Stefanie Arend, Ariane Martin (Hg.):
Irmgard Keun 1905/2005.
Deutungen und Dokumente.
Bielefeld: Aisthesis 2005.
321 Seiten, ISBN 3–89528–478–5, € 24,80
Abstract: Der gut recherchierte, zum Teil mit Abbildungen versehene Jubiläums-Band Irmgard Keun 1905/2005 bietet u. a. mit den Dokumentationen der Erstrezeption der frühen Romane Gilgi, eine von uns und Das kunstseidene Mädchen in der Weimarer Republik und der Rezeption der Exilromane in den Zeitschriften Das Wort und Internationale Literatur reichlich bisher schwer zugängliches Material. Die neuen Deutungen weisen zudem bei aller Verschiedenheit auf eine Verschiebung der Parameter in der Keun-Forschung hin: weg vom biographischen Zugriff, hin zu einer stärker erzähltheoretischen Orientierung.
Einen rechten Geburtstags-Band widmen die Herausgeberinnen Stefanie Arend und Ariane Martin der Schriftstellerin Irmgard Keun (6.2.1905–5.5.1982) zu ihrem hundertjährigen Jubiläum. Er darf wohl als das i-Tüpfelchen auf den Publikationen dieses Jahres gelten, die das seit Jahren wachsende Interesse an dieser Autorin spiegeln: Gleich drei Mal erschien Keuns wohl populärster Roman, das Kunstseidene Mädchen; einmal als gebundene Neuausgabe nach dem Erstdruck 1932 bei Claassen, einmal in verbesserter Neuauflage der Editionen für den Literaturunterricht aus dem Hause Klett und erstmals als Hörbuch, neusachlichst gelesen von der überzeugenden Fritzi Haberlandt.
Doch ist das Kunstseidene Mädchen noch nicht Keun, ist die verengte Konzentration auf die Anfänge der Autorin in den späten Jahren der Weimarer Republik nicht gerechtfertigt, dies zeigen die Erlanger Philologin Arend und die Mainzer Literaturprofessorin Martin. Dass es noch verstreutes Material gibt, das zu versammeln sich lohnt; dass in den Tiefen der Archive, in die sonst nur hingebungsvolle Forscher Einblicke wagen, Schätze schlummern, führen eindringlich die Dokumente vor Augen, die sich in diesem Band ein Stelldichein geben.
Die bisher nur vereinzelt und in Auszügen zitierten Rezensionen, die Keuns Erstpublikationen in den frühen 1930er Jahren und die ihrer im Exil veröffentlichten Romane begleiteten, finden sich hier auf den Seiten 61 bis 130 bzw. auf den Seiten 217 bis 237 säuberlich dokumentiert. Die oftmals erwähnte Kurzbesprechung des Romans Gilgi, eine von uns von Kadidja Wedekind aus dem Querschnitt steht neben Kritiken aus dem Vorwärts, der Vossischen Zeitung, der Literarischen Welt, der Bücherwelt, dem, ja genau, Börsenblatt des Deutschen Buchhandels, der Weltbühne, den Velhagen&Klasings Monatsheften, aus der Monatsschrift Die Literatur; der B.Z. am Mittag, dem Berliner Börsen-Courier, den Kassler Neuesten Nachrichten und so weiter und so fort – die Fülle der Pressestimmen vermag anschaulicher als die schieren Verkaufszahlen die enorme Resonanz zu bestätigen, die Keuns Erstling 1931 und sein prompter Nachfolger 1932 hervorriefen, und: sie mag erneut schmerzhaft ins Gedächtnis rufen, welch Reichtum an literarischer Reflexion der nationalsozialistischen Kulturpolitik ab 1933 zum Opfer fiel.
Die Dokumentation der Kommentare Das Wort und Internationale Literatur in den Jahren von 1937 bis 1939 wiederum macht deutlich, dass, bei aller ideologischen Schelte, die Keuns Figurengestaltung zuteil wird, die antifaschistische und emanzipatorische Intention dieser Schriftstellerin grundlegend erfasst worden ist – und dass etliche der dort getroffenen Aussagen für die Diskussionen um die wiederentdeckte Autorin in den 1970er Jahren aktualisiert werden konnten.
Außerhalb der etwa 30 Seiten umfassenden Dokumentation der Erstrezeption 1931 und 1932 in Deutschland wurde eine „Extra-Abteilung“ für den vollständigen Abdruck des Tucholsky-Keun-Briefwechsels von 1932 und des mehr als dreißig Jahre späteren Kommentars Neumanns dazu eingerichtet (vgl. S. 131–136). Tucholsky, der jungen Debütantin Keun mit jeglicher Sympathie zugetan, sprach nur halblaut, dennoch unüberhörbar von Abschreiberei; allzusehr ähnele der Ton des Kunstseidenen Mädchens dem Mundwerk Ernas in Neumanns Karriere. Bisher hat Neumanns abwehrende Geste in seinem Rückblick auch in Forscherkreisen ausgereicht, das Verdachtsmoment zu entkräften; zweifellos noch ausstehende philologisch haltbarere Aussagen dazu könnten durch die hier vorliegende Handreichung befördert werden.
