Jürgen Budde:
Männlichkeit und gymnasialer Alltag.
Doing Gender im heutigen Bildungssystem.
Bielefeld: transcript 2005.
268 Seiten, ISBN 3–89942–324–0, € 25,80
Abstract: Die Arbeit von Jürgen Budde ist eine qualitative Studie, die die im Rahmen einer schulbegleitenden Forschung erhobenen Daten – Unterrichtsprotokolle und Videoaufzeichnungen - mit Blick auf die männlichen Schüler auswertet. Für seine Interpretationen greift der Autor vor allem auf das Konzept der „Masculinities“ von Robert Connell und die Theorie Pierre Bourdieus zurück. Ein zentrales Ergebnis von Buddes Auswertungen ist, dass das Erleben von Unterordnung für die Mehrzahl der männlichen Schüler eine entscheidende Sozialisationserfahrung darstellt. Trotz einiger methodischer Schwächen ist das Buch wegen seiner detailreichen Analysen, die die Generierung von Männlichkeit im schulischen Alltag nachvollziehbar machen, sowohl für Wissenschaftler/-innen als auch Praktiker/-innen im besten Sinne des Wortes aufschlussreich.
Buddes Ausgangspunkt ist die These, dass Männlichkeit nicht eine biologische Gegebenheit ist, sondern vielmehr „eine sozial konstruierte, geschlechtliche Situierung“ (S. 10). Er fragt danach, was Jungen eigentlich tun, um als männlich anerkannt zu werden. Ihn interessiert dabei auch, ob es Situationen gibt, in denen Schüler von der üblichen zweigeschlechtlichen Ordnung abweichen: Lassen sich möglicherweise „Durchkreuzungen“ und „Entdramatisierungen“ (S. 12) der tradierten Konstruktion von Männlichkeit finden? Mit Foucault und Butler skizziert der Autor den Zusammenhang von Macht und Subjekt sowie die geschlechtliche (Selbst-)Identifizierung innerhalb der heterosexuellen Ordnung. Unabdingbarer Bestandteil zur Aufrechterhaltung dieser Ordnung ist das Verbot von Homosexualität. Dieses Tabu wird von Budde als wesentliches Konstitutionsmoment von Männlichkeit markiert. Zentral für das Verständnis des Autors von Männlichkeit ist die von Robert Connell (1999) beschriebene „hegemoniale Männlichkeit“. Danach bedarf jede Männlichkeit zu ihrer Herstellung der hierarchisierenden Abgrenzung gegenüber Weiblichkeit und der Distanzierung von Inszenierungen, die als ‚nicht richtig männlich‘ und somit als ‚weiblich‘ angesehen werden. Männlichkeit wird nicht als subjektive Eigenschaft oder individuelle Präsentation begriffen, sondern als ein Bündel von „in Gendering-Prozessen hergestellte[n] Strukturen“ (S. 34), die sowohl auf persönlicher als auch auf institutioneller Ebene wirksam werden. Für den Bereich Schule sieht Budde eine „diskrete, aber hochwirksame Separierung“ der Geschlechter: Vielfach kann ein Verbleiben der Schülerinnen und Schüler in geschlechtshomogenen Gruppen und die klassenräumliche Aufteilung in „Geschlechterreviere“ (S. 35) beobachtet werden. Buddes Schwerpunkt liegt auf der Erforschung der Binnenrelation von Männlichkeiten. Mit Connell werden vier Handlungsmuster unterschieden: hegemoniale, komplizenhafte, marginalisierte und untergeordnete Männlichkeit – wobei die komplizenhafte Männlichkeit in besonderer Weise dazu beiträgt, die eindeutige Geschlechtszugehörigkeit durch solidarische Aktionen innerhalb der Jungengemeinschaft abzusichern. Die Frage, woher die hegemoniale Männlichkeit ihre scheinbar unerschütterliche Stabilität bezieht, wird mit dem Verweis auf die von Connell so genannte „patriarchale Dividende“ (S. 39) beantwortet, die durch beständiges Wiederherstellen von legitimer Männlichkeit erworben werden müsse.
