Carola Hilmes:
Skandalgeschichten.
Aspekte einer Frauenliteraturgeschichte.
Königstein/Ts.: Ulrike Helmer 2004.
245 Seiten, ISBN 3–89741–154–7, € 22,90
Abstract: In acht literatur- und kulturhistorischen Studien werden unterschiedliche „Aspekte einer Frauen-Literatur-Geschichte“ von 1800 bis in die Gegenwart dargestellt und diskutiert. Fragen der Autorschaft und Publikationsbedingungen von Frauen werden ebenso behandelt wie das Verhältnis von Weiblichkeit und Technik, von Weiblichkeit und Avantgarde sowie von Weiblichkeit und Populärkultur. Der Themenband trägt Entscheidendes zu einer Neuformulierung der Literatur- und Kulturgeschichte aus Sicht der Geschlechterforschung bei.
„Die Literatur kennt offensichtlich kein Geschlecht, und doch ist die Geschichte der Literatur eine, die von Männern geschrieben wurde“ (S. 7), heißt es in der Einleitung. Doch hat sich, so Hilmes, an der asymmetrischen Präsenz von Männern und Frauen im Literaturbetrieb in den letzten Jahrzehnten einiges geändert. Das gelte für die literarische Produktion, wo Frauen zusehends in ‚neuen‘ Genres wie Science-fiction oder dem feministischen Kriminalroman vertreten seien, aber auch für die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Phänomen des weiblichen Schreibens. Die Frauenforschung, deren wichtigste Ergebnisse in der Einleitung referiert werden, habe längst ihren subversiven Charakter verloren und sei zu einer akademisch anerkannten Disziplin geworden. Genderspezifische Fragestellungen hätten in Literatur- und Kulturwissenschaft einen festen Platz erobert, und selbst eine sich „parteilich“ definierende „feministische Literaturwissenschaft“ sei keine ideologische Kampfansage an die männliche Wissenschaftstradition mehr, sondern eine Frage der theoretischen Vorentscheidungen und methodischen Standortbestimmungen.
Hilmes selbst verwendet den Begriff der Frauenliteratur nicht im Sinne einer „Gattung“, die als Trivial- und Unterhaltungsliteratur häufig genug abgewertet und marginalisiert wurde, sondern als umfassende Kategorie. Was Frauenliteratur ausmacht, ist für sie der „spezifische Blick auf Literatur“, der nicht nur die Literatur von und für Frauen, sondern auch die „Präsentationsformen des Weiblichen in der Literatur sowie gendersensible Lektürestrategien und Stellungnahmen“ (S. 12) umfasst. Diesen methodischen Zugang hat die Verfasserin an „ausgewählten Fällen“ exemplarisch erprobt.
Das Kapitel „Der Skandal weiblicher Autorschaft“ handelt vom schwierigen Eintritt der Frauen in die literarische Öffentlichkeit um 1800. Schriftstellerinnen wie Wilhelmine Karoline Wobeser, Caroline Auguste Fischer und die Herausgeberin von Cottas Morgenblatt für gebildete Stände, Therese Huber, schrieben erfolgreiche (Frauen-)Romane und konnten sich häufig nur deshalb Anerkennung schaffen, weil sie ihre Identität durch Pseudonyme oder männliche Autornamen bis zur Selbstaufgabe verleugneten. Dass es ihnen trotz aller Widerstände gelang, sich aktiv an den Geschlechterdebatten ihrer Zeit zu beteiligen und alternative Lebensmodelle zur Diskussion zu stellen, zeigt Hilmes auf, indem sie ihre Werke gegen den Strich liest und die „weiblichen Maskeraden“ bis in die Poetik der Texte hinein verfolgt. Schließlich sind es „unsere eigenen Erkenntnisinteressen zusammen mit einem ausdifferenzierten Analyseinstrumentarium und genauen kulturhistorischen Kenntnissen, die eine Frauenliteraturgeschichte zuallererst ermöglichen“ (S. 51).
Im Kapitel „Aufbruch ins Unbekannte: Frauen Reisen in den Orient“ wird der Reisebericht behandelt, ein bei Frauen beliebtes und verbreitetes Genre. Anhand der Berichte von Lady Mary Montagu, Lady Elisabeth Craven und Ida Gräfin von Hahn-Hahn untersucht Hilmes den besonderen und durchaus ambivalenten weiblichen Blick der Europäerinnen auf ihre Geschlechtsgenossinnen im Orient. Denn selbstverständlich stand bei jeder der Abenteurerinnen auch ein Besuch im Harem oder wenigstens im türkischen Frauenbad auf dem Reiseprogramm.