Der leichtfüßige Essay System des Männerfangs (S. 137–141) war schon seit 1983 in dem von Wilhelm Unger herausgegebenen Sammelband Wenn wir alle gut wären unter der Rubrik „Satiren“ zu konsumieren gewesen. Die Editorinnen treffen hier eine eigenwillige Entscheidung, wenn sie ihn als „das früheste Feuilleton der Autorin, das die Forschung kennt“ (S. 137), gleich mehrfach isolieren. Dass es also noch weitere Feuilletons gibt, ist der Formulierung implizit – die Herausgeberinnen verweisen aber nur auf eine andere – übrigens bei Marchlewitz (1999) nachgedruckte – feuilletonistische Arbeit Keuns, die „während der Weimarer Republik“ veröffentlicht wurde. Ihrem Anspruch auf Dokumentarismus zuwiderlaufend, lassen sie Keuns teilweise schon in Ungers Sammlung zusammengeführte Zeitungsgeschichten gänzlich unerwähnt, was zu einem seltsamen „blinden Fleck“ in der Buchaufteilung führt. Was zwischen Abschnitt I – Das Werk der Weimarer Republik – und Abschnitt II – Das Exilwerk – nämlich fehlt, ist genau der Zeitabschnitt, der als großer Widerspruch in Keuns Vita von ihr selbst gerne negiert wurde, durch Häntzschels biographische Forschungen inzwischen aber weitgehend aufgedeckt geworden ist: Keuns Verbleiben im nationalsozialistischen Deutschland zwischen 1933 und 1936, Keuns Schreiben und ihre Publikationsanstrengungen in dieser Zeit, ihr Versuch, Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer zu erwirken. So nachvollziehbar das Bemühen um eine klare Buchgliederung ist, wäre gerade hier zumindest das Benennen dieser schriftstellerischen Zwischenphase richtig und wichtig gewesen.
Leider wird das Versäumnis auch nicht an der nächsten passenden Nahtstelle, der Platzierung der von Stefanie Waldow geleisteten Untersuchung des Mädchen[s], mit dem die Kinder nicht verkehren durften (vgl. S. 145–159) wieder gutgemacht. Im Gegenteil wird der Text ohne viel Federlesens dem „Exilwerk“ subsumiert, obwohl er dies nur im Hinblick auf seinen Erscheinungsort ist. Die Verfertigung der elf (in der Nachkriegszeit kam eine zwölfte hinzu) in sich abgeschlossenen Erzählungen, die 1935/36 in Serie in deutschen Zeitungen erschienen waren und erst durch den Amsterdamer Verlag Allert de Lange als „Roman“ auf den Buchmarkt kamen, schlankweg zu ignorieren, erscheint problematisch. Es ist überfällig, die Genese der Texte, die als Kapitel diesen Roman konstituieren, bei dessen Deutung in Betracht zu ziehen.
Aber Lückensprünge wie diese fungieren letztlich ebenso als Indizien für den gegenwärtigen Stand der Keun-Forschung wie die neuen Interpretationen, die den eigentlichen Schwerpunkt des Bandes ausmachen. Diese sollen, so das Vorwort (S. 7–10), die in den Untersuchungen zu Keun im Übermaß praktizierte „biographische Fixierung“ endlich ablösen und „ihrem schriftstellerischen Werk, seinen ästhetischen Eigenarten, kulturgeschichtlichen Kontexten“ (S. 7) die gebührende Achtung zollen.
Tatsächlich ist es Martin und Arend gelungen, hier mit fast schon konventionell zu nennenden Deutungsmustern zu brechen und eine erlesene Auswahl an Beiträgen zusammenzustellen. Diese reflektiert einerseits in ihrer methodischen Differenz den Fortschritt, den die Keun-Forschung in einigen Bereichen genommen hat, zeigt aber auch deutlich, wo noch erheblicher Untersuchungsbedarf vorhanden ist. Während also die Aufsätze von Urte Helduser (S. 13–27) und Anne Fleig (S. 45–60) zu Gilgi bzw. dem Kunstseidenen Mädchen mittlerweile auf einer verfeinerten Kriterienbildung aufbauen dürfen, die nicht zuletzt durch Sabina Beckers Dokumentation der Neuen Sachlichkeit und Barndts Dissertation zu Sentiment und Sachlichkeit neue Impulse empfing, müssen Bernhard Spies und Gerhart Pickerodt noch entlang einer Handlungsparaphrase überhaupt erst eine Klärung der Figurenrelationen vornehmen, bevor sie die speziellen Angriffspunkte der Satire in D-Zug Dritter Klasse (Spies, S. 183-204) und Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen (Pickerodt, S. 259 extrapolieren können.