Um genauer zu fassen, wie „die Vermittlung zwischen dem System hegemonialer Männlichkeit und den Individuen vonstatten geht“ (S. 39), greift Budde auf den Habitus-Begriff von Bourdieu zurück. Er fragt nach unterschiedlichen Habitusausformungen der Schüler und danach, wie im schulischen Rahmen symbolische Herrschaft begründet und aufrechterhalten wird bzw. ob sie durch „Transformation von Männlichkeit“ (S. 47) destabilisiert oder einfach nur (besser) verschleiert wird. Modernisierte Männlichkeiten in Form von Connells „transnational business masculinities“ (S. 54), die den Anforderungen eines flexibilisierten Arbeitsmarktes entsprechen, bieten, so Budde, jedenfalls kaum Hoffnung auf Enthierarchisierung im Geschlechterverhältnis. Die „Krise“ (S. 50 f.) der Männlichkeit scheint ihm daher auch mehr herbeigeredet als tatsächlich existent zu sein.
Am Ende seines Theoriekapitels reformuliert Budde Connells Konzept von Männlichkeiten insbesondere hinsichtlich einer klaren Trennung zwischen untergeordneter Männlichkeit, die an der Durchsetzung ihrer Absichten gehindert wird, deren geschlechtlicher Status als Junge/Mann jedoch anerkannt bleibt, und marginalisierter Männlichkeit, die vom hegemonialen System z. B. mittels des Homosexualitätsverdachtes ausgeschlossen wird.
In seinem Methodenkapitel diskutiert Budde die Schwierigkeit, bei der Entwicklung seiner Definition von Männlichkeit der Reifizierung zu entgehen (S. 78 f.). Er versucht, dies durch die Theoretisierung seiner Vorannahmen zu erreichen, und schreibt, „dass zur Entwicklung eines systematischen Rasters wissenschaftliche und alltagstheoretische Vorkenntnisse zur Konstruktion von Männlichkeit genutzt und eben nicht negiert werden“ (S. 81). Buddes dann folgenden Explikationen erinnern an die grounded theory von Glaser/Strauss (1967), auf die er sich aber nicht bezieht: „Die Kriterien, die anzeigen, inwieweit eine Interaktion als Konstruktion von Männlichkeit verstanden wird, stammen aus dem Material selber. So können bestimmte Handlungen als männlich definiert werden, weil sie strukturell die Kriterien von Männlichkeit erfüllen und nicht ausschließlich, weil beispielsweise ein Vorname auf Männlichkeit hindeutet.“ Diese und auch seine anschließende Definition der „männlichen Absicht“ als „alles […], was die patriarchale Dividende sichert oder erweitert“, erscheinen mir aus zwei Gründen schwierig: Zum einen erklärt Budde nicht, was er unter „Absicht“ versteht – man kann nur vermuten, dass er hier an den bourdieuschen Begriff des Interesses anschließt. Zum anderen wäre zu fragen, was demgegenüber denn eine strukturell weibliche Absicht wäre? Und ob sich solche dann nicht auch bei Jungen finden ließe? Dies wären Fragen für Buddes Untersuchung gewesen, die davon weggeführt hätte, dass letztendlich doch wieder Jungen und Männlichkeit gleichgesetzt werden, was durch die Einengung des Fokus auf Schüler nahegelegt wird.
