Katharina Rennhak, Virginia Richter (Hg.):
Revolution und Emanzipation.
Geschlechterordnungen in Europa um 1800.
Köln u. a.: Böhlau 2004.
304 Seiten, ISBN 3–412–11204–6, € 29,90
Abstract: In diesem Sammelband bieten die Herausgeberinnen und die Autor/-innen einen multiperspektivischen und interdisziplinären Einblick in den Stand der Forschung zu einem der wichtigsten Gebiete der historischen und literaturwissenschaftlichen Geschlechterforschung: Im Zentrum steht die Frage nach der Bedeutung der Zeit um 1800 für die Entwicklung der modernen Konzeption des Geschlechterverhältnisses. Ausgangspunkt ist der Befund einer besonders in dieser Zeit offen zu Tage tretende Instabilität geschlechtlicher Zuschreibungen. In den Beiträgen werden unterschiedliche Versuche von Frauen zur Subversion und Modifikation bestehender Geschlechterordnungen um 1800 präsentiert.
Der von den Anglistinnen Katharina Rennhak und Virgina Richter herausgegebene Band enthält 14 Aufsätze, gerahmt von einer Einleitung der Herausgeberinnen und einem Ausklang (Coda) von Ethel Matala de Mazza. Die Beiträge sind dabei in fünf Unterkapitel aufgeteilt.
Das erste dieser Kapitel befasst sich mit „Geschlecht und Raum um 1800“, wobei der Untertitel „Theorie und Praxis“ ein wenig unglücklich erscheint. In den Beiträgen von Cornelia Klinger und Hannah Lotte Lund wird diese Unterscheidung nämlich explizit nicht aufgegriffen. Die Philosophin Cornelia Klinger wendet sich der Kernfrage des Buches zu: Auf der Folie einer luziden Auseinandersetzung mit den gängigen Modernisierungstheoremen versucht sie, die Stellung der Geschlechter in diesen Prozessen der Modernisierung herauszuarbeiten. In Hannah Lotte Lunds Beitrag wird der ambivalente Charakter des literarischen Salons betont: zum einen bot er den teilnehmenden Frauen ein gewisses Maß an (politischer) Emanzipation, zum anderen war dieser Emanzipation dort feste Grenzen gesetzt, wo sie an den Grundfesten der phallozentrischen Gesellschaftsordnung rüttelte.
Der zweite Teil des Sammelbandes widmet sich den um 1800 entstehenden neuen Bildungskonzepten. Während Alexandra Kleihues in ihrem Beitrag anhand Madame d’Épinays Conversations d’Émilie Widerständigkeiten gegen die Anthropologisierung des Geschlechterdiskurses und die damit verbunden Zuweisungen von Geschlechterrollen aufweist, untersucht Sabine Doff auf ideengeschichtlicher Ebene die Geschlechterstereotypen und ihre Wirkungen, die schließlich, mit zeitlicher Verzögerung von annähernd einem Jahrhundert, die Etablierung eines höheren Mädchenschulwesens in Deutschland ermöglichten.
Im nächsten, germanistischen Teil des Bandes werden Weiblichkeitskonzepte im deutschen Drama untersucht. Zunächst stellt Claude Conter zwei Modelle vor, die als Reaktion der Schriftsteller auf die Frauenfrage nach der Französischen Revolution zu verstehen sind: die „Weiberpolitik“ und der „Femme-Soldat“. Am Beispiel der beiden Geschlechterdramen Penthesilea und Käthchen von Heilbronn behandelt Julia Schöll die Frage nach einer möglichen Subversion der Geschlechterzuschreibungen um 1800. Simone Wangler hebt bei ihrer Beschäftigung mit der Veränderung „religiös-hagiologisch codierter Weiblichkeitsimaginationen“ die Rolle und das Zusammenspiel religiöser, politisch-nationaler und genderspezifischer Diskurse für diesen Paradigmenwechsel im Geschlechterverhältnis hervor.
Den „Re- und Dekonstruktionen des Geschlechterverhältnisses“ sind die folgenden drei Artikel gewidmet. Die Literaturwissenschaftlerin Christina Jung-Hoffmann liest das droste-hülshoffsche Drama Bertha oder die Alpen als weibliche Kritik an den bestehenden Geschlechterdichotomien. Wie in der Wollstonecraft-Biographie Memoirs of the Author of the Rights of Woman von William Godwin gängige Moralvorstellungen durch den Ansatz einer emanzipatorischen ‚Veröffentlichung des Privaten‘ subvertiert werden können, beschreibt Helga Schwalm. Katharina Rennhak vergleicht zwei Werke Mary Hays’ Memoirs of Emma Courtney und Mary Wollstonecrafts Maria or The Wrongs of Woman. Beide Autorinnen, so Rennhak, zeigen die gesellschaftliche Bedingtheit der Geschlechterrrollen auf und entwerfen neue Modelle des Zusammenlebens der Geschlechter.