Augenfällig wird bei einer Reihe von Aufsätzen, dass die Narratologie Genettes nicht nur terminologisch ihre Spuren hinterlassen hat. Der sprachlichen Konstruktion der Texte wird eine ungleich höhere Aufmerksamkeit zuteil als noch in den Monographien der 1990er Jahre; eine begrüßenswerte Entwicklung, weist sie doch direkt in den Kern Keunschen Schaffens hinein. Eine Pioniertat ist hier sicherlich Stephanie Waldows von Benjamin inspirierte Lektüre des Mädchen[s], mit dem die Kinder nicht verkehren durften (S. 145-159). Erstmals gilt hier dem kindlichen „Sprachgestus als sprachreflexive [r] Erzählform“ das ausschließliche Augenmerk. Es sind Detailanalysen wie diese, die bislang Mangelware im Keun-Geschäft waren.
Um so löblicher die Lieferung der Keun-Spezialistin Doris Rosenstein: dem soliden Bestand an Sekundärliteratur über Nach Mitternacht, dessen Urgrund immer noch die Analyse Gert Sautermeisters darstellt, fügt sie eine Aufschlüsselung des „Erzählkonzepts“ (S. 161) hinzu, die neue Perspektiven auf die spezifisch narrative Leistung Keuns eröffnet (S. 161-181).
Ebenso erfrischend ist der Beitrag von Thorsten Unger, der den bis dato fast unbemerkten schmalen „Erinnerungsband“ Keuns, die Bilder und Gedichte aus der Emigration, einer Sichtung unter dem Blickwinkel „Erinnerungsarbeit“ (S. 241) unterzieht. Als Einstieg in die unerforschte Nachkriegsphase der literarischen Produktion Irmgard Keuns bietet dieser Beitrag Stoff für die Herstellung dringend entbehrter Querverbindungen zwischen Keuns späten Texten und ihrem Exilwerk, wie sie schon von Stephan Braese 1998 angelegt worden waren.
Die biographische - und schöpferische - Leerstelle zwischen Keuns letztem Exilroman, Kind aller Länder, und ihren ersten Hörspielproduktionen nach dem Zweiten Weltkrieg versucht Keun selbst 1946 und 1947 in den Briefen an Hermann Kesten zu füllen, die dankenswerter Weise (neben etwas privateren Briefen an Heinrich Mann) vollständig in die Dokumentation aufgenommen wurden (S. 273–308). Fünf dieser insgesamt zehn Briefe gab es schon (mit erheblichen Kürzungen) in Wenn wir alle gut wären zu lesen, und zwar inklusive Lektüreanleitung: „Briefe aus der inneren Emigration“ waren sie dort überschrieben.
Zum Spektrum der Stimmen über das Werk zählen neben den genannten Autoren noch Dirk Niefanger mit einem Versuch, Keuns Gilgi und Kracauers Ginster miteinander korrespondieren zu lassen (S. 29–44), und Walter Delabar mit einem, da er die jüngsten produktiven Diskurse über diesen Text außer acht lässt, weniger ergiebigen Aufsatz über Kind aller Länder (S. 205–216). Damit ist Keuns Werk – bis auf die späteste Kurzprosa – abgedeckt. Martin und Arend begründen diese Auslassung mit Keuns eigenen Worten: „Gut kann ich kurze Sachen nie schreiben, weil ich mich da nicht ausbreiten kann. […] Ich kann nur Romane und hab‘ auch nur daran Freude.“ (S. 9)
Sie verhehlen aber auch nicht, dass es proportional zu diesen von jeher vom Publikum geschmähten Skizzen Keuns eben auch keine nennenswerte Kritik gibt. Fast wie zur Entschädigung für den fehlenden Text warten sie mit einer weiteren Kostbarkeit für den Bücherliebhaber auf: den Reproduktionen der Umschlagseiten der Erstausgaben von D-Zug Dritter Klasse (1938), Nach Mitternacht (1937), Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften (1936) und Das kunstseidene Mädchen (1932). Diese sowie die immer wieder gerne gesehenen Porträts der jungen und der mittleren Keun (also der Weimarer und der Exil-Schriftstellerin) und ein bezeichnendes Foto des mit Koffern reisenden Kesten sorgen für das zeitgeistige Kolorit dieses Kompendiums der deutschen Keun-Rezeption 2005.
URN urn:nbn:de:0114-qn063121
Beate Kennedy
Kiel/Christian-Albrechts-Universität/Lehrbeauftragte am Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien
E-Mail: Beate.Kennedy@email.de
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