Um Reflexionen des Liebeskonzepts im Werk von Karoline von Günderrode und Lou Andreas-Salomé geht es in „… wie eine Religion zu zweit“. Hilmes favorisiert eine Lesart, die nicht vorschnell das Werk aus der Biographie erklärt, sondern umgekehrt nach der Rückwirkung von Literatur und Kunst auf das Leben fragt. Vor diesem Hintergrund erscheinen Günderrodes lyrische Beschwörungen der romantischen Liebe und ihrer (realen) Verwerfungen als poetische Thematisierung und Problematisierung der Geschlechterbeziehungen, als Suche nach lebbaren Gestaltungen des Verhältnisses von Mann und Frau. Auch Andreas-Salomé, die vielen als Antifeministin galt, versuchte, sich in ihrem Werk Klarheit über das Verhältnis der Geschlechter zueinander zu verschaffen. Ihre Reflexionen stehen in der Tradition romantischer Liebeskonzepte, bei denen das Männliche und Weibliche als zwar gegensätzlich, sich aber dennoch idealtypisch ergänzend gedacht werden. Doch verzichtete sie auf eine Hierarchisierung der Opposition der Geschlechter: Mann und Frau sind prinzipiell gleichwertig. „Lou Andreas-Salomé ist eine unkonventionelle Ergänzungstheoretikerin, denn Männlich und Weiblich sind nicht zwei Hälften eines Ganzen, sondern jeweils eigene Entitäten.“ (S. 75)
Mit den Untersuchungen zu Elsa von Freytag-Loringhoven, 1874 geboren, und zu Unica Zürn, 1916 geboren, werden zwei wenig bekannte Avantgardistinnen neu beleuchtet. Hilmes interpretiert Werk und Künstlerinnenexistenz beider Frauen im Kontext der für die Avantgarde konstitutiven Grenzüberschreitung, bei der Lebenspraxis und Kunst zu einer Einheit verschmelzen. Bei Unica Zürn, die zum Umkreis der französischen Surrealisten gehörte, stehen in den 50er Jahren in Paris entstandene Erzählungen im Mittelpunkt, in denen Leben und Schreiben so ineinander verschränkt werden, dass sich die Grenze zwischen Realität und Fiktionalität verwischt. Bei der exzentrischen Baronesse Freytag-Loringhoven, die in Berlin als Nackttänzerin Furore machte und von 1913 bis 1923 in New York der Dada-Szene um Marcel Duchamps angehörte, ist das Leben als Ganzes eine unablässige künstlerische Selbstinszenierung. Im heutigen Kunstbetrieb fänden ihre teils schrillen Aktionen vermutlich als selbstbewusste Performance und Body Art großen Anklang.
Mehrere motivgeschichtliche Untersuchungen sind den Weiblichkeitsentwürfen in unterschiedlichen Genres und Medien gewidmet. In „Wiederkehr und Verwandlung“ verfolgt Hilmes die Spur der Medea in der deutschen Literatur des 20. Jahrhunderts. Die mythologische Frauengestalt ist zwiespältig; sie ist Kindsmörderin und zugleich Göttin und Heilige. Dabei stehen Medea-Texte von Hans Henny Jahnn, Marie Luise Kaschnitz, Christa Wolf und Heiner Müller im Vordergrund.
Das Kapitel „Die neue Eva – Überlegungen zu Literatur, Weiblichkeit und Technik“ ist eine problemorientierte Studie, in der Utopien aus drei Jahrhunderten zum Thema des künstlichen Menschen behandelt werden. Der jüngste Text ist Angela Carters satirischer Roman The Passion of New Eve, den Hilmes auf seine kulturgeschichtlichen Vorläufer befragt, wobei sie bis zu La Mettries L’homme machine zurück geht. Eine genderorientierte Lektüre der verschiedenen Konzepte des Androiden, des technisch manipulierten Menschen, wie er in der Science-Fiction geschaffen wird, macht deutlich, dass die Entwürfe der Menschmaschine keineswegs geschlechterneutral sind. Dem künstlichen Idealweib, wie es in der Literatur seit dem 19. Jahrhundert auftaucht, steht als monströses männliches Analogon Mary Shelleys Frankenstein gegenüber.
Hilmes schließt ihre Reflexionen zu den Weiblichkeitsbildern mit einer Analyse der Musikvideos der Pop-Ikone Madonna ab. Vielfältige Maskeraden des Weiblichen und ein unablässiges Verwirrspiel um Geschlechteridentitäten machen ihre Videoclips „für die neuere feministische Forschung“ (S. 189) interessant. Bezüge zu den Geschlechterinszenierungen um 1900 wie der Femme fatale lassen sich aufzeigen. Eine subversive Lektüre dieser Phänomene verweist auf Ambivalenzen, auf Grenzverwischungen zwischen Kunst und Trivialität: „Madonnas skandalöse Inszenierungen sind solche Zwitter aus Konsum, Kommerz und Provokation, die rebellische Momente enthalten.“ (S. 196)
Hilmes‘ Gender-Studien erweitern und vertiefen den literarischen Kanon. Sie beleuchten wenig Bekanntes, eröffnen neue Perspektiven und sind aufgrund des lakonischen Tonfalls, mit dem sich die Verfasserin ihrem Gegenstand oft nähert, auch kurzweilig.
URN urn:nbn:de:0114-qn063109
Dr. Gudrun Jäger
Universität Frankfurt, Institut für deutsche Sprache und Literatur II
E-Mail: G.Jaeger@lingua.uni-frankfurt.de
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