Alter als Teil des Lebens erscheint auf den ersten Blick so universell, dass es sich kaum als kulturelle Differenzkategorie eignet, wie etwa das Geschlecht oder die soziale und ethnische Zugehörigkeit. Altern ist ein Prozess, der mit der Geburt beginnt und mit dem Tod endet. Kulturelle Erzählungen über das Alter(n) sind jedoch erstaunlich kontrovers, werden häufig als binäre Oppositionen einander gegenübergestellt. Haltungen zum Alter sind in der westlichen Kultur dabei häufiger negativ geprägt: Altern wird als Entfremdung oder gar als Entmenschlichung empfunden und in Form einer individuellen Verfallsgeschichte erzählt. Seltener ist dagegen die Wahrnehmung des Alters als Zugewinn, als Potential und Erfolgsgeschichte. Der Alterungsprozess betrifft den Körper, macht ihn zugleich deutlich spürbar und kulturell unsichtbar. Eine weitgehend negative ‚Geschichte des alternden Körpers‘ in der westlichen Kultur betrifft Frauen in besonderem Maße: Darstellungen alter Frauen in Literatur und Kunst seit der Antike sind zumeist misogyne Darstellungen des körperlichen Verfalls oder Allegorien der Vergänglichkeit.
Der demografische Wandel gehört zu den Herausforderungen der Gesellschaft der Gegenwart. Alter ist zum Thema einer öffentlichen Debatte geworden, die zum einen von ökonomischen Argumenten und zum anderen von unausgesprochenen kulturellen Ängsten geprägt ist. Es wird das Schreckbild einer alternden Gesellschaft entworfen, dem eine unter der Last des Generationenvertrages zusammenbrechende arbeitsfähige ‚Jugend‘ gegenübersteht. Reale politische Probleme wie Gesundheitsversorgung, Renten, Armut im Alter werden mit Ängsten vermischt. Haltungen zum Alter werden häufig von traditionellen Bildern und kulturellen Kodierungen vom alternden Menschen geprägt, die nicht selten auf dem Modell der Geschlechterdifferenz beruhen – wie in dem Klischee, dass Männer reifen, während Frauen lediglich altern. Im eigenen Interesse erweist sich die Werbung teilweise als erstaunlich innovativ, wenn es darum geht, neue Altersbilder hervorzubringen – auch wenn dies von dem ökonomischen Ziel motiviert ist, aus der immer größer werdenden Zahl von Senioren die kaufkräftigen und körperlich aktiven anzusprechen.
Der vielschichtigen öffentlichen Debatte zum Alter in den Medien steht ein noch wenig differenzierter wissenschaftlicher Diskurs gegenüber. Das Postdoc-Kolleg Alter – Geschlecht – Gesellschaft setzt sich deshalb zum Ziel, ein medizinisches und gesundheitspolitisches Thema mit weitergehenden kulturwissenschaftlichen Perspektiven zu verknüpfen und so die oft geforderte Kooperation zwischen vermeintlich getrennten Wissenschaftskulturen umzusetzen. Dabei zeigen sich in Mecklenburg-Vorpommern die Probleme der demografischen Entwicklung hin zu einer „Gesellschaft der Alten“ in besonderer Schärfe. In dem am Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterstudien der Universität Greifswald angesiedelten Kolleg sollen Formen der Altersforschung im Hinblick auf die damit verbundenen gender-Perspektiven entwickelt werden.
Drei Postdoc-Kollegiatinnen aus den Disziplinen Anglistik, Neuere und Neueste Geschichte und Community Medicine setzen mit ihren jeweiligen Forschungsprojekten verschiedene inhaltliche Schwerpunkte und fragen nach kulturellen Konstruktionen von Alter in gesellschaftlichen, künstlerischen und wissenschaftlichen Diskursen. Christiane Streubel (Neuere und Neueste Geschichte) arbeitet zu Alter in der Postmoderne: Mediale Diskurse und Dimensionen der Erfahrung in beiden deutschen Staaten. Angelika Uhlmann (Community Medicine) beschäftigt sich mit dem Forschungsprojekt ’Frauenbewegung’ im Alter: Das Bild der sportlichen alten Frau im Wandel der deutschen Nachkriegsgesellschaften.
Als Anglistin arbeite ich selbst an einem Projekt, das kulturelle Haltungen zum Alter in literarischen Erzählungen seit dem 18. Jahrhundert betrachtet: Alter narrativ: Narrative Subjektpositionen in literarischen Erzählungen und autobiographischem Schreiben seit dem sentimentalen Diskurs. An narrativen Altersbildern und an der Darstellung von Alterungsprozessen lassen sich unterschiedliche Gefühlskulturen sichtbar machen. Deshalb greife ich den im 18. Jahrhundert einsetzenden Diskurs der Gefühle, insbesondere des Mitleids, heraus, um ihn mit Altersdarstellungen in Zusammenhang zu bringen. Mitleid als Emotion und säkulare Moralkategorie unterliegt einem zunehmenden Bedeutungsverfall. Wie Käte Hamburger in ihrer Studie Das Mitleid (1985) zeigt, weisen Sprachgebrauch und literarische Beispiele des 19. und 20. Jahrhunderts auf eine zunehmend negative Wortbedeutung hin: Mitleid im Sinne von ‚leid tun‘ drückt zugleich Verachtung für das Objekt des Mitleids aus. Diese verächtliche Bedeutung führt zu ‚Mitleidsverboten‘ in den Kontexten Krankheit und Alter. Im sentimentalen Roman des 18. Jahrhunderts lässt sich dagegen beispielsweise eine extreme Mitleidslosigkeit im Zusammenhang mit Alter beobachten, die als Kritik gesellschaftlicher Missstände lesbar ist.
