Aspekte der Erwachsenenbildung in qualitativer Forschung

Rezension von Heide von Felden

Anne Schlüter (Hg.):

„In der Zeit sein …“.

Beiträge zur Biographieforschung in der Erwachsenenbildung.

Bielefeld: W. Bertelsmann 2005.

148 Seiten, ISBN 3–7639–3230–5, € 21,90

Abstract: Das Buch gibt interessante Einblicke in verschiedene Projekte, die am Lehrstuhl für Erwachsenenbildung an der Universität Duisburg-Essen entstehen. Untersucht werden insbesondere Karriereverläufe von weiblichen Führungskräften, Aspekte der Arbeit an Volkshochschulen und die Frage, wie Berufsrückkehrerinnen mit dem Faktor Zeit umgehen.

Der vorliegende Band ‚In der Zeit sein …’ Beiträge zur Biographieforschung in der Erwachsenenbildung ist als Band 3 der Reihe „Weiterbildung und Biographie“ erschienen. Er ist im Arbeitsbereich der Professur von Anne Schlüter entstanden, die als Herausgeberin fungiert.

Die Formulierung „In der Zeit sein“ dient als Klammer für eine Anzahl unterschiedlicher Beiträge, die im Rahmen der Forschungsprojekte „Bildungs- und Karrierebiographien in der Erwachsenenbildung“ und „Qualitätsentwicklung in der Weiterbildung“ erarbeitet wurden. Für diese sehr unterschiedlichen Beiträge wirkt der gewählte Rahmen etwas konstruiert, da das Thema Zeit nur in einigen Beiträgen explizit im Mittelpunkt steht. So wird das Potential, das in der Thematisierung von Zeit liegt, in den Beiträgen nicht ausgeschöpft.

Zu Beginn entfaltet Anne Schlüter in ihrem Beitrag „In der Zeit sein …“ eine Reihe von Aspekten, die die Kategorie Zeit vor dem Hintergrund der Biographieforschung beinhalten. Biographieforschung, die sich mit Prozessen im Rahmen von Lebenszeit befasst, lenke die Aufmerksamkeit auf genuin temporale Strukturen. Mit diesem Forschungsansatz könne analysiert werden, wie Menschen mit Zeit umgehen, wie sie sie verwenden und unterschiedlich gewichten. „In der Zeit sein“ bedeute darüber hinaus auch, gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen zu genügen bzw. entsprechenden antizipierten Erwartungen Folge zu leisten. Mit dem Postulat des „Lebenslangen Lernens“ sähen sich die Menschen verstärkt damit konfrontiert, effektiv mit Zeit umzugehen, nach Leistung zu streben und ständig Lernanstrengungen leisten zu müssen. Die Biographieforschung sei in der Lage, gesellschaftliche Normvorstellungen wie diese in ihren Analysen von Lebenserzählungen zu erfassen und Aussagen über die Formen zu machen, in denen Menschen diese Vorstellungen individuell verarbeiten. Und der Erwachsenenbildung – so Schlüter – komme die Aufgabe zu, Menschen zu biographischem Lernen anzuregen.

Die ausführliche Einleitung vermag trotz ihrer Bemühung um eine inhaltliche Klammer die verschiedenen Beiträge eigentlich nicht zu integrieren, denn diese thematisieren überwiegend verschiedene Aspekte der allgemeinen Erwachsenenbildung wie die Relevanz biographischer Arbeit in Seminaren der Erwachsenenbildung, die Situation von nebenberuflichen Lehrkräften an Volkshochschulen, das Image der Volkshochschulen oder Karrierebiographien von Leiterinnen an Volkshochschulen. In zwei Beiträgen werden tatsächlich Aspekte von Zeit behandelt, und zwar am Beispiel der Frage, wie Berufsrückkehrerinnen oder Mentorinnen in ihren Lebensberichten mit Zeit umgehen. Allerdings beinhalten alle Beiträge einiges an Anregungen für die Diskussionen in der Erwachsenenbildung.

