 Seiten, ISBN 3–8100–3922–5, € 25,90
Abstract: Der vorliegende Sammelband präsentiert einen zwar methodisch disparaten, aber thematisch vielschichtigen Überblick zur Geschichte und Gegenwart von Sexualitätsdiskursen und Reproduktionstechnologien nach ‚1968‘. In diesem Zusammenhang gerät vor allem die sich verändernde Vergeschlechtlichung von Körpern in den Fokus, die Zuschreibung und Durchsetzung ‚männlicher‘ und ‚weiblicher‘ Identitätsmuster zwischen Normalisierung und Biopolitik.
Nicht nur die Entwicklung der Biopolitik schreitet voran, auch deren Analyse und Kritik. Nicht nur das Leben im Allgemeinen wird – geschult an Foucault oder Haraway – immer öfter als soziale Konstruktion thematisiert, als Diskurs-Effekt, als machbar, als gestaltbar, auch der Körper im Besonderen und die Vergeschlechtlichung von Körpern geraten zunehmend als Objekte staatlicher Eingriffe in den Blick. Innerhalb der Forschung konzentriert sich das Interesse dabei bis dato vor allem auf die Themenbereiche Sexualität und Reproduktion.
So auch im vorliegenden Sammelband. Die Herausgeberinnen versuchen jedoch, im Rahmen ihrer Einleitung, einem bestimmten Trend innerhalb der Körper- und Geschlechterforschung entgegenzuwirken: Sie gehen von der Annahme aus, dass Körper nicht nur eine soziale Konstruktion darstellen, sondern umgekehrt auch auf diese zurückwirken bzw. der Machbarkeit und Gestaltbarkeit Grenzen setzen. In diesem Sinne sprechen sie von „reflexiven“ Körpern. Nicht jede Norm sei demnach auch lebbar bzw. verkörperbar. Eher unausgesprochen richtet sich dieser Zugriff gegen einen – man könnte sagen – ‚rein‘ diskursanalytischen Ansatz in der Tradition von Foucault oder Butler. Eines der programmatischen Ziele des Bandes ist es in dieser Hinsicht, soziale Konstruktionen von vergeschlechtlichten Körpern „zu re-kontextualisieren“ (S. 9) und in den Zusammenhang ‚konkreter‘ (zum Beispiel ökonomischer) Verhältnisse zu stellen. Die Frage, ob dieser Zugriff (auf die ‚natürlichen‘ Grenzen des Körpers? auf die ‚harten‘ Fakten?) womöglich mit einem Verlust an feministischer bzw. postfeministischer Radikalität bezahlt wird – diese Frage kann und braucht an dieser Stelle zum Glück nicht geklärt zu werden.
Den thematischen Schwerpunkt des Bandes bilden vier Beiträge zum Themenkomplex moderne Reproduktionstechnologien. Dass es verkürzt sei, Fragen der Reproduktion allein aus dem Blickwinkel der Biopolitik zu betrachten, versucht insbesondere Margaret Lock aufzuzeigen – am Fall der Familienplanung in Japan. In einer Kultur, in der körperliche Abweichungen zu einem Höchstmaß an sozialer Ausgrenzung führen, erscheint ihr die pränatale Diagnostik weniger als biopolitische Maßnahme denn als „Pragmatismus“ (S. 235). Tatsächlich gehe es in diesem Fall weniger um staatliche Eingriffe im Sinne einer gezielten Bevölkerungspolitik als um das von den Eltern ersehnte Wohl der Kinder. Dass es mit Blick auf die sich verändernde Vergeschlechtlichung von Körpern sehr deutlich zwischen unterschiedlichen Kontexten zu differenzieren gilt, möchte auch Nelly Oudshoorn deutlich machen. Am Beispiel der Pille gelingt es ihr zu zeigen, dass die „Universalisierung“ des ‚weiblichen‘ Körpers (Stichwort: Eine Pille für alle Frauen) eine Form der „Politik des Othering“ darstelle (S. 241): die Frau wird zum differenzlosen Anderen der Männer. Tatsächlich jedoch, so Oudshoorn, gelte dies vor allem im Rahmen der ‚westlichen‘ Kultur, das heißt, auf der Grundlage ganz spezifischer und keineswegs „universaler“ Körper- und Geschlechterbilder (wohlmöglich ist die Pille aus diesem Grund in Japan kaum präsent).
Mit Fragen der Biopolitik im Kontext der ‚westlichen‘ Kultur beschäftigen sich die Beiträge von Erika Feyerabend und Lisa Mense. Erika Feyerabend widmet ihre Untersuchung den Debatten um das Embryonenschutzgesetz und analysiert sehr überzeugend die unintendierten, aber gefährlichen Effekte der zunehmenden „Subjektivierung des Embryos“ (S. 185). Nicht nur entschlüsselt sie die pränatale Diagnostik als „vorgeburtliche Qualitätssicherung“ (S. 189) und gibt zu bedenken, dass der Körper der Frau dabei tendenziell zum bloßen „Umfeld“ des Embryos herabgestuft werde. Auch macht sie ersichtlich, dass erst vor dem Hintergrund einer derartigen Personifizierung von Embryonen und mit Verweis auf die Legalität der Abtreibung immer unverhohlener eugenische Maßnahmen gegenüber Kindern und Erwachsenen begründet werden: Wenn man ‚Personen‘ abtreiben darf, so die perfide Frage, warum darf man dann keine Personen verhungern lassen (wie im Fall von Koma-Patienten)?
