Britta Konz:
Bertha Pappenheim (1859–1936).
Ein Leben für jüdische Tradition und weibliche Emanzipation.
Frankfurt a.M.: Campus 2005.
410 Seiten, ISBN 3–593–37864–7, € 39,90
Abstract: Bertha Pappenheim, berühmt vor allem als Anna O. aus Breuers und Freuds Studien über Hysterie, wurde nach Überwindung ihrer Krankheit eine bekannte jüdische Frauenrechtlerin und Pionierin der sozialen Arbeit. Britta Konz legt mit ihrer Dissertation eine theologisch fundierte Analyse des Lebenswerks dieser faszinierenden Frau vor, die 1904 den Jüdischen Frauenbund gründete, um für ihre Version des Judentums einzutreten: die Verbindung von traditionellem Judentum und Frauenemanzipation. Dieses weiblich-jüdische „Projekt der Moderne“ steht im Mittelpunkt der Studie.
Britta Konz erhielt für ihre Arbeit über Bertha Pappenheim den Hanna-Jursch-Preis der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD). Die methodische Vielfalt und Präzision dieser Arbeit sei besonders überzeugend gewesen, lobte die Jury.
Auf 410 Seiten bietet die Dissertation ein Gesamtbild der verschiedenen Aspekte, die die Persönlichkeit Bertha Pappenheims ausmachen. Zugleich wird differenziert nachgezeichnet, wie Bertha Pappenheim in ihrer jüdischen Tradition eine Berechtigung für die Emanzipation von Frauen entdeckte. Britta Konz kann dabei zeigen, dass vieles im Leben von Bertha Pappenheim ohne den Bezug zur jüdischen Religion unverständlich bleiben muss.
In einem ersten Teil befasst sich die Autorin mit der aus anderen Studien bekannten Biographie Bertha Pappenheims. In dem größeren zweiten Teil wird in fünf Kapiteln Bertha Pappenheims ‚weiblich-jüdisches Projekt der Moderne‘ dargestellt. Es geht um das Frauenbild Bertha Pappenheims im jüdischen Kontext, um ihre Wohltätigkeitsarbeit, ihre pädagogischen Zielsetzungen und die Entwicklung ihrer Konzepte nach dem Ersten Weltkrieg.
Durch diese Vorgehensweise ist es der Autorin möglich, sich jeweils mit der Vorgeschichte von Pappenheims Engagement zu befassen und sie ausführlich darzustellen: die Entwicklung des Bundes deutscher Frauenvereine, die Grundlagen der Sozialarbeit zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die pädagogischen Konzepte der Zeit.
Die Trennung der biographischen Information von der Analyse des Lebenswerks von Bertha Pappenheim ist eine methodisch nachvollziehbare Entscheidung, birgt aber auch Gefahren.
Bertha Pappenheim war eine äußerst rebellische Frau voller Witz, Widerständigkeit und Sprachgewalt. Ihre Unangepasstheit und ihr Mut waren für eine Frau ihrer Herkunft ungewöhnlich. Diese grundlegenden Eigenschaften werden in dem universitären Duktus der Studie kaum mehr sichtbar. Bertha Pappenheim selbst verstand sich auch niemals als Theoretikerin. Quelle ihrer Erkenntnisse war wesentlich die Praxis ihres Tuns, ihre schmerzlichen und guten Erfahrungen. Deshalb war ihr Kampf um Gerechtigkeit für das weibliche Geschlecht auch immer voller Widersprüche. Sie hatte Ecken und Kanten, wollte sich nicht in herrschende Muster einordnen, sich nicht anpassen an die männlichen Normen des Diskurses.
Britta Konz passt ihr Protagonistin jedoch in ein Gesamtkonzept der jüdischen Moderne ein, das der rebellischen Natur ihrer Protagonistin fremde Zügel anlegt und der Persönlichkeit von Bertha Pappenheim nur sehr bedingt gerecht wird.
