Gisela Bock (Hg.):
Genozid und Geschlecht.
Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem.
Frankfurt a.M., New York: Campus 2005.
320 Seiten, ISBN 3–593–37730–6, € 34,90
Abstract: Im vorliegenden Band wird der Themenkomplex „Jüdische Frauen im nationalsozialistischen Lagersystem“ mit Hilfe unterschiedlicher theoretischer Ansätze in den Blick genommen. Es finden sich zum einen Beiträge zu der ersten Phase des Konzentrationslagers Moringen (Jane Caplan), zu jüdischen Frauen in Ravensbrück (Linde Apel, Hanna Herzog und Adi Efrat), in Auschwitz (Na’ama Shik), in Außenlagern (Irmgard Seidel, Hans Ellger), in Transnistrien (Ronit Lentin) und in Theresienstadt (Anna Hájková). Zum anderen wird auch die Verarbeitung des Erlebten in der Nachkriegszeit (Christa Schikorra und Sabine Kittel) thematisiert. Mit diesem Band gelingt es der Herausgeberin Gisela Bock, einen Überblick über die Bedeutung der Kategorie Geschlecht für das Leben und Überleben im Konzentrationslager zu geben. Darüber hinaus werden unterschiedliche methodische Zugänge zum Umgang mit den Quellen aufgezeigt.
Lange ist hierzulande in der Holocaust- und Genozidforschung die Kategorie Geschlecht als Kriterium für das Überleben, die Erfahrung, die Wahrnehmung und für die Verarbeitungsstrategien vernachlässigt worden, obwohl bereits 1983 eine Tagung in New York zu diesem Themenkomplex stattfand, wie Gisela Bock in ihrer Einleitung betont. Immerhin hat sich in Deutschland zumindest die von Myrna Goldberg formulierte Formel „different horror, same hell“ durchgesetzt, mit der zum Ausdruck gebracht werden soll, dass die Verfolgungsbedingungen für jüdische Männer und Frauen ähnlich waren, konkrete Ausprägungen und subjektive Erfahrungen jedoch durchaus in Verbindung mit Geschlecht gelesen werden sollten.
Der vorliegende Band geht auf die von Gisela Bock organisierte Tagung „victims, victimizers and survivors: a multidisciplinary research on jewish women in the concentration camp of Ravensbrück and their environment“ an der FU Berlin zurück, die die Ergebnisse eines von der German-Israeli Foundation geförderten Forschungsprojektes zusammenfassen sollte. Der Titel des nun vorliegenden Bandes Geschlecht und Genozid ist allerdings etwas weit gefasst, denn er widmet sich tatsächlich ausschließlich jüdischen Frauen. Ähnliche Untersuchungen, vor allem zu Sinti- und Roma-Frauen liegen bisher noch kaum vor.
Die elf Autorinnen und der Autor sind sich der Problematik einer Beschäftigung mit der vielschichtigen, vieldeutigen und vieldiskutierten Kategorie Geschlecht bewusst: Essentialisierung und Biologisierung heißen die Klippen, die es zu umschiffen gilt. Ronit Lentin merkt in ihrem Beitrag der Literaturwissenschaftlerin Sara Horowitz folgend an, dass eine gängige Lesart weiblicher Holocaust-Erfahrungen Frauen entweder als „biologisch verletzlich“ darstellt (S. 189) oder aber sozial konstruierte weibliche Kompetenzen wie „nurturing“ oder „bonding“ in den Vordergrund rückt. Was bedeutet die Kategorie dann? Welche spezifischen Erfahrungen machten Frauen im Konzentrationslager? Welchen Gefahren war der weibliche Körper ausgesetzt? Welche Bedeutung hatte die Geschlechtszugehörigkeit für die Lebensbedingungen im Konzentrationslager? Die Aufsätze basieren auf unterschiedlichen Zugängen zu diesen Themen. Gleichzeitig betonen die Autor/-innen einhellig, bei der Fokussierung auf Geschlecht nicht andere Kategorien in der Analyse aus dem Blick verloren zu haben. In den meisten Beiträgen bilden Selbstzeugnisse die Quellengrundlage. An acht Beiträgen möchte ich im Folgenden das Themenspektrum und die wichtigsten Problemfelder des Bandes skizzieren.
