Gesche Blume:
Irmgard Keun.
Schreiben im Spiel mit der Moderne.
Dresden: w.e.b. bei Thelem 2005.
222 Seiten, ISBN 3–937672–38–9, € 35,00
Abstract: Im vorliegenden Band gelingt es, mit Blick auf das gesamte literarische Schaffen Irmgard Keuns, Brücken zu schlagen zwischen dem in der Rezeption häufig als disparat geltenden Früh- und Spätwerk der Autorin. Keun wird nicht nur innerhalb der literarischen Szenerie ihrer Zeit als Schriftstellerin positioniert, sondern auch in ihrem Rang als Vordenkerin der Postmoderne gesehen. Besonderes Augenmerk legt Blume auf die Besonderheiten eines Autorinnenschicksals.
Glücklicherweise wird die Schriftstellerin Irmgard Keun nicht nur vergessen, sondern auch immer wieder einmal neu entdeckt. Zu ihrem hundertsten Geburtstag, den sie im vergangenen Jahr hätte feiern können, ist unter anderem der Jubiläumsband Keun 1905/2005 erschienen, zu dem es ebenfalls eine Besprechung in Querelles-Net (Ausgabe 17, Nov. 2005) gab. Vielleicht ist es nach hundert Jahren an der Zeit, das ‚Fort-Da-Spiel‘ zu beenden, unter dem viele Autorinnen noch immer zu leiden haben. Vielleicht sind die „Spuren dann dauerhafter und sichtbarer als diejenigen, die ein Schiff in den Wellen hinterlässt“, so Anna Maria von Schurmanns metaphorischer Verdacht zum Künstlerinnenschicksal im 17. Jahrhundert (zitiert nach Breitling 1980, S. 5). 1980 wurde das Zitat sogar zum Buchtitel: Gisela Breitling, Die Spuren des Schiffs in den Wellen (Berlin 1980) In diese Zeit fällt auch eine erste Keun-Entdeckungswelle; genannt sei der Aufsatz von Ursula Krechel: „Die Zerstörung der kalten Ordnung. Auch ein Versuch über das Vergessen weiblicher Kulturleistungen“ (in: Literaturmagazin 10, Reinbek bei Hamburg 1979, S. 229-267).
Das Spielerische, auch Versteckspielerische sowohl im Schreiben Keuns als auch in dem, was sie über die eigene Biographie preisgegeben hat, mag die Rezeption nicht immer befördert haben, ist aber auf lange Sicht vielleicht sogar von Vorteil gewesen. Ob angeregt durch moderne Errungenschaften oder als Reaktion auf ihr Autorinnendasein - wer sich in der feministischen Philosophie auskennt, wird an Luce Irigarays Maskerade und Mimikry erinnert -, ist ein Werk, das sich im Versteckspiel präsentiert, das gesucht und gefunden werden will, das gar nicht damit rechnet, sich offen darlegen zu können, so übel nicht geeignet, die Zeitläufte zu überstehen, in denen insbesondere aufgrund der Verfolgung durch die Nationalsozialisten so manches Kunstwerk unwiederbringlich verloren gegangen ist.
Eines macht Gesche Blume gleich zu Beginn deutlich: es geht ihr um eine Untersuchung, die Unterschiede weiblicher und männlicher Kulturbildung berücksichtigt. Ohne dass dies im weiteren Verlauf der Arbeit auf irgendeine Weise penetrant würde, schlägt sie damit einen geeigneten Weg ein, um dem Werk gerecht zu werden. Mit Hiltrud Häntzschel hegt sie die Vermutung, „die Konstante von Keuns Leben liege vielleicht gar nicht in der von den Biographen bevorzugten logischen Ordnung, sondern im von der Autorin bevorzugten Rollenspiel“ (S. 11). Mit der Nähe von Keuns Schreiben zur gesprochenen Sprache ist zugleich eine typisch weibliche Akzentsetzung gefunden. Christina von Braun bezeichnet „Oralität als eine an den Körper und Literalität als eine an den Schriftträger gebundene Form der Erinnerung“ (S. 14). Beides als gleichberechtigte Literatur anzuerkennen, verlangt die Bereitschaft der Germanistin, sich von vorgefertigten Interpretationsmustern und bereits definierten Wegen der wissenschaftlichen Logik zu lösen. Dies gelingt hier, ohne dass die Untersuchung ihren Halt in Text - Keuns Schreiben - oder Theorie – germanistisches Fachwissen – verliert.