Dies lässt sich an verschiedensten Stellen ausmachen. Als Beispiel sei Pappenheims Verhältnis zu Leo Baeck genannt. Bei Britta Konz wird er voller Hochachtung als derjenige zitiert, der 1929 eine Lobrede auf den 25. Jahrestag der Gründung des Jüdisches Frauenbundes hält. Typischerweise fehlt aber die heftige Auseinandersetzung, die Bertha Pappenheim und der gesamte Jüdische Frauenbund mit ihm führen mussten, als er sich auch nach dem Ersten Weltkrieg mit dem Verweis auf die besonderen ‚weiblichen‘ Eigenschaften immer noch gegen das Wahlrecht für Frauen zu den Gemeindewahlen der jüdischen Gemeinde stellte. Respektlosigkeit und Eigensinn gegenüber männlicher Autorität charakterisieren Bertha Pappenheims Tun und waren damals häufig Stein des Anstoßes. Davon ist in der überaus gründlichen Studie von Britta Konz wenig zu spüren. Der Widerspruch zwischen Feminismus und jüdischer Frömmigkeit, der im Handeln von Bertha Pappenheim fruchtbar wurde, war immer auch ein Widerspruch zwischen Tradition und Moderne und blieb im Jüdischen Frauenbund letztlich unaufgelöst.
Die Autorin wird sich an einigen Stellen ihrer Studien des Problems bewusst, dass Bertha Pappenheims Denken nicht in ein festes System zu fassen, insbesondere ihre Religiosität nicht einer der vorgegebenen Richtung zuzuordnen ist und ein sehr persönliches Bekennen darstellt. Doch diese Erkenntnis bleibt nur Vorbemerkung. Auf der Grundlage von Textanalysen stülpt Britta Konz den religiösen Überlegungen ihrer Protagonistin eine Systematik über und ordnet ihr Denken in Lehrgebäude ein, sei es der Pantheismus, die jüdische Mystik oder der philosophische Einfluss von Margret Susman. Bertha Pappenheims Originalität wird damit nicht adäquat erfasst.
Ihr beständiger innerer Dialog, der sich u. a. in ihren Gebeten äußert, ist, wie Margarete Susman in einem Nachwort zur Herausgabe sagt: (Bertha Pappenheim: Gebete, S. 58) „nicht aus der Mitte, sondern vom Rand unserer Zeit“; es sind „Gebete einer großen Einzelseele“. In der Einmaligkeit ihres spirituellen Seins fand sie keine unmittelbaren Nachfolgerinnen. Ursache davon ist jedoch vor allem, dass die Schülerinnen und Mitarbeiterinnen entweder ermordet oder ins Exil getrieben wurden und sich eine feministisch-jüdische Theologie im Sinne Bertha Pappenheims bis heute nicht entwickeln konnte.
Wesentliche Quelle ihres Tuns war ihre Menschlichkeit. Man mag ihre „Theorielosigkeit“ bedauern, aber gerade sie erlaubte Bertha Pappenheim, einmal festgelegte Grundsätze und moralische Wertungen über Bord zu werfen und sich – unter Überwindung tradierter Scham- und Moralgrenzen – einfach dem leidenden Individuum zuzuwenden, auch wenn dieses eine Prostituierte war, deren Existenz selbstverständlich mit den Sittlichkeitsvorstellungen der höheren Tochter und Oberschichtfrau nicht vereinbar war. Gerade aus ihrem Kampf gegen den Menschenhandel und ihre Hinwendung zu dem erniedrigten Teil des weiblichen Geschlechts gewinnt das Handeln Bertha Pappenheims für viele Frauen heute eine ganz neue Aktualität.
Die Studie von Britta Konz ist sicher zu Recht als unverzichtbar für die theologische Betrachtung der Lebensgeschichte Bertha Pappenheims geehrt worden. Doch stellen sich für die Nichttheologin zwei Fragen: Was bringt eine theologische Betrachtung der faszinierenden Lebensgeschichte Bertha Pappenheims für den heutigen Diskurs des Feminismus, in dem Säkularität als das historisch Befreiende begriffen wird? Und zweitens: Kann eine Studie, die in einer Wissenschaftssprache geschrieben und auf 410 Seiten ausgelegt ist, überhaupt über den engen Kreis des ‚Campus‘ hinaus gelangen?
Die Antwort ist heute noch nicht endgültig zu geben. Zu vermuten ist: Sie könnte negativ ausfallen.
URN urn:nbn:de:0114-qn071057
Marianne Brentzel
E-Mail: mariannebrentzel.de
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