Mit den Folgeerscheinungen der In-vitro-Fertilisation setzt sich Lisa Mense auseinander. Die künstliche Befruchtung führt erstmals in der Geschichte zu einer „Fragmentierung der Elternschaft“ (S. 161). Neuartige und multiple Verwandtschaften würden auf diese Weise denkbar und realisierbar. Bedenklich sei in diesem Zusammenhang – so Mense – hingegen, dass der Staat mit Unterstützung von Medizinern nach wie vor darüber wacht, dass nur ‚gesunde‘ und in erster Linie heterosexuelle Paare Zugang zu derartigen Reproduktionstechnologien erhalten.
Vier weitere Beiträge beschäftigen sich mit der Zuschreibung und Durchsetzung ‚weiblicher‘ Identitäten. Sie machen darauf aufmerksam, dass Biopolitik zwar auf die Produktion von Normalität zielt, umgekehrt jedoch nicht jede Form der Normalisierung eine biopolitische Maßnahme darstellt. Während sich Christine Kenning, Charlotte Ullrich und Paula-Irene Villa in diesem Zusammenhang der Rolle der Massenmedien zuwenden, wirft Ilse Lenz einen Blick auf die deutsche Frauenbewegung nach ‚1968‘. Christine Kenning präsentiert eine rundum überzeugende Diskursanalyse der sich wandelnden Thematisierung des Orgasmus in Psychologie heute. Verschiedene Phasen der Thematisierung lassen sich in diesem Zusammenhang zwischen 1975 und 2000 voneinander unterscheiden: vom Orgasmus als Ausdruck der ‚sexuellen Befreiung‘ in den 70er Jahren bis zum ausbleibenden Orgasmus als Zeichen der vielbeklagten ‚sexuellen Lustlosigkeit‘ in den 90er Jahren. Die Sexualität der Frau wird dabei durchgehend als ‚problematisch‘ oder ‚unnormal‘ beschrieben – der Orgasmus fortwährend als Therapiemaßnahme verschrieben. Frauen werden auf diese Weise als therapiebedürftig identifiziert und konstituiert. Charlotte Ullrich beschäftigt sich am Beispiel der Menstruation mit der Normalisierung und Medikalisierung von Frauen in der Werbung. Sie interessiert sich insbesondere für die zunehmende „Unsichtbarkeit der Menstruation“ (S. 101). Nur bestimmte Erfahrungen mit dem eigenen – ‚weiblichen‘ – Körper erscheinen vor diesem Hintergrund als ‚natürlich‘. Männlichkeits- und Weiblichkeitskonstruktionen im Medium des Musik-Videos widmet sich Paula-Irene Villa. In zeitgenössischen Pop-Clips, so ihr Fazit, werden Identitätsmuster und dichotome Unterscheidungen zwar einerseits massenhaft reproduziert. So sind es in der Regel Männer, die sich in den Musik-Videos als Subjekte bewähren, während Frauen über ihren Objektstatus selten hinaus gelangen. Gleichzeitig jedoch werden diese Muster immer wieder verunsichert und teilweise neu arrangiert, zum Beispiel mit Blick auf Musiker wie Marilyn Manson. Einen großangelegten, aber zur Zeit noch provisorischen Überblick zur deutschen Frauenbewegung zwischen 1968 und 2000 präsentiert Ilse Lenz. Sie kann unter anderem zeigen, dass die Frage der ‚sexuellen Befreiung‘ für die Frauenbewegung alles in allem bis Mitte der 80er Jahre konstitutiv ist. Quantitativ widerlegen kann sie die These, dass die Frauenbewegung seit Ende der 80er Jahre einen Niedergang erfahren habe.
Mit der Zuschreibung und Durchsetzung ‚männlicher‘ Identitäten beschäftigen sich abschließend zwei Beiträge von Torsten Wöllmann und Robert Connell. Torsten Wöllmann untersucht in einem sehr interessanten Beitrag die Entwicklung der Andrologie, der ‚Männerheilkunde‘, die in der Bundesrepublik Deutschland eigentlich erst in den 70er Jahren an Gestalt gewinnt. Der so genannte ‚männliche‘ Körper konnte, so die These, nur deswegen so lange nicht eigens zum Gegenstand der Medizin werden, weil er die „quasi geschlechtslose Norm“ der Medizin darstellte, an der sich der so genannte ‚weibliche‘ Körper zu messen lassen hatte (S. 264). Wie die Gynäkologie diene die Andrologie vor allem der „medizinischen Durchsetzung der Zweigeschlechtlichkeit“ (S. 273). Insgesamt wenig überzeugend fällt der Beitrag von Robert Connell aus. Die Vergeschlechtlichung von Körpern und ‚männliche‘ Identitätsmuster lassen sich schwerlich angemessen auf der Basis zweier Interviews analysieren, zumal die Interviewsituation selbst (Mann interviewt Mann) an keiner Stelle problematisiert wird. Wenn Connell von den „Fehlern und Schwächen“ seines Interviewpartners spricht (S. 294), so dokumentiert dies nach meinem Dafürhalten in erster Linie die Schwächen und Risiken hermeneutischer Untersuchungsverfahren.
Der vorliegende Sammelband bietet einen sehr breiten und teilweise überaus gelungenen Überblick zur Geschichte und Gegenwart von Geschlecht, Sexualität und Reproduktion nach ‚1968‘. In seiner Sachlichkeit hebt er sich wohltuend ab von den kulturpessimistischen Klageliedern, die den zeitgeschichtlichen Blick auf den Körper nur allzu häufig prägen – hier wird nicht über so genannte „Neo-Sexualitäten“ spekuliert…
URN urn:nbn:de:0114-qn062068
Pascal Eitler, M.A.
Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft
E-Mail: pascaleitler@web.de
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