Um ein paradigmatisches Beispiel zu nennen: In Frances Burneys im späten 18. Jahrhundert sehr erfolgreichen Briefroman Evelina (1778) schildert die titelgebende junge Heldin in einem Brief an ihren Vormund ein Wettrennen zweier alter Frauen, die zwei Aristokraten ‚eingekauft’ haben, um in einem grausamen Spiel auf die Siegerin zu wetten. Im Vordergrund dieser grotesken Szene stehen weniger die alten Frauen selbst, obwohl deren körperliche Anstrengung und Gefährdung von Evelina protokolliert wird, sondern vielmehr alle umstehenden Zuschauer der Szene und ihre Gefühlsregungen. Nacheinander disqualifizieren sich alle Beobachter durch ihr fehlendes Mitleid. Selbst die im Roman positiv gezeichneten Charaktere kritisieren lediglich die Wettsucht der beiden Aristokraten in den absurden Summen, die sie auf die alten Frauen setzen. Die Szene markiert wie einige ähnliche des Romans sehr direkt die Misogynie und Gefühlskälte einer Gesellschaft, die sich mitten im Empfindsamkeitskult befindet.
Die ambivalente Haltung zum Mitleid, die sich seit der Aufklärung abzeichnet, lässt sich in vieler Hinsicht mit der Ambivalenz in unserer Kultur gegenüber dem Alter vergleichen. Auch dazu ein Beispiel: Kathleen Woodward, eine prominente Vertreterin der kulturwissenschaftlichen Gerontologie oder „Age Studies“ in den USA, zeigte in ihrem Aufsatz „Calculating Compassion“ (2002) wie George W. Bush mit dem politischen Slogan des „Compassionate Conservatism“ einen Wahlkampf gewann, indem er eine imaginäre Nähe zu seinen Wählern herstellte. In dieser Verwendung des Mitleidbegriffs wird er seiner Inhalte entleert und auf eine Weise mit dem konservativen politischen Programm verknüpft, das sowohl dem allgemeinen Sprachgebrauch als auch der philosophischen Tradition des Mitleidsbegriffs widerspricht. Eine ähnliche Strategie der Aneignung einer ambivalenten kulturellen Haltung zeigt sich für das Alter in Frank Schirrmachers Das Methusalem Komplott (2004). Sein Plädoyer gegen Altersrassismus und sein Emotionen schürender Aufruf zu einer Revolution der zukünftigen Alten liest sich zum einen wie ein Dokument zeitgenössischer Ängste vor dem Alter, die von statistischer Panik geschürt werden. Zum anderen werden hier auf ähnliche Weise wie in Bushs Strategie des „Compassionate Conservatism“ Begriffe oder Haltungen umgekehrt, wenn der Aufruf zur Revolution lediglich der Bestandserhaltung von Machtansprüchen dient.
Wie die beiden Beispiele aus dem späten 18. und frühen 21. Jahrhundert zeigen sind kulturelle Haltungen zum Alter zwar historischen Wandlungen unterworfen, sie lassen sich jedoch weder als Verfalls- noch als Erfolgsgeschichte lesen oder erzählen. Sie sind mit kulturellen Befindlichkeiten und Emotionen verbunden, die ebenfalls einem wenig geradlinigen historischen Wandel unterworfen sind.
Bereits im November 2004 fand ein erster Workshop zum Thema „Alter und Geschlecht“ an der Uni Greifswald statt, der den beabsichtigten interdisziplinären Dialog im Hinblick auf den neuen Forschungsschwerpunkt Alter – Geschlecht – Gesellschaft eröffnete. Beiträge dazu kamen aus den Philologien, der Kunst- und Medizingeschichte, der medizinischen Psychologie, den Kultur- und Medienwissenschaften. Ein Sammelband ist aus diesem Workshop entstanden, der im Herbst bei transcript erscheinen wird. Diese Veranstaltung wurde noch im Rahmen der ersten Phase des Postdoc-Kollegs Krankheit und Geschlecht durchgeführt, das von August 2001 bis zum Dezember 2004 zu diesem Forschungsschwerpunkt arbeitete und eine Reihe interessanter Tagungen und Workshops organisierte. Eine Reihe von Publikationen sind ebenfalls in dieser Zeit entstanden, in denen u. a. die Kategorie Krankheit in Zusammenhang mit der des Geschlechts betrachtet wurde.
Seit April 2005 ist das neue Kolleg vollständig personell besetzt. Vom 14.-16. Juli 2005 findet der Workshop „Graue Theorie“ statt, für das Wintersemester 2005/2006 ist die Ringvorlesung „Wertvolles Alter – Gefährliches Alter?“ in Planung, und für das Jahr 2006 eine Internationale Tagung „Alter narrativ“.
Anmerkung der Redaktion: Die den Essay begleitenden Photographien entstammen dem Projekt Dirty Old Women der Künstlerin Ines Doujak.
URN urn:nbn:de:0114-qn062281
Heike Hartung
Studium der Anglistik und Germanistik an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, der University of Sheffield und der Freien Universität Berlin. MA 1992, Promotion 2000. 1995–2004 wiss. Mitarbeiterin am Institut für Englische Philologie der FU Berlin. Seit August 2004 wiss. Mitarbeiterin im Postdoc-Kolleg Alter – Geschlecht – Gesellschaft am Interdisziplinären Zentrum für Frauen- und Geschlechterforschung der Universität Greifswald.
E-Mail: heike.hartung@uni-greifswald.de
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