Ingrid Galster (Hg.):
Simone de Beauvoir: Le Deuxième Sexe.
Le Livre fondateur du féminisme moderne en situation.
Paris: Honoré Champion 2004.
519 Seiten, ISBN 2–7453–1209–X, € 20,00
Ingrid Galster (Hg.):
Le Deuxième Sexe de Simone de Beauvoir.
Paris: Presses de l’Université Paris-Sorbonne 2004.
365 Seiten, ISBN 2–84050–304–2, € 20,00
Abstract: Aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Erstausgabe von Das andere Geschlecht haben namhafte Wissenschaftlerinnen aus den Gebieten Philosophie, Biologie, Soziologie, Psychoanalyse, Geschichte und Literatur das fast tausendseitige Standardwerk des Feminismus einer akribischen Lektüre unterzogen und dabei versucht, jene Fragen zu rekonstruieren, auf die das Werk bei seinem Erscheinen im Jahr 1949 eine Antwort gab. Die zeitlos scheinende Formel von der Konstruiertheit weiblicher Identität sollte wieder in ihren ursprünglichen Entstehungszusammenhang gestellt, die Autorin aus der mythischen Ferne in die kritische Nähe gerückt werden. Diese kritischen Lektüren sind insgesamt gut dokumentiert und erlauben meines Wissens zum ersten Mal einen Einblick in die Beauvoirsche Werkstatt. Ein weiterer – ebenfalls von Ingrid Galster herausgegebener – Band dokumentiert die Reaktionen, die unmittelbar nach Erscheinen von Le deuxième sexe in der französischen Presse erschienen sind.
Es gibt wissenschaftliche Ideen und Erkenntnisse, die zum selbstverständlichen Fundament unseres Weltbildes geworden sind, obwohl sie dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Die Entdecker dieser Erkenntnisse sind Helden, sie werden verehrt und zu mythischen Gestalten unserer Kultur. Ihre Namen werden zu Metaphern für unsere Weltanschauungen. Dass sich die Erde um die Sonne dreht oder die Zeit sich mit dem Raum verändert, wird auch von Menschen anerkannt, die nie etwas von Galilei oder Einstein gelesen haben.
Diese Verselbständigung zum Gemeinplatz gelingt am besten jenen Ideen, die in einer einzigen Formel, in einem einzigen Satz komplexe Zusammenhänge auf den Punkt bringen. Einer dieser Sätze lautet: „Man kommt nicht als Frau zur Welt: man wird es.“ Dieser Satz gehört zu den unerschütterlichen Gewissheiten der Frauenbewegung, deren Vorstellungen ebenfalls, zumindest in der als ‚westlich‘ bezeichneten Welt, auf dem besten Wege sind, zu Gemeinplätzen zu werden.
Kein Wunder, dass seine Autorin ebenfalls den Status eines Mythos bekommen hat. Der Name „Simone de Beauvoir“ ist zur Chiffre geworden für die intellektuelle, sexuelle, soziale und rechtliche Befreiung der Frau, für die umfassende Analyse und Kritik des Patriarchats, kurz: für die Grundlegungen des modernen Feminismus. Das Buch, in dem dieser Satz 1949 zum ersten Mal schwarz auf weiß zu lesen war, ist zur Bibel der Frauenbewegung geworden. Es wurde in viele Sprachen übersetzt und in unzähligen Auflagen gedruckt. Doch mythische Gestalten haben es an sich, zwar gut sichtbar und leuchtend zu sein, aber gleichzeitig in weite Ferne zu rücken; und die Bibel steht in jedem Bücherschrank, aber gelesen wird sie selten.
Die Paderborner Romanistin und Beauvoir-Spezialistin Ingrid Galster hatte eine wunderbare Idee: Aus Anlass des 50jährigen Jubiläums der Erstausgabe von Das andere Geschlecht hat sie 33 namhafte Wissenschaftlerinnen gebeten, das fast tausendseitige Standardwerk einer akribischen Lektüre zu unterziehen. Als Hausaufgabe verordnete sie den Kolleginnen, jene Fragen zu rekonstruieren, auf die das Werk bei seinem Erscheinen im Jahr 1949 eine Antwort gab oder zu geben versuchte (vgl. S. 14). Die zeitlose Formel von der Konstruiertheit weiblicher Identität sollte wieder in ihren ursprünglichen Entstehungszusammenhang gestellt, dem Gemeinplatz sollte seine Natürlichkeit genommen, die Autorin aus der mythischen Ferne in die kritische Nähe gerückt werden.
