Andrea Bührmann (Hg.):
Der Kampf um ‚weibliche Individualität‘.
Zur Transformation moderner Subjektivierungsweisen in Deutschland um 1900.
Münster: Westfälisches Dampfboot 2004.
343 Seiten, ISBN 3–89691–559–2, € 29,80
Abstract: Die Studie Der Kampf um weibliche Individualität. Zur Transformation moderner Subjektivierungsweisen in Deutschland um 1900 ist der Fragestellung gewidmet, inwiefern „symbolisch-kulturelle Deutungs- bzw. Klassifizierungsprozesse“ (S. 9) adäquat beschrieben werden können. Hierzu hat Andrea Bührmann „Foucaults Überlegungen zur Analyse von Diskurs- und Machtformationen“ als theoretische Basis herangezogen. In Form einer „gesellschaftstheoretisch fundierten Dispositivanalyse“ (S. 20f.) hat sie diese rekonstruiert bzw. weitergedacht und um die Strukturkategorie Geschlecht ergänzt. Anhand des Kampfes von „Frauen für eine ’weibliche Individualität’“ (S. 11) im ausgehenden 19. Jahrhundert versucht sie, exemplarisch nachzuweisen, dass sich damit historische (Trans-)Formierungsprozesse sowohl theoretisch begreifen als auch historisch konkret darstellen lassen.
Andrea Bührmann geht von der Forschungshypothese aus, dass wissenschaftlich und politisch tätige Frauen an der „Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert mit dem strategischen Ziel einer Enthierarchisierung des Geschlechterverhältnisses für eine weibliche Individualität“ kämpfen (S. 20). Um rekonstruieren zu können, wie es dazu gekommen ist, greift sie auf Foucault, genauer auf seine Analyse der diskursiven und nicht-diskursiven, der gesagten und ungesagten Praktiken „im Kontext gesellschaftlicher Machtverhältnisse“ (S. 28) zurück. Bührmann betont die Notwendigkeit einer Ergänzung von Foucaults Dispositivanalyse um jene Ausblendungen, die die Kategorie Geschlecht betreffen. Mithilfe der so ergänzten Dispositivanalyse will Bührmann auf synchroner Ebene klären, über „welche Mechanismen […] sich Über- und Unterordnungsverhältnisse zwischen den Genus-Gruppen“ reproduzieren und „wo „Bruchstellen und Verschiebungen, an denen sich Tendenzen zur Veränderung in Bezug auf das Geschlechterverhältnis abzeichnen“ (S. 45), existieren.
Hierfür hat sie diverses Textmaterial analysiert, das sich u. a. aus „zwischen 1890 und 1914 veröffentlichten Monographien, Handbüchern, Chronologien, Jahrbüchern und Tagungsberichten zur Frauenfrage bzw. -bewegung“ (S. 47) zusammensetzt. Von neutraler Warte aus möchte sie so nicht nur den diskursiv hervorgebrachten „Wissensgegenstand bzw. Erkenntnisbereich“ beschreiben, sondern auch klären, „nach welcher Logik die Begrifflichkeiten konstruiert werden, wer autorisiert ist, über den Gegenstand zu reden, und schließlich, welche strategischen Ziele in dieser diskursiven Praxis verfolgt werden“ (S. 37). Das Sprechen über Sexualität etwa ist der gleichen Macht unterworfen bzw. gegen sie gerichtet wie das Schweigen. Im Hinblick auf das Wechselspiel von „Machtinstrument und -effekt, aber auch Hindernis, Gegenlager, Widerstandspunkt und Ausgangspunkt für eine entgegengesetzte Strategie“ (http://www.dgs2002.de/Abstracts/AH/Buehrmann.htm (24. August 2005) befragt Bührmann nun den Kampf um die weibliche Individualität auf deren Ziele, Erfolg bzw. Scheitern.
