Sigrid Bauschinger:
Else Lasker-Schüler.
Biographie.
Göttingen: Wallstein 2004.
494 Seiten, ISBN 3–89244–440–4, € 38,00
Abstract: Kaum eine andere Schriftstellerin hat so konsequent – man ist versucht, zu sagen: so ernsthaft – mit fremden Identitäten gespielt wie Else Lasker-Schüler, die sich selbst als Tino von Bagdad oder Prinz Jussuf von Theben imaginierte und ihren Freunden erfindungsreiche Namen beilegte. Realität und Phantasie flossen in ihrem Leben und Werk stets zusammen. Sigrid Bauschinger, ehemalige Professorin an der University of Massachusetts und bereits 1980 mit einer umfangreichen Studie über Else Lasker-Schüler hervorgetreten (Else Lasker-Schüler. Ihr Werk und ihre Zeit), hat es nun unternommen, auf Grundlage bisher unveröffentlicher Dokumente eine neue Biographie der bedeutenden Wuppertaler Autorin zu verfassen.
Else Lasker-Schüler (1869–1945) wuchs als jüngstes von sechs Kindern in einer gutbürgerlichen jüdischen Familie in Wuppertal-Elberfeld auf. Ihre Kindheitsjahre, die sie umgeben vom verehrten Vater, der geliebten Mutter und den zahlreichen Geschwistern verbrachte, verklärte sie später in ihrem häufig autobiographische Züge tragenden Werk zu einer paradiesischen Idylle vollkommener Liebe und Harmonie. „Alle Motive in ihren Dichtungen haben die Wurzeln in der Kindheit“, stellt Bauschinger fest (S. 38). Das Moment des unbeschwert Kindlichen und heiter Spielerischen hat sich Lasker-Schüler bis ins Alter bewahrt – es war die süße Pille, die sie sich selbst gegen die bitteren Erfahrungen des Lebens verabreichte, von denen auch bereits ihre Kindheit nicht frei war (so hatte sie den frühen Tod ihres Lieblingsbruders und antijüdische Ausfälle ihrer Schulkameraden zu verarbeiten). Mit ihrem ersten Mann, dem Arzt Berthold Lasker, ging sie 1894 nach Berlin. Der Wechsel von der Provinz in die pulsierende Großstadt eröffnete ihr eine völlig neue Welt, die der künstlerischen Bohème, zu der sie dank ihres lyrischen und zeichnerischen Talents und ihrer außergewöhnlichen Persönlichkeit rasch Zugang fand. An der Seite ihres zweiten Mannes, des Sturm-Gründers Herwarth Walden, setzte sich Lasker-Schüler im wilhelminischen Berlin vehement für die Belange der künstlerischen Avantgarde ein. Auch nach der Trennung von Walden (die Scheidung erfolgte 1912) hielt sie – stets in finanzieller Bedrängnis lebend und um die Veröffentlichung ihrer Texte kämpfend – kompromisslos an ihrer modernen Kunstauffassung fest. Ausgleich für die wirtschaftliche Not waren die Freundschaften, die sie mit den bedeutendsten Künstlern und Schriftstellern ihrer Zeit, z. B. mit Gottfried Benn, Georg Trakl und Franz Marc, unterhielt und von denen zahlreiche Briefe Zeugnis ablegen. Die Machtergreifung der Nationalsozialisten setzte der künstlerischen Freiheit der Weimarer Republik ein brutales Ende und brachte die Jüdin Else Lasker-Schüler in akute Gefahr. Nach tätlichen Übergriffen emigrierte sie 1933 in die Schweiz, wo sie die nächsten Jahre in Armut und ständiger Angst um ihre Aufenthaltserlaubnis verbrachte; 1939 übersiedelte sie endgültig nach Jerusalem. Dort starb sie Anfang 1945, ohne Deutschland je wiedergesehen zu haben.
Für Else Lasker-Schüler gab es keine starre Trennung zwischen Kunst und Leben, Imagination und Wirklichkeit: Für sie war die Dichtung „die Blüte der Wahrheit“ (S. 8). Dementsprechend dichterisch-kreativ ging sie auch mit der eigenen Vita um und trug selbst nicht unerheblich zur Entstehung der vielen Anekdoten und Legenden bei, die ihre Person umrankten. Verwirrung stiftete sie bereits mit ihrem Geburtsdatum, das sie mit 1876 bzw. 1877 angab (in ihrem 1934 in Zürich ausgestellten Pass machte sie sich sogar um 22 Jahre jünger!). Arnold Zweig erfasste sehr genau den Wesenskern der Lyrikerin, als er über sie schrieb: „Sie lebt dichtend. […] Sie ist mitunter eine ihrer eigenen Gestalten: dann dichtet sie sich selbst“ (S. 298). Es stellt eine ebenso schwierige wie reizvolle Aufgabe dar, den Lebensweg einer solch schillernden, widersprüchlichen Persönlichkeit wie Else Lasker-Schüler zu erzählen – Sigrid Bauschinger hat diese Aufgabe übernommen und überzeugend gelöst. Nötig und möglich wurde diese neue Biographie durch die seit 1996 erscheinende Kritische Ausgabe der Werke und Briefe Else Lasker-Schülers, die mit der Veröffentlichung der Briefe nunmehr ihren Abschluss findet. Bauschinger hatte Gelegenheit, u. a. auf die Werke aus dem Nachlass und auf bisher unveröffentlichtes Briefmaterial zurückzugreifen. Nicht zu den geringsten Vorzügen des Buches gehört es, dass die Verfasserin häufig aus diesen Quellen zitiert und Lasker-Schüler und ihre Zeitgenossen direkt zu Wort kommen lässt: Die Leser erhalten auf diese Weise unmittelbaren Einblick in die inneren und äußeren Kämpfe der Dichterin; die Aussagen der Zeitgenossen, die von unverhohlener Ablehnung bis zu grenzenloser Bewunderung reichen, führen die polarisierende Wirkung, die ihre exzentrische Erscheinung hatte, unvermittelt vor Augen. Bauschinger gibt dem Leser genügend Informationen an die Hand, um die Quellentexte in den individual- und zeitgeschichtlichen Kontext einzuordnen, und hält sich mit eigenen Wertungen wohltuend zurück. So entsteht ein ausgewogenes Bild der Dichterin, das ihre Stärken und Schwächen in gleichmäßiges Licht taucht und auf eine vordergründige Harmonisierung der Widersprüche verzichtet. Bauschinger zeichnet das eindringliche Porträt einer Frau, die kämpferisch und kindlich, großherzig und ungerecht, aufopferungsvoll und ungeduldig, vor allem aber eines war: eine Künstlerin.