Die Ergebnisse dieses Kolloquiums, das 1999 an der Universität Eichstätt stattfand, sind beeindruckend und in vieler Hinsicht überraschend. Zunächst einmal erstaunt die schlichte Tatsache, dass es bis heute keine kritische Ausgabe von Le deuxième sexe gibt. Noch erstaunlicher ist, dass dies offensichtlich bisher kaum jemanden gestört hat. Catherine Viollet zeigt in ihrem zu Unrecht als Annexe angehängten Beitrag (S. 485–502) über die Sichtung des Manuskripts, dass hier kein Grund zur Entwarnung besteht. Die von Beauvoir nicht gerade in Schönschrift hinterlassenen Blätter befinden sich in heillosem Durcheinander, die lückenhaft vorhandenen Typoskripte sind oftmals nur flüchtig von der Autorin korrigiert worden, Fehler haben sich bis ins x-te Auflagenglied fortgesetzt, unterschiedliche Textfassungen konkurrieren miteinander, ohne genau zugeordnet werden zu können, aufschlussreiche Konzeptpapiere wurden noch nie ausgewertet usw. usf. Die Herausgeberin formuliert in ihrer Einführung den Wunsch, dass noch vor (!) dem „centenaire“ eine kritische Edition vorliegen möge (vgl. 17). Meint sie damit Beauvoirs hundertsten Geburtstag in gut zwei Jahren oder etwa erst 2049?
Die nächste Überraschung: Ausgerechnet der desillusionierende Blick auf das Manuskript macht den Mythos noch größer – jedenfalls für jemanden, der tagelang an einer Rezension herumbastelt. In netto elf Monaten hat Beauvoir dieses Buch geschrieben, das dermaßen viel Material aus den Gebieten Philosophie, Biologie, Soziologie, Psychoanalyse, Geschichte, Literatur und Kunst verarbeitet, dass sich heutzutage nur eine interdisziplinäre Equipe von Profis Kapitel für Kapitel an die Lektüre wagt.
Deren Arbeit kann dann allerdings erbarmungslos sein. Der genaue Blick von Spezialistinnen auf Beauvoirs Quellen stellt das Werk nicht nur in seinen historischen und ideengeschichtlichen Kontext, sondern er fördert auch zutage, was die Autorin falsch oder unvollständig rezipierte, was sie schlicht ignorierte bzw. unterschlug. Die Psychoanalytikerin Marie-Christine Hamon verteilt schlechte Noten für den eklektizistischen Umgang mit psychoanalytischen Texten aus zweiter Hand. Historikerinnen konstatieren, dass Beauvoir nur gängige Standardwerke konsultierte und einen marxistisch-dogmatisch verengten Blick auf die Antike warf (Schmitt-Pantel und Wagner-Hasel) oder dass sie den Quellen aus männlicher Feder zu Unrecht mehr traute als denen aus weiblicher (Karin Hausen).
Literaturwissenschaftlerinnen zeigen, dass die Lektüre von Klassikern stark von persönlich motivierten Parteilichkeiten geprägt ist (Annette Lavers für Lawrence, Elizabeth Fallaize für Claudel). Die Philosophin Michèle Le Doeuff weist in einer sehr interessanten Studie nach, wie Beauvoir mit ihrem gut gepflegten Antiamerikanismus den Einfluss der Women’s Rights Movement auf ihr Werk verleugnete.
Diese kritischen Lektüren sind insgesamt gut dokumentiert und erlauben meines Wissens zum ersten Mal einen Einblick in die Beauvoirsche Werkstatt. Die Schlussfolgerungen der Einzelstudien decken sich meistens implizit mit der Einschätzung, die Françoise Héritier explizit am Ende ihres Beitrags über das Kapitel zur Vor- und Frühgeschichte vornimmt: Beauvoir hat oftmals im Detail gesündigt, aber ihre leitende These von der kulturellen Konstruktion von Geschlecht hat auch heute noch vor dem gestrengen Blick der Einzelwissenschaften Bestand. Dass dem so ist, das verdankt sie ihrer methodischen Innovation, die darin bestand, lange vor der Institutionalisierung von „gender studies“ die Kategorie „Geschlecht“ zur Kompassnadel für literatur- und kulturwissenschaftliche Untersuchungen zu benutzen. Hier liegt das große Verdienst von Das andere Geschlecht und der Grund für seine Langlebigkeit. Susan Rubin Suleiman würdigt ausführlich Beauvoirs Vorgehen, und sie zeigt die engen methodischen Verbindungen zwischen Le deuxième sexe und wichtigen literaturwissenschaftlichen Studien im Bereich der Geschlechterforschung der 70er und 80er Jahre auf. Warum aber ist dies nie gebührend von den Erbinnen gewürdigt worden? Suleiman spricht von „Undankbarkeit“ (S. 238). Und Kate Millet, die ebenfalls schon zum Mythos gewordene amerikanische Feministin, die in diesem Band mit einem Beitrag zu Beauvoirs Kapitel „Von der Reife zum Alter“ vertreten ist, scheint es zu bedauern, dass sie diesen Dank erst jetzt expressiv verbis formuliert. Suleimans Erklärung: Beauvoirs wissenschaftliche Revolution besaß für die Feministinnen eine solche Evidenz, ihre Erkenntnisse und ihre Methode waren so einleuchtend, dass sie zum Gemeinplatz wurden – der allen und niemandem zugeordnet werden muss.