Zunächst rekonstruiert Bührmann die hegemonialen Geschlechterverhältnisse. Im frühen 19. Jahrhundert wird die Frau immer mehr zur „systematischen Leerstelle“ (S. 50), während der Mann das „Allgemein-Menschliche“ (S. 51) repräsentiert. Die dergestalt verteilten Rollen schreiben der Frau letztlich die Wesensmerkmale Emotionalität und Passivität, Fürsorglichkeit und Mütterlichkeit zu. Das „Wesen der weiblichen Natur“ wird mit „Hausfrauen-, Gattinnen- und Mutterschaft, verbunden mit einer unterstellten gattungsgeschlechtlichen Sittlichkeit“ (S. 51) gefüllt. Frauen sollen sich auf den privaten, familiären Raum beschränken und sich schon gar nicht an der Politik beteiligen. Das bis 1908 andauernde Verbot der „Organisation von Frauen zu politischen Zwecken“ (S. 54) oder die ab 1887 durchgesetzte eheliche Vormundschaft zementieren eine männliche Vormachtstellung.
Daneben bestimmt der medizinische Diskurs die Strukturkategorie Geschlecht. Die Annahme, „der Geschlechtskörper präge die geschlechtliche Identität“ bzw. das „Modell der getrennten Sphären der Geschlechterdifferenz“ wird zum „Kristallisationspunkt des bürgerlichen Familienideals und zum Ausgangspunkt bürgerlicher Distinktionsbedürfnisse“ (S. 60 f.). Dementsprechend gibt es unterschiedliche Erziehungskonzepte und verschiedene Anforderungen an die Mutter. Ausgerichtet an Rousseaus Emile sollen sich Jungen „frei fühlen, obwohl sie einer permanenten Kontrolle unterliegen“, während Mädchen von klein auf „direktem Zwang ausgesetzt“ (S. 64) sind.
Auch die Gynäkologie als „Wissenschaft über die Frau“ trägt dazu bei, die „politische, kulturelle und soziale Realität“ von Frauen zu prägen und ihnen beispielsweise ob ihres Geschlechts die „Fähigkeit zum wissenschaftlichen Arbeiten“ (S. 66) abzusprechen. Frauen nehmen nur dann am wissenschaftlichen Diskurs teil, wenn man über sie spricht, wenn sie Studienobjekte sind. Die neu entdeckte „biologische Ungleichheit“ von Mann und Frau gibt vor, die „gesellschaftliche Ungleichheit“ (S. 70) legitimieren zu können.
Das Geschlechtsdispositiv, so hält Bührmann fest, ist eng verknüpft mit dem Allianz- und dem Sexualitätsdispositiv. Während das Allianzdispositiv die „Vorstellung der bürgerlichen Familie“ und die „Trennung von familiärer und öffentlicher Sphäre“ (S. 74) etabliert, bringt das Sexualitätsdispositiv die Vorstellung einer „normalen heterosexuellen Identität“ (S. 75) hervor, die durch den Mann verkörpert und von der „hysterischen Frau“ abgegrenzt wird.
Auf den folgenden rund 150 Seiten verfolgt Bührmann schrittweise und detailliert die Entwicklung des Kampfes von Frauen, der kurz vor Beginn des 20. Jahrhunderts zur brisanten Frage in Deutschland wird. Frauen wenden sich gegen die vorherrschende geschlechtliche Subjektivierungsweise und entwickeln mit der zusehends erstarkenden kulturwissenschaftlichen Frauenforschung eine neue: Sie formulieren das „Ideal einer konkreten, subjektiven und perspektivischen Kulturwissenschaft, in der Theorie und Praxis miteinander verbunden werden“ (S. 201). Frauen behaupten nun, dass wissenschaftliche Aussagen über Frauen nur von Frauen gemacht werden können, und kehren „das Argument um, mit dem Männer versuchen, Frauen vom Diskurs auszuschließen“. Dieser Prozess findet nicht etwa an den Hochschulen statt: Er soll sich vielmehr in Form von „Frauenprojekten“ (S. 203) praktisch vermitteln.
Die Frauenforschung steht in enger Verbindung zur Frauenbewegung, die sie begründet und kommentiert. Die Frauenbewegung wiederum versucht, die Erkenntnisse der Frauenforschung praktisch umzusetzen. Bührmann spricht hier von einer „Frauensphäre“, die zunehmend in der Öffentlichkeit erstarkt und akzeptiert wird.