Auf über 140 Seiten beschreibt und systematisiert Budde im empirischen Teil seiner Arbeit verschiedene Formen des „Doing Gender im heutigen Bildungssystem“. Akribisch zeichnet er anerkannte Inszenierungen von Männlichkeit nach und stellt ihnen weniger erfolgreiche Strategien in der Erlangung von männlichkeitsbildenden Kapitalien gegenüber. Die Erkenntnis, dass im System hegemonialer Männlichkeit Unterordnung für die meisten Jungen eine sich in den Körper einschreibende Sozialisationserfahrung darstellt, ist ein zentrales Ergebnis von Buddes Interpretationen. Dies wird vor allem in Kapitel 4, „Interaktionen der Schüler“, deutlich, das sich schwerpunktmäßig mit der „Binnenrelation von Männlichkeiten“ (S. 91 f.) auseinandersetzt und in dem der Unterabschnitt zu „Hierarchie, ‚Wir‘-Gruppe und Entwertung“ viel Raum einnimmt. Auch der „Kontakt zu den Mädchen“ wird kurz behandelt, dabei ist der Abschnitt „Männlichkeit in gemischtgeschlechtlichen Interaktionen“ u. a. deshalb spannend, weil hier als männlich geltende Strategien der Interessensdurchsetzung von Mädchen sichtbar werden, z. B. in Form von Dominanz im Gespräch, aber auch in Form von Schlagen oder Schubsen.
Im fünften Kapitel geht es zunächst um Formen des „Undoing Gender“ im schulischen Kontext, bei dem die geschlechtliche Inszenierung gegenüber dem Schülerinteresse, Unterricht und Klassenarbeiten möglichst glimpflich zu überstehen, in den Hintergrund rückt. Ein weiterer Abschnitt widmet sich den institutionellen schulischen Bedingungen, die teilweise zur Entdramatisierung, teilweise zur Dramatisierung von Geschlecht beitragen. Der letzte Abschnitt setzt sich mit dem „Gendering durch Lehrkräfte und Unterricht“ auseinander, in dem unter dem Stichwort „Zwischen Ironie und Entwertung: der Lehrer als Kumpel“ (S. 182 f.) u. a. grenzüberschreitendes, sexualisierendes Verhalten von (männlichen) Lehrkräften schlaglichtartig beleuchtet und in seiner Bedeutung für die Geschlechterkonstruktion analysiert wird. In weiteren Abschnitten werden protegierendes Verhalten von weiblichen Lehrkräften gegenüber Mädchen und die Dramatisierung von Geschlecht in einer Unterrichtsstunde zum Thema Koedukation diskutiert. Buddes Fazit im Hinblick darauf, wie Jungen mit den institutionellen Bedingungen von Schule umgehen, ist, „dass die Wiederherstellung männlicher Hegemonie eine der wesentlichen Antwortstrategien der Schüler darstellt“ (S. 213).
Im Anschluss an dieses wenig Hoffnung machende Resümee hält Budde im nächsten Kapitel Ausschau nach positiv deutbaren „Transformationen von Männlichkeiten“ (S. 213 f.): So wird an verschiedenen Beispielen verdeutlicht, dass die selbstverständliche Legitimiertheit männlicher Verhaltensmuster zunehmend in Frage steht. Budde weist darüber hinaus enthierarchisierende, zum Teil spielerische Inszenierungen und Interaktionen nach: So schildert er z. B. eine Paartanz-Szene von zwei Jungen und das Anlegen künstlicher roter Fingernägel durch einen Schüler. Auch wenn, so Budde, derartige Geschlechterparodien letztendlich der Bestätigung der heterosexuellen Ordnung dienen, konstatiert er dennoch, „dass ein Rest subversiver Freude bestehen [bleibt], eine Abweichung, die sich dem normativen System entzieht“ (S. 230). Buddes ernüchterndes Fazit im Schlusskapitel lautet allerdings, dass sich zwar ein Transformationsprozess andeutet, aber dennoch „das System hegemonialer Männlichkeit bisher relativ stabil ist und auf einen zu weiten Teilen tradierten männlichen Habitus zurückgreifen kann“. Neue Männlichkeiten sind demnach im schulischen Alltag noch kaum in Sicht.
URN urn:nbn:de:0114-qn063211
Barbara Scholand
Universität Hamburg, Fachbereich Erziehungswissenschaften
E-Mail: scholand@erzwiss.uni-hamburg.de
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