Der Band folgt in seiner Gliederung grob der zeitlichen Chronologie der nationalsozialistischen Verfolgung und wird eingeleitet mit einem Beitrag von Jane Caplan über das Frauen-Konzentrationslager Moringen 1936–1937. Die Autorin geht der Geschichte des frühen Konzentrationslagers Moringen anhand der Betrachtungen und Reflexionen von Gabriele Hertz nach, die das Konzentrationslager quasi als Chance begriff, ihre „persönlichen Beziehungen und somit meine Menschenkenntnis zu erweitern.“ (S. 31). In ihrer dezidierten Analyse des Erinnerungstextes gelingt es Jane Caplan, sich zum einen der Entstehungs- und Veröffentlichungsgeschichte der Memoiren anzunähern und sie zum anderen ständig auf die Geschichte des Frauenkonzentrationslagers in seinem Übergang von einem Instrument politischer Repression hin zu einem „langfristigen gesellschaftlichen und rassischen Sozialtechnologieprojektes“ (S. 40) rückzubeziehen.
Linde Apel geht in ihrem Beitrag zum Problemzusammenhang „Judenverfolgung und KZ-System: Jüdische Frauen in Ravensbrück“ einer Vielzahl von Fragen nach, u. a. den Gründen für die Inhaftierung jüdischer Frauen, deren Lebensbedingungen und Überlebensstrategien im Konzentrationslager. Diese Fragen ordnet sie in die Analyse der Funktion des Konzentrationslagers Ravensbrück im System der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik ein. Am Beispiel der detaillierten Untersuchung der Geschichte jüdischer Frauen im Konzentrationslager Ravensbrück kommt sie zu dem Ergebnis, dass dieses Lager einen Vernetzungspunkt innerhalb des Systems der nationalsozialistischen Verfolgung und Vernichtung der europäischen Juden bildete (vgl. S. 60).
Irith Dublon Knebel analysiert in ihrer Untersuchung die Geschichte der KZ-Aufseherin Luise Danz. Nach einem kurzen biographischen Abriss beschreibt sie, wie Luise Danz in Zeugnissen von Überlebenden, hauptsächlich aus dem Außenlager Malchow, dargestellt wird. Anschließend geht sie anhand der Selbstbeschreibung von Luise Danz den von der Angeklagten vor Gericht gemachten Aussagen nach. In ihrer ersten Vernehmung 1945 zeigte sich Luise Danz noch in der nationalsozialistischen Logik verhaftet, doch schon 1947 schimmern Rechtfertigungsmuster auf, die meiner Meinung nach darauf schließen lassen, wie die Angeklagte den gesellschaftlichen Blick auf den Nationalsozialismus als Unrechtsstaat bereits adaptiert hatte. Dass Luise Danz schließlich bei ihrer letzten Vernehmung 1995 davon spricht, dieser Teil der Vergangenheit würde sie belasten (S. 78), ist von der Autorin ebenfalls zu wenig dechiffriert worden. Zwar weist sie darauf hin, dass sich Danz mit solch einer Aussage selbst zum Opfer mache, beleuchtet aber zuwenig den gesellschaftlichen Rahmen, den diese Aussage überhaupt erst möglich macht. Nicht überzeugend finde ich ihren an Christopher Brownings anknüpfenden Befund, dass sich weder ideologische noch persönliche Motive als ausschlaggebende Faktoren erwiesen hätten, sondern der „Prozess der Brutalisierung“ (S. 79) als handlungsleitend gesehen werden müsse. Zum einen kann die zunehmende Brutalisierung nicht getrennt von ideologischen Wahrnehmungsstrukturen begriffen werden, gerade weil doch Gewalt und Dehumanisierung ein wesentlicher Bestandteil der nationalsozialistischen Ideologie waren, zum anderen zeigen gerade die Beschreibungen der Aufseherinnen durch die Überlebenden, wie unterschiedlich Handlungsspielräume genutzt und Herrschaft und Gewalt innerhalb des Konzentrationslagers ausgeübt wurden.
Gewalt wird nicht nur über den Körper ausgeübt und wahrgenommen, dennoch war gerade im Konzentrationslager der Körper der Ort, über den und an dem Gewalt am unmittelbarsten und ungeschütztesten stattfinden konnte. Davon ausgehend nähert sich Na’ama Shik der „weiblichen Erfahrung in Auschwitz-Birkenau“ an und konstatiert, dass gerade in den Konzentrationslagern der Körper der wichtigste Ort der Geschlechterdifferenz gewesen sei und deshalb die Untersuchung der Unterschiedlichkeit von Erfahrungen den Körper als Ausgangspunkt zu nehmen habe. Eingebettet wird diese These in die nationalsozialistische Ideologie von Rasse und Geschlecht. Na’ama Shik beschreibt die Lagererfahrung als zweigeteilt, zum einen die Erfahrungen, die allen gemeinsam waren, wie beispielsweise Hunger, Kälte und Terror, aber zum anderen eben die Erfahrungen, die sich explizit am Geschlecht „Frau“ festmachen. Deutlich erläutert sie dies anhand des Selektionsprozesses, innerhalb dessen gerade Frauen mit Kindern und schwangere Frauen sofort ermordet wurden. Als weiteres Beispiel führt sie die sexuelle Ausbeutung von Frauen sowohl durch SS-Männer als auch durch männliche Häftlinge an. Frauen wurden oft zur Prostitution gezwungen oder vergewaltigt.