In der „Frauensphäre“ wird vor allem die Diskrepanz zwischen der hegemonialen Vorstellung von der Frau als biologischer Mutter, die ihren „reproduktiven Pflichten im häuslichen Bereich“ (S. 206) nachkommen soll, und ihrer tatsächlichen Lebens- und Arbeitssituation kritisiert. Die durch die Industrialisierung bedingte Veränderung des Erwerbslebens hat einschneidende Konsequenzen für Frauen unterschiedlicher Schichten: Frauen aus der bürgerlichen Schicht sind „doppelt unterversorgt“, weil die „Funktionsentleerung des Haushalts“, der Frauenüberschuss und die „abnehmende ‚Heiratsneigung‘ bürgerlicher Männer“ ihre „Tätigkeiten als Hausfrau“ reduzieren. Dagegen sind Frauen aus der proletarischen Schicht „doppelt belastet“, denn sie „sollen nicht nur Hausfrau, Mutter und Ehefrau“ (S. 207), sondern müssen auch Erwerbstätige sein.
Dabei fordern Frauenforscherinnen, die auch der proletarischen Frauenbewegung angehören, „letztlich eine Revolution der Produktionsverhältnisse“, während die Vertreterinnen der bürgerlichen Frauenbewegung sich lediglich für eine „Enthierarchisierung des Geschlechterverhältnisses“ (S. 208) einsetzen. Einigkeit herrscht allerdings darin, dass Geschlechtlichkeit kein „‚natürliches‘ Strukturierungsprinzip gesellschaftlicher Prozesse und Strukturen“ (S. 209) bedeutet, sondern vielmehr eine Kategorie mit sozialen Folgen.
Frauen entwickeln unter anderem „das differenztheoretische Modell ‚Mensch als Weib‘“, das davon ausgeht, dass Mann und Frau sich „in spezifischer Art und Weise“ (S. 132) voneinander unterscheiden. Hierauf bezieht sich die „Konzeption geistige Mütterlichkeit“: Sie grenzt sich vom Bild der Hausfrau bzw. Gattin ab und fördert eine entsexualisierte und geistige Mütterlichkeit. Damit macht sie die natürliche Geschlechterdifferenz zur Voraussetzung für die geschlechtliche Identität. Diese geistige Mütterlichkeit kann sich in jedweder Form von pädagogischer Arbeit entfalten. Die „Frauen aus bürgerlichen Schichten sollen sich um den ‚großen sozialen Haushalt‘ kümmern“ (S. 211) und werden im Dienste des Arbeitsvermögens für die Allgemeinheit um- bzw. aufgewertet.
Vor allem in den Dienst der Ausbildung von Frauen und Mädchen wollen die geistigen Mütter treten. Sie setzen sich aber auch für eine Reform des bürgerlichen Ehe- und Familienrechts bzw. des Arbeitsrechts sowie für eine verstärkte Beteiligung von Frauen an der Politik ein und sprechen sich gegen die Prostitution aus. Innerhalb dieser Bemühungen der Frauenbewegung kommt es (erneut) zu einer Hierarchisierung, denn es sind (überwiegend) die Frauen aus dem Bürgertum, die proletarische Frauen über „Reinigungsnormen“ oder das adäquate „Mutter-Tochter-Verhältnis“ (S. 220) unterrichten.
Die Entwicklung einer weiblichen Individualität im Sinne der geistigen Mütterlichkeit soll schließlich gelingen, wenn der so genannte kindliche Tätigkeitstrieb im Sinne der Pädagogik Fröbels (1782-1852) ausgebildet und individuell gefördert wird. Nur die vollständige Erkundung im Spiel für Jungen und Mädchen kann dazu führen, dass sich Mädchen zu adäquaten geistigen Müttern entwickeln. Auch die Kindergärtnerinnen müssen über die Kindergartenpädagogik unterrichtet werden. Der Kindergarten wird zum „Kristallisationspunkt einer Erziehung zur weiblichen Individualität“ (S. 220).