Als Else Lasker-Schüler im September 1938 die deutsche Staatsangehörigkeit aberkannt wurde, hieß es über die Dichterin in dem entsprechenden Schreiben des Geheimen Staatspolizeiamtes an den Reichsführer SS: „Sie war die typische Vertreterin der in der Nachkriegszeit in Erscheinung getretenen emanzipierten Frauen. Durch Vorträge und Schriften versuchte sie, den seelischen und moralischen Wert der deutschen Frau verächtlich zu machen“ (S. 407). Gelesen aus heutiger Perspektive benennt diese nationalsozialistische Diffamierung eine der wesentlichen und noch heute aktuellen Leistungen Lasker-Schülers: Indem sie die bürgerliche Ehe gegen die ungesicherte Existenz einer freischaffenden Künstlerin eintauschte und sich als Publizistin, Literatin und Malerin profilierte, ließ sie die Idee der berufstätigen, selbstbestimmt und frei von Zwängen und Konventionen lebenden Frau für alle sichtbar Wirklichkeit werden. Der Preis für diese Unabhängigkeit war indessen hoch: Als zweifach geschiedene, alleinerziehende Mutter, als Künstlerin ohne regelmäßiges Einkommen, obendrein Jüdin, führte sie ein Leben am Rande der Gesellschaft und stets an der Grenze zur Armut.
Sigrid Bauschinger legt Wert darauf, Lasker-Schüler vom Image der lediglich traumversponnenen, exaltierten Künstlerin zu befreien: Sie belegt, dass die Dichterin in vielem ihrer Zeit voraus war, so mit dem bewussten Gebrauch geschlechtsdifferenzierter Bezeichnungen – anrührendes Beispiel: im Exil schreibt sie frierend, dass „Eisbären und Eisbärinnen“ in ihr kaltes Zimmer kommen (S. 419, vgl. auch S. 131) –, mit ihrer ökologischen Besorgnis, wie sie etwa in dem Essay „Als die Bäume mich wiedersahen“ anklingt (S. 327), oder mit ihren ungewöhnlichen Auftritten, die die erst Jahrzehnte später populäre Performance-Kunst vorwegnahmen. Die künstlerische Bedeutung des Spiels, die gegen Ende des 20. Jahrhunderts vor allem durch die philosophische Reflexion und literarische Praxis der Postmoderne (wieder-)entdeckt wurde, gehörte bereits zu den wichtigsten Überzeugungen Lasker-Schülers: Kunst war für sie Spiel und Spiel war Kunst. Die Maxime „Spielen ist alles“ (S. 175) half ihr, trotz ihrer leidvollen Erfahrungen – Verlust der Eltern und der Geschwister, Tod des einzigen Sohnes und enger Freunde wie Franz Marc, Scheidungen, Armut, Flucht und Exil – nicht zu verzweifeln. Die Kraft, ihr Leben, das eigentlich eine „Dauerkrise“ (S. 210) war, zu bewältigen und ungeachtet aller Rückschläge künstlerisch tätig zu sein, bezog sie außerdem aus der Liebe: Immer wieder, auch noch in ihren letzten Lebensjahren im Exil, wurde sie von leidenschaftlicher Liebe erfasst, die in zeitlos-schönen Gedichten ihren poetischen Ausdruck fand. Mit großem Einfühlungsvermögen – das im Übrigen die gesamte Darstellung charakterisiert ohne dabei die Porträtierte je zu vereinnahmen – bringt es Bauschinger auf den Punkt: „Solange sie sich verlieben konnte, so lange konnte sie dichten“ (S. 128).
Gestützt auf bisher noch nicht ausgewertetes Quellenmaterial und ihre exzellente Kenntnis von Leben und Werk Else Lasker-Schülers hat Sigrid Bauschinger eine maßstabsetzende Biographie vorgelegt, eine angenehm zu lesende Pflichtlektüre für alle, die sich für die Wuppertaler Schriftstellerin interessieren. Ausgestattet ist der Band mit über sechzig Schwarzweißabbildungen, einer Zeittafel, einem Namenregister und einem Anmerkungsteil, dessen bibliographische Angaben leider nicht zu einem separaten Literaturverzeichnis zusammengestellt wurden.
URN urn:nbn:de:0114-qn071083
Dr. Susanne Gramatzki
Wuppertal/Bergische Universität/Fachbereich Geistes- und Kulturwissenschaften
E-Mail: gramatz@uni-wuppertal.de
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