Das war 1949 ganz anders, wie ein weiterer – ebenfalls von Ingrid Galster herausgegebener – Band dokumentiert, in dem die Reaktionen versammelt sind, die unmittelbar nach Erscheinen des Buches in der französischen Presse erschienen. Dieses Buch hat bei seinem Erscheinen einen Skandal ausgelöst. Aber nicht aufgrund des revolutionären, das damalige Weltbild in Frage stellenden kühnen berühmten Satzes (s. o.). Nur wenige der zahlreichen Rezensenten und Rezensentinnen haben die wirkliche Leistung von Beauvoir erkannt, die in ihrer konsequenten Unterscheidung zwischen der biologischen und kulturellen Bedeutung des Begriffs Geschlecht besteht. Die meisten halten sich – mit mehr oder weniger Schaum vorm Mund – an den ungeschminkten Darstellungen der weiblichen Sexualität, weiblichen Alltagslebens und an kämpferischen feministischen Passagen auf. Umso beeindruckender sind einige wenige Rezensionen, z. B. die von Maurice Nadeau im Mercure de France (197–202), in der eigentlich – auch aus heutiger Sicht – schon alles gesagt ist, oder die luzide Medienkritik von Colette Audry in Combat (vgl. S. 234–236).
Ein Drittel dieses Bandes (S. 21–114) nimmt die Umfrage ein, die von dem Akademiemitglied François Mauriac im Juni 1949 im Figaro lanciert wurde. Die in gestelzten Worten langatmig formulierte Frage an die Leserschaft kann man etwa so verkürzen: „Darf man in der Philosophie und Literatur offen über Sexualität schreiben?“ Auslöser für diese Initiative war der Vorabdruck des Kapitels zur „initiation sexuelle“ („Erste Erfahrungen“) in Les Temps modernes; aber es ist ganz offensichtlich, dass diese Schrift von Beauvoir nur noch der letzte Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der Katholik Mauriac beabsichtigte eine Generalabrechnung mit dem Existentialismus und der gesamten atheistischen Intelligenzia von Saint-Germain-des-Prés. Insofern geht diese Dokumentation, von der außerdem die meisten Texte nur noch als Kuriosa interessant sind, über Le deuxième sexe hinaus.
Sie macht aber eines sehr deutlich: Dieses Grundlagenwerk des Feminismus ist verankert im Existentialismus. Die Autorin war Philosophin. So wie über dreihundert Jahre vor ihr der Kartesianer Poulain de la Barre seine berühmte Schrift über die Gleichheit der Geschlechter mit einer Reverenz an die philosophische „Basis“ beginnt, so lauten die ersten Sätze des Kapitels zur Geschichte: „Diese Welt hat immer den Männern gehört, alle Gründe aber, die man dafür angeführt hat, scheinen uns unzureichend. Wenn wir jedoch im Lichte der Existenzphilosophie (Hervorhebung L.S.) die vorgeschichtlichen und ethnologischen Gegebenheiten betrachten, können wir begreifen, wie die Hierarchie der Geschlechter zustande gekommen ist.“ (Das andere Geschlecht, S. 69) Ohne das existentialistische Paradigma des „Entwurfs“ wäre das für den Feminismus revolutionäre Paradigma von der kulturellen Konstruktion von Geschlecht in dieser Form nicht denkbar gewesen. Die Tragweite dieser philosophischen Implikationen wird in den Einzelstudien zu wenig ausgeleuchtet. Die versammelten Philosophinnen enttäuschen. Die spannende Frage, ob Beauvoir nicht mit ihrer Übertragung der existentialistischen Philosophie auf die Geschlechterfrage bereits Theoreme der Postmoderne vorweggenommen hat, schimmert ab und zu durch, aber die Auseinandersetzung der Poststrukturalistinnen, z. B. Judith Butler (die unbedingt zum Reigen der Autorinnen gehört hätte), mit Beauvoir wird nur kursorisch und wenig profund in dem Beitrag von Hazel E. Barnes zur „Lesbierin“ thematisiert. Nach der Lektüre dieses Bandes, der künftig zu den Standardwerken gehören wird, bleibt die Erkenntnis: Die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Le deuxième sexe hat erst begonnen.
URN urn:nbn:de:0114-qn063234
Prof. Dr. Lieselotte Steinbrügge
Romanisches Seminar, Ruhr-Universität Bochum
E-Mail: Lieselotte.Steinbruegge@rub.de
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