Die „‚soziale Hilfsthätigkeit‘“ von Frauen legt den Grundstein für die „Professionalisierung im Allgemeinen“ (S. 222). Die Reformprojekte haben ihren festen Platz in der Gesellschaft gefunden. Im Lauf des Ersten Weltkrieges übernimmt der „‚Nationale Frauendienst‘ […] das gesamte Spektrum der Wohlfahrts- und Fürsorgetätigkeit“, wird also vom privat geförderten und ehrenamtlich bedienten Projekt zum staatlichen (und ganz und gar nicht geschlechtsneutralen) Instrument. Damit einher geht etwa das Recht auf sozialstaatliche Unterstützung oder die Einrichtung von Jugendämtern. Allerdings sind die Nutznießer dieser Einrichtungen (der Sozialversicherungssysteme) meist männlich.
Die bevölkerungspolitischen Entwicklungen während des Krieges und danach (niedrige Geburtenrate, Anstieg der Sterblichkeitsziffer) führen dazu, dass viele den Typus „‚Mensch als Weib‘ in Gestalt der deutschen biologischen Mutter“ (S. 230) favorisieren. Die „Hyperinflation vom Herbst 1924“ (S. 231) trägt ein übriges dazu bei, die Situation der pädagogischen Mütter zu erschweren. Zwar wird 1925 beispielsweise die „‚Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit‘“ (S. 231) ins Leben gerufen, doch läuft die gesellschaftliche Entwicklung erneut darauf hinaus, dass sich die Geschlechterrollen verfestigen: „Die Bildungschancen von Frauen verbessern sich zwar, beamtenrechtliche Beschränkungen fallen weg und Frauen wird das aktive und passive Wahlrecht zugestanden“ (S. 232), doch sind sie auch hier der männlichen Dominanz unterworfen.
Bührmann hält letztlich fest: „Frauen können […] zwar als Motor für eine Transformierung der hegemonialen geschlechtlichen Subjektivierungsweisen betrachtet werden, jedoch agieren sie unter dem Diktat der männlichen Hegemonieansprüche“ (S. 235). Einen wesentlichen Grund sieht sie auch darin, dass die Frauenbewegung auch in sich schon eine Hierarchisierung vorgenommen hat. Denn ihre Ansprüche sind auf bürgerliche Frauen zugeschnitten und stützen damit das Bürgertum selber. Die Frauenbewegung hat zwar einige ihrer Ziele umsetzen können; letztlich hat sie aber auch die Basis zementiert, von der ausgehend sich wieder die alten hegemonialen Muster festschreiben.
„Äußerst fruchtbar“ (S. 239) nennt Bührmann ihren auf Foucault gründenden Ansatz. Mehrfach betont sie, dass ihre Vorgehensweise des theoretischen Begreifens und historisch-konkreten Beschreibens davor bewahrt, Geschlechtlichkeit diskursiv aufzulösen und in die „Fallstricke eines linguistischen Idealismus zu geraten“ (S. 19, S. 32, S. 239). So erhellend ihre Ausführungen auch sein mögen - das bloße Lesen derselben gestaltet sich durchaus als mühsam. Ist man doch beim Entlanghangeln am Gerüst ihres methodisch-methodologischen Ansatzes, beim Nachvollziehen des Wechselspiels zwischen theoretischem Rahmen und akribischer Vorgehensweise relativ allein gelassen. Mitunter blitzt ein konkreter Bezug zur Übersichtsskizze der erweiterten Dispositivanalyse auf. Aber der allein reicht nicht aus, um die theoretische Basis in ein angemessenes Verhältnis zum textreichen praktischen Bezug zu setzen.
Notwendig ist die Untersuchung Bührmanns ohne Zweifel. Als „Beitrag zur Geschichte der Gegenwart“, aber auch als Bestätigung dessen, was auch ohne die erweiterte Dispositivanalyse Foucaults Foucault selber gesagt hat: Die diskursiven Praktiken der Macht erzeugen im Subjekt durch die Unterdrückung dessen, was es vorher war, seine Weiterentwicklung. (Vgl. Judith Butler: Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung. Frankfurt 2001, S. 81ff.)
URN urn:nbn:de:0114-qn063092
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