Berufsrückkehrerinnen und ihr Umgang mit Zeit

Cornelia Feider etwa zeigt in ihrem Beitrag „Sinnvolle biographische Zeit als paradoxe Erfahrung“ anhand eines Fallbeispiels, wie die Übernahme elterlicher Deutungsmuster im Umgang mit Zeit die Biographie prägt und die Protagonistin nicht in der Lage ist, neuen Anforderungen mit einer gewandelten Einstellung zu begegnen. Das Fallbeispiel stammt aus einem Projekt, in dem untersucht wird, welche Prozesse bei Berufsrückkehrerinnen nach einer Qualifizierungsmaßnahme einen längerfristigen Erfolg oder Misserfolg begründen. Cornelia Feider hat narrative Interviews geführt und sie nach dem narrationsstrukturellen Verfahren nach Fritz Schütze ausgewertet. Interessant ist an dem dargestellten Beispiel die paradoxe Struktur der Protagonistin, die aufgrund von Effektivitätsgesichtspunkten und Aufstiegsaspirationen verschiedene Berufsalternativen verwirft, um die Zeit sinnvoll zu nutzen und genau das aus denselben Gründen nicht kann. In diesem Beitrag fungiert Zeit als Inhalt von Deutungsmustern im Zusammenhang mit der Problematik, diese Deutungen nicht ändern zu können. Der biographische Blick auf den Umgang mit Zeit bekommt hier eine spezifische Ausrichtung, da Zeit als Katalysator gesellschaftlicher Zuschreibungen wirkt.

Biographische Arbeit in Seminaren der Erwachsenenbildung

Nicole Justen dagegen greift in ihrem Beitrag “ (K)eine Zeit für ‚Ich-Geschichten‘. Zur Relevanz biographischer Arbeit in der Erwachsenenbildung“ nicht die Frage nach Zeitdimensionen auf. Sie fragt vielmehr danach, welche Bedeutung biographische Arbeit in Seminaren der Erwachsenenbildung für die Teilnehmenden hat, welche Erwartungen an den Besuch dieser Seminare geknüpft sind und ob die biographische Arbeit in Seminaren tatsächlich Einfluss auf den Lebenslauf und die Bildungsprozesse von Teilnehmenden haben kann. Die Fragestellung verspricht eine interessante Untersuchung. Frau Justen beabsichtigt, die Wirklichkeitskonstruktionen von Teilnehmenden nach dem Besuch solcher Kurse mit Hilfe narrativer Interviews zu erfassen, um den Charakter biographischen Lernens durch Seminare der Erwachsenenbildung genauer bestimmen zu können.

Volkshochschulen: Professionalität und Imageproblem

In ihrem Beitrag „Neue Zeiten für nebenberuflich Lehrende an der Volkshochschule“ befasst sich Michaela Bleischwitz mit dem Thema Professionalität von nebenberuflich Lehrenden an Volkshochschulen. Sie arbeitet an einem Projekt, in dem Kursleitende nach dem Besuch einer „Erwachsenenpädagogischen Grundqualifizierung“, die vom Landesverband der Volkshochschulen in Nordrhein-Westfalen angeboten wird, mithilfe problemzentrierter Interviews nach ihrem professionellen Selbstverständnis befragt werden. In ihrem Beitrag stellt sie das Fallbeispiel einer Interviewpartnerin dar, die bereits seit 20 Jahren Kurse an der Volkshochschule gibt. Deutlich wird an diesem Beispiel der Zusammenhang von biographischen Erfahrungen und zeitgeschichtlichen Einflüssen auf die Ausgestaltung der Rolle als Lehrende. Zwar realisiert die Interviewte neue didaktische und lerntheoretische Essentials, die sie in der Fortbildung kennengelernt hat, sie bleibt aber dennoch skeptisch. Die Untersuchung von Michaela Bleischwitz verspricht wichtige Anregungen für die Diskussion um die Professionalität von Kursleitenden und die Ausgestaltung von Fortbildungen in diesem Rahmen.