Ronit Lentin, fragt in ihrem Beitrag danach, ob es als Äquivalent zu Agambens Terminus des „homo sacer“, des nackten Lebens, eine „femina sacra“ (S. 187) gegeben habe. In ihrer Untersuchung von Zeugnissen weiblicher Überlebender aus Transnistrien kommt sie zu dem Schluss, dass nach dem „Verhältnis von Geschlecht und Erinnerung“ (S. 197) gefragt werden muss. Sie erkennt in den Erzählungen eine Struktur, die im Gegensatz zu den meist chronologisch linear geprägten Erzählungen von Männern „oft vielschichtig, ambivalent und rekursiv“ (S.197)sei. Gleichzeitig folge eine kollektive Erinnerung männlichen Erzählmustern und blende weibliche Erinnerungen aus. Lentin begründet das mit dem symbolischen Aufgeladensein von sexueller Gewalt bei gleichzeitiger Unaussprechlichkeit dieser Erfahrung.
Constanze Jaiser analysiert in ihrem Beitrag Selbstzeugnisse unter der Fragestellung, wie Gewalt und Sexualität in Zeugnissen von Frauen repräsentiert werden. Sie wählt in ihrem Vergleich früher Zeugnisse nichtjüdischer und jüdischer Frauen aus Ravensbrück und Auschwitz einen hermeneutischen Zugang. Der Text wird als Handlung begriffen, d. h. die Texte selbst müssen „als Interpretationen, als Analysen von Subjekten gelesen werden“ (S. 124). Constanze Jaiser kommt zu ähnlichen Befunden in der Typisierung der Autobiographien wie Na’ama Shik. Gerade die frühen Publikationen würden sehr viel aufrichtiger das Grauen, aber auch das eigene Verhalten beschreiben. (S. 105). Dies betreffe insbesondere die eigenen oder fremden Überlebensstrategien. Das Bedürfnis oder der Druck, das eigene Handeln im Lager zu rechtfertigen, sei noch nicht in dem Maße ausgeprägt gewesen wie in späteren Selbstzeugnissen. Auch der Topos der weiblichen Solidarität gewinne erst in späteren Veröffentlichungen an Gewicht.
Christa Schikorra und Sabine Kittel beschäftigen sich mit Hilfe der Methode der Oral History mit dem Weiterleben nach der Befreiung. Während Schikorra Berichte von jüdischen Remigrantinnen in der Tschechoslowakei untersucht, beschäftigt sich Sabine Kittel mit jüdischen KZ–Überlebenden, die in die USA ausgewandert sind. Die Rückkehr in die Tschecheslowakei werde, so Schikorra, in den meisten Berichten als problematisch geschildert, weil es eben keine Rückkehr in eine „alte Gesellschaft“ gewesen sei. Die Nachwehen des Nationalsozialismus seien überall spürbar gewesen, nicht zuletzt deshalb, da weiterhin antisemitische Ausschreitungen das gesellschaftliche Klima prägten. Schikorra betrachtet die Kategorie Geschlecht eingebettet in andere gesellschaftliche Bezugssysteme wie Nationalität oder auch Familie.
Zusammenfassend betrachtet, zeigen alle Aufsätze deutlich, wie sehr die Kategorie Geschlecht sowohl erfahrungs- als auch erinnerungsprägend ist. Deutlich wird vor allem, wie wichtig eine vergleichende Analyse der Berichte von Überlebenden ist, um Unterschiede deutlich zu machen, die das Geschlecht, aber auch den zeitlichen und gesellschaftlichen Entstehungskontext betreffen. Das gilt auch für die Aussagen von Aufseherinnen. Der Tagungsband setzt zweifelsohne wichtige Akzente für die zukünftige Auseinandersetzung mit dem Themenfeld „Geschlecht und Genozid“.
URN urn:nbn:de:0114-qn063223
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