Das gesprochene Wort als einen der Ursprünge des Schreibens festzuhalten, führt anekdotisch zu Alfred Döblins Ermunterung der angehenden Schriftstellerin zum Schreiben – „wenn sie nur halb so gut schreiben, wie sie sprechen“ (S. 14, nach Jürgen Serke) –, aber auch zu einer Schreibweise, die durch die kunstvolle Nähe zum gesprochenen Wort auch besonders nah am Puls der Zeit ist. Erwähnenswert sind die Passagen zu „Schlager und Jazz als strukturbildende Elemente des Schreibens“ (S. 41 ff.). Das Zerstückelte, Mosaikhafte, scheinbar zufällig Zusammengewürfelte in den Texten wird als von der Autorin so gewollt erkannt, als dissoziatives Textverfahren Keuns, das diese als Ausgleich „zum neusachlichen ‚harten‘ Stil“ einsetzt (S. 23).
Feministisch sowie philosophisch besonders interessant ist der zweite Hauptteil, in dem sich Blume mit „weiblicher Geschichtsschreibung und Identitätskonstruktion“ auseinandersetzt. Keuns Werk wird unter der Perspektive der Integration moderner und modernistischer weiblicher Lebensentwürfe untersucht. Die „literarische Inszenierung von Weiblichkeit“, so der Titel von Abschnitt 3.1., zeigt einen Blick auf den weiblichen Körper, der geprägt ist von den neuen Medien, unter denen insbesondere dem Film eine bedeutende Rolle zukommt. Blume geht beispielsweise der „Ambivalenz der Etablierungen und Zerstörung weiblicher Körper“ nach (S. 75).
Das Schreiben einer weiblichen Geschichte erscheint angesichts der fehlenden Tradition als nahezu unmögliches Unterfangen. Keun gelingt es jedoch, diese Unmöglichkeit „als eine diskursive Praktik sowie als lustvolles Leseerlebnis“ (S. 66) zu inszenieren. Ausgehend von dieser Unmöglichkeit wird die Rede vom „doppelten Ort der Frau“ (S. 57 ff.) zu einer präzisen Bezeichnung der Ausgangslage. Keun hält daran fest, allen Widerständen zum Trotz eine weibliche Tradition zu schaffen. Dabei wird vor allem der Bezug zur Mutter zentrales Motiv. Das Beschwören der abwesenden Mutter steht für das „Bedürfnis nach einer weiblichen Tradition, nach weiblicher Kontinuität und Geschichte“ (S. 92). Blume interpretiert die Figur der Mutter als Abjekt im Sinne der psychoanalytisch geprägten Theorie der französischen Philosophin Julia Kristeva. Das Abjekt ist in der frühen präödipalen Phase angesiedelt als etwas, dem noch nicht der Status eines selbständigen Objekts zukommt. Dem entspricht auf der anderen Seite eine noch nicht voll ausgebildete Subjektivität. Keun bleibt jedoch nicht „bei der Rückkehr zu den Müttern und der Regression in einen chaotischen Urzustand stehen“, sondern unternimmt diese zum Zweck einer erneuten Individuation (S. 89). Die Autorin erscheint als Vordenkerin sowohl postmodernen Philosophierens als auch feministischer Theoriebildung. Hier könnte eine Diskussion eröffnet werden, die den Bezügen zwischen Keun und philosophisch-poststrukturalistischen Theorien – Derrida, Barthes, Kristeva – weiter nachgeht.
Insgesamt ist es Blume gelungen, die Kontinuität von Keuns Arbeiten gerade im Dissoziativen, Mosaikhaften, Zerbrechlichen zu zeigen. Die Einordnung bislang häufig unterschätzter Arbeiten als bloße Zeitdokumente kann nun mit Blume dezidiert zurückgewiesen werden. Ob D-Zug dritter Klasse tatsächlich aus dem so aufgespannten Rahmen des Lebenswerks herausfällt oder ob der Germanistik das Handwerkszeug zur Würdigung dieses Romans noch fehlt, darf an dieser Stelle offen bleiben.
Eine Rehabilitierung gegenüber Tucholskys subjektiver und sexistischer Kritik an Keuns Schreiben ist längst nicht mehr nötig. Ganz selbstverständlich greift die Autorin auf die von Krechel bereits geleistete Arbeit zurück (u. a. S. 85). Doch Blumes Intention geht weiter, und sie stellt in Analogie zum „doppelten Ort der Frau“ die Bedeutung von Keuns Werk sowohl in dessen weiblicher Besonderheit als auch in seiner literarischen Allgemeinheit dar. So ist die vorliegende Untersuchung über die Grenzen der Fachdisziplin hinaus überaus bereichernd für alle, die für die femininen Aspekte der Schrift Interesse zeigen.
URN urn:nbn:de:0114-qn071249
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