„Zeit zum Umdenken: Das Image der Volkshochschulen“ ist der Titel des Beitrages von Andrea Thiele. Ausgehend von Untersuchungen, nach denen das Image der Volkshochschulen in der breiten Bevölkerung eher problematisch sei – man spreche von einem „nicht qualifizierten Angebot“, von „niedrigem Kursniveau“, von „heterogener Teilnehmerstruktur“ – hat Andrea Thiele u. a. Experteninterviews mit dem Direktor des Deutschen VHS-Verbandes und mit dem Direktor des Landesverbandes der VHSen in Nordrhein-Westfalen zum Imageproblem der Volkshochschulen geführt. In Auswertung der Interviews und der einschlägigen Literatur formuliert Andrea Thiele Vorschläge in Hinsicht auf trägerbezogene, bevölkerungsbezogene und strukturelle Konsequenzen und macht damit auf die Notwendigkeit eines umfassenden Marketingkonzeptes aufmerksam.

Karrierebiographien von Frauen

Ulrike Nollmann nimmt in ihrem Beitrag „Zeiten zum Leiten – Karrierebiographien von Leiterinnen an Volkshochschulen in NRW“ Lebensverläufe von Frauen und deren Auseinandersetzung mit beruflichen Aufstiegsaspirationen in den Blick. Um unterscheidbare Karrierewege in Form einer Typologisierung zu bestimmen, hat sie narrative Interviews mit Leiterinnen von Volkshochschulen in NRW geführt. In Auseinandersetzung mit den vier Haupttypen, die Claudia Schünemann in ihrer Untersuchung (2004) zur Frage nach biographischen Ressourcen von Frauen in Führungspositionen ermittelt hat, legt Ulrike Nollmann anhand eines Fallbeispiels sehr nachvollziehbar dar, dass eine Erweiterung der Typenbildung notwendig ist. Während Schünemann als Typ I „Karriere auf geradem Weg“, als Typ II „Karriere, um etwas zu bewegen“, als Typ III „Karriere als Reaktion auf das Verhalten der Herkunftsfamilie“ und als Typ IV „Karriere als Folge eines externen Ereignisses“ bestimmt, formuliert Nollmann für ihr Beispiel den Typus „Karriere aus sich selbst heraus“. Die Untersuchung von Nollmann kann als weiterer wichtiger Beitrag für die Beantwortung der Frage nach biographischen Ressourcen von Frauen angesehen und gewürdigt werden.

Ines Schell-Kiehl schließlich untersucht in ihrem Beitrag „Zeit für Mentoring. Zum Umgang mit Zeit in weiblichen Karrierebiographien am Beispiel von qualitativen Interviews mit Mentorinnen“ ebenfalls Lebensverläufe von Karrierefrauen. Sie interessiert, wie Mentorinnen mit der Ressource Zeit umgehen und in welcher Weise diese Art des Umgangs ihre Motivation beeinflusst, als Mentorin tätig zu sein. Anhand von zwei Fallbeispielen beleuchtet sie, wie die Mentorinnentätigkeit der beiden Interviewpartnerinnen, die sehr unterschiedlich mit den Themen Beruf und Familie in ihrem Leben umgegangen sind, eine zusätzliche Investition zeitlicher Ressourcen bedeutet, aber zugleich einen Gewinn darstellt.

Fazit: Wer anregende, weiterführende Ergebnisse aus dem Bereich des Verhältnisses von qualitativer Forschung, insbesondere Biographieforschung und Erwachsenenbildung rezipieren möchte, dem seien die Beiträge des Bandes empfohlen. Wer sich hingegen viele neue Erkenntnisse über das Phänomen „Zeit“ verspricht, wird wohl enttäuscht werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn071298

Prof. Dr. Heide von Felden

Pädagogisches Institut, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz

E-Mail: heide.von.felden@uni-mainz.de

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