Christine Weinbach:
Systemtheorie und Gender.
Das Geschlecht im Netz der Systeme.
Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2004.
206 Seiten, ISBN 3–531–14178–3, € 24,90
Abstract: Lange Zeit spielte weder die Kategorie Gender für die Systemtheorie noch die systemtheoretische Gesellschaftskonzeption für die Genderforschung eine Rolle. Christine Weinbachs Buch stellt die erste Mongraphie dar, die beide Forschungsansätze verbindet und dabei an Forschungen aus der Attributionstheorie anknüpft. Es gelingt Weinbach so zu zeigen, auf welcher Ebene Gender gesellschaftlich relevant ist. Ihr Buch stellt ein ambitioniertes Projekt dar, das den Weg ebnet für weitere systemtheoretisch konzipierte Genderforschung.
Es wundert nicht, dass es lange gedauert hat, bis Systemtheorie und Gender-Forschung zueinander gefunden haben. Während der so genannte „kleine Unterschied“ für die Geschlechterforschung per definitionem einen großen Unterschied macht, postuliert die Systemtheorie, dass dieser für die gesellschaftliche Differenzierung irrelevant sei. Die Kategorie Geschlecht spielt daher in Luhmanns Theoriearchitektur keinerlei Rolle. Thematisiert hat Luhmann Geschlecht auch nur einmal in seinem äußerst polemischen Aufsatz „Frauen, Männer und Georg Spencer Brown“.
Mit einer solchen Theorie, die zunächst als äußerst gender-resistent erscheint, lässt sich natürlich keine Patriarchatsthese aufrecht erhalten und nur schwerlich soziale Ungerechtigkeit thematisieren. Doch mehren sich in den letzten Jahren die Versuche, beide Theorie- bzw. Forschungsansätze zu koppeln. Nach einer Reihe von Sammelbänden erscheint nun mit Systemtheorie und Gender die erste Monographie, die sich einer systemtheoretisch fundierten Geschlechterforschung widmet. Das Ergebnis ist vielversprechend und für beide Seiten erhellend. Die Gender-Forschung kann die Systemtheorie auf einen blinden Fleck aufmerksam machen, und diese erhält im Gegenzug durch die Systemtheorie Kategorien, die ihr helfen, die Ebene, auf der Geschlechterdifferenzen greifen, präziser zu beschreiben. Vor allem aber ermöglicht eine systemtheoretisch fundierte Gender-Forschung eine Umorientierung von der Konzentration auf das Subjekt/Individuum hin zu einer stärker soziologischen Perspektive. Kaum eine Theorie hat ein so explizit ausformuliertes Konzept von Gesellschaft und kann das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft so präzise und unideologisch beschreiben wie die Systemtheorie.
Weinbach steht in ihrem Einstiegskapitel in die systemtheoretischen Grundbegriffe vor dem Dilemma, sich entscheiden zu müssen, ob sie sich an ein systemtheoretisch belesenes Publikum wenden will oder nicht. Der Mittelweg, den sie einschlägt, ist etwas unbefriedigend. Denn so bleiben einige Begriffe dieser sperrigen Theorie doch noch undeutlich, wie etwa der für die Arbeit so wichtige Begriff der Kontingenzformel.
Im zweiten und dritten Kapitel wird im Folgenden Geschlecht im Netz der Systeme situiert. Die vielleicht zentrale Theorieentscheidung der Systemtheorie ist die Trennung von Kommunikation und Bewusstsein. Beide operieren strukturell gekoppelt, aber eben voneinander getrennt. Christine Weinbach führt auf beiden Referenzebenen Geschlecht als eine zentrale erwartungssteuernde Kategorie ein. Während viele Cultural-Studies-Ansätze ebenso Kategorien wie Klasse, Religion, Alter oder Ethnizität ins Spiel bringen, postuliert die Autorin, dass allein die Kategorie Geschlecht auf allen Sinnebenen einen signifikanten Unterschied macht.