Die letzte Sektion des Bandes befasst sich mit der Frage nach Überschneidungen von Ethnizität und Geschlecht und greift damit eine im deutschen Forschungskontext noch immer marginalisierte Thematik auf. Die Kunsthistorikerin Melanie Ulz beschäftigt sich mit Konstrukten französischer und orientalischer Männlichkeit in der Malerei des Premier Empire. Ulz stellt in ihrem Beitrag überzeugend dar, wie Geschlechterhierarchien auch in Formen künstlerischer Repräsentation entstehen und bestärkt werden. Dass auch die Romantik sich unterschiedlicher Konzepte von ethnischer Alterität bediente, weist Barbara Schaff am Beispiel einiger Gedichte der englischen Romantik nach. Bei näherer Betrachtung erweisen sich die hier im Umfeld des Sklavereidiskurses repräsentierten Konstruktionen des „Anderen“ als brüchig und instabil. Der Artikel von Virginia Richter beschäftigt sich ebenfalls mit dem Diskurs des Abolitionismus. In vergleichender Perspektive untersucht sie Mary Price’ The History of Mary Price und das von Matthew Lewis verfasste Werk Journal of a West India Proprietor. Sie arbeitet dabei heraus, wie in zwei unterschiedlichen Beiträgen zum Abolitionsdiskurs zwar die gleichen Beschreibungen der Sklaverei vorkommen, jedoch interessebedingt völlig gegensätzlich eingesetzt werden. Der auch für Historiker/-innen sehr nützliche Aufsatz von Kirsten Raupach zur Beeinflussung des britischen Weiblichkeitsdiskurses durch die „Schwarze Revolution“ auf Haiti zeigt den Einfluss kolonialer Ereignisse auf europäische Genderkonzepte.
Die von Ethel Matala de Mazza gestaltete „Coda“ thematisiert Wandlungen und Varianten des Geschlechtes des politischen Körpers, wobei die Autorin besonders die Ambivalenz von Imagination und „Realität“ der jeweiligen Körperkonzeptionen betont. Der vermeintlichen Geschlechterindifferenz des politischen Körpers müsse für alle Epochen widersprochen werden, auch und vor allem für die Zeit um 1800.
Eine nicht zu verleugnende Stärke des Bandes ist der von den Herausgeberinnen bereits im Vorwort (S. 10) hervorgehobene interdisziplinäre Charakter des Bandes. Hier sind Arbeiten, auch von jungen Nachwuchswissenschaftler/-innen, der unterschiedlichsten Fachbereiche versammelt. Die Aufsätze widmen sich den verschiedensten Themen und Fragestellungen; der Interdisziplinarität und der thematischen Vielfalt zum Trotz macht der Band dennoch einen geschlossenen, problemgeleiteten Eindruck. So zieht sich die Frage nach der Besonderheit der Konstruktionen von ‚Geschlechtlichkeit‘ im Untersuchungszeitraum, dem in der Einleitung formulierten Anspruch der Herausgeberinnen entsprechend, wie ein roter Faden durch das Buch. Einziges Manko ist hierbei die nicht zu übersehende Fixierung der Studien auf die Untersuchung von Weiblichkeitskonstruktionen; einzig der komparatistische Beitrag von Katharina Rennhak und der Artikel von Melanie Ulz brechen diese Einseitigkeit auf.
Der Sammelband bietet keine abschließenden Antworten auf die Frage, ob die Zeit um 1800 als Epochengrenze der Geschlechterordnungen anzusehen ist. Das will er nicht und das kann er sicherlich nicht. Dieses Buch muss als das Setzen einer wichtigen Wegmarke verstanden werden, die zur weiteren (interdisziplinären) Beschäftigung mit dem historischen Wandel der Geschlechterverhältnisse anregt. Der gelungene Versuch zur Integration von ‚Makroperspektive‘ (die Beiträge von Cornelia Klinger und Ethel Matala de Mazza) und mikroperspektivischen Fallstudien aus unterschiedlichen Disziplinen eröffnet hier für thematisch Interessierte die Möglichkeit der ersten Orientierung auf einem längst nicht erschöpfend bearbeiteten Forschungsfeld. Die Beschränkung der Beiträge auf die Behandlung von literarischen und intellektuellen Erzeugnissen der „Hochkultur“ ist bedauerlich, aber mit Sicherheit der konkreten Situation um 1800 geschuldet. Das Einsickern neuer Konzepte von Geschlecht und/oder Ethnizität verläuft zumeist eben nicht analog zur Rezeption in den „gelehrten Kreisen“. Ein Ausblick auf den eventuell zeitlich verzögerten Diffusionsvorgang in den Bereich der „Volkskultur“ hätte das thematische Spektrum des Bandes allerdings noch bereichert.
Sein vor allem anregender Charakter macht das Buch nicht nur für Literaturwissenschaftler/-innen interessant, sondern auch für Historiker/-innen, womit ich der ansonsten klaren und einsichtigen Besprechung von Angelika Epple (Rezension bei H-Soz-u-Kult vom 26.07.2005) in diesem Punkt widersprechen möchte. Sowohl der grundlegende Aufsatz von Cornelia Klinger als auch die Beiträge von Hannah Lotte Lund, von Sabine Doff und Kirsten Raupach und auf ideengeschichtlicher Ebene von Ethel Matala de Mazza enthalten wichtige Informationen und Hinweise für eine weitergehende historische Analyse des Problems epochengebundener Veränderungen im Verhältnis der Geschlechter. Gerade kulturwissenschaftlich interessierte Fachhistoriker/-innen können deshalb durchaus Gewinn aus diesem Band ziehen.
URN urn:nbn:de:0114-qn063255
Michael Weidert
Universität Trier, Graduiertenkolleg Identität und Differenz. Geschlechterkonstruktion und Interkulturalität (18.–21. Jh.)
E-Mail: miaelweidert@web.de
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