Die These von der Geschlechterrollenidentität des Bewusstseins besagt, dass jegliche Identifizierung des Bewusstseins mit dem eigenen Körper im Rahmen einer geschlechtlichen Wahrnehmung stattfindet. Das Bewusstsein kann nicht umhin, sich selbst als Mann / Frau wahrzunehmen bzw. dann, wenn es sich nicht als Mann oder Frau identifiziert, sich als abweichend von Geschlechterrollenerwartungen zu begreifen. Die Orientierung an der Geschlechterrollenidentität dient dem Bewusstsein als stabiler Bezugspunkt, an dem es seine eigenen Rollenerwartungen und biographischen Lebensentwürfe orientiert. An die These, dass die Selbstbeobachtung des Bewusstseins sich an Geschlechterrollenerwartungen ausrichtet, schließt Weinbach Ergebnisse aus der Attributionsforschung an. Sie beruft sich auf Forschungsergebnisse, die besagen, dass sich Männer vor allem als instrumentell und Frauen vor allem als expressiv beschreiben, und übersetzt diese beiden Selbstbeschreibungen in die systemtheoretischen Kategorien Handeln und Erleben. Ist bis hierher der Nachvollzug noch einfach, so wird es mit der Einführung weiterer Unterscheidungen zur Klassifizierung weiblicher und männlicher Selbstbeschreibungen (intrinsische vs. extrinsische Motiviertheit, konstanter vs. variabler Umweltbezug) äußerst komplex. Und um zu verstehen, warum Erleben und Handeln wiederum mit unterschiedlichen Erwartungstypen (Ergebnis-Folge-Erwartung vs. Handlungs-Ergebnis-Erwartung) korrespondieren, bedarf es schon einer äußerst aufmerksamen Lektüre.
Wenn man Weinbachs überzeugender These folgt, dass Bewusstseinssysteme je nach Geschlecht unterschiedliche Erwartungen an sich adressieren und auch auf unterschiedliche jeweils zugeschnittene Selbstbeschreibungsmuster zurückgreifen, erscheint es nicht weiter verwunderlich, dass Geschlechtsunterschiede auch auf Ebene der Kommunikation eine Rolle spielen. Nur eben nicht auf der Ebene der Funktionssysteme, sondern vor allem auf der Interaktionsebene. Der theoretische wie soziale Ort, an dem dies geschieht, ist die Person. Personen fungieren als Erwartungsbündel. Und ebenso wie Bewusstseinssysteme sich auf genderspezifisch unterschiedliche Schemata beziehen, so werden auch an Personen von der Kommunikation im Verstehensprozess jeweils geschlechtstypische unterschiedliche Erwartungen adressiert. Als Stichworte seien hier nur kurz die bekannten Forschungsergebnisse benannt, nach denen Männer in Gruppen tendenziell eher die unterschiedliche Perspektive von Alter und Ego betonen, Frauen dagegen meist kommunikativ auf die gemeinsame Umweltperspektive abzielen. Im Weiteren vergleicht Weinbach verschiedene männliche und weibliche Stereotype und kommt zu dem Ergebnis, dass im Gegensatz gegensätzlich zu Männerstereotypen Klassen- und Schichtmerkmale für die Definition von Frauenstereotypen keine Rolle spielen. Die unterschiedliche Struktur männlicher und weiblicher Stereotypen wird besonders deutlich, wenn sie im Zusammenhang der geschlechtlichen Arbeitsteilung analysiert wird. Im vierten Kapitel findet Weinbach in der Differenz weiblicher und männlicher Stereotypen eine Erklärung für den geringeren Frauenanteil in Chefetagen: Aufgrund der Identifizierung weiblicher Rollen mit variablem Umweltbezug und der Identifizierung männlicher Rollen mit konstantem Umweltbezug wird Männern im Berufsleben eher Professionalität unterstellt als Frauen.
Christine Weinbachs Fusion von System- und Attributionstheorie stellt ein extrem interessantes Forschungsprojekt auf hohem Reflexionsniveau mit vielerlei Anschlussmöglichkeiten dar. Trotz seiner Innovationskraft hätte dieses Buch – zumindest nach meinem Geschmack – noch bessere Selektionsleistungen treffen können. Natürlich liegt es nahe, den eigenen Ansatz mit anderen zu vergleichen (in diesem Fall mit den Theorien von Beate Krais, Gesa Lindemann und Judith Butler), und dennoch hätte dieser Vergleich zugunsten einer ausführlicheren, langsameren Gedankenentwicklung in den spannenden, aber doch sehr komplexen Kapiteln zwei und drei aufgegeben werden können, da er nur bedingt neue Informationen enthält.
URN urn:nbn:de:0114-qn063135
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