Inge Stephan:
Inszenierte Weiblichkeit.
Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts.
Köln, Weimar, Wien: Böhlau 2004.
279 Seiten, ISBN 3–412–15204–8, € 22,90
Abstract: Inge Stephan legt mit diesem Buch in gesammelter Form ihre zwischen 1985 und 2004 an verschiedenen Orten publizierten und zum Teil bis dato auch unveröffentlichten Beiträge zur Literatur des 18. Jahrhunderts vor. Obgleich die Aufsätze unverbunden nebeneinander gestellt bleiben, beleuchten sie doch auf interessante Art verschiedene Facetten der Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts, wobei der Schwerpunkt in der zweiten Hälfte des Jahrhunderts und in der Zeit um 1800 liegt.
Die insgesamt 12 Aufsätze des vorliegenden Bandes sind weitgehend chronologisch anhand der behandelten Autorinnen bzw. Autoren und Werke geordnet. Den Anfang bilden dabei zwei Beiträge zu Lessing: „Frauenbild und Tugendbegriff bei Lessing und Schiller“ sowie „Zur Rezeption von Lessings Frauen“. Der erste der beiden Texte sind dem Diskurs über die weibliche Unschuld im Bürgerlichen Trauerspiel gewidmet. Untersucht werden exemplarisch die Dramen Emilia Galotti, Miss Sara Sampson und Kabale und Liebe. Stephan konstatiert dabei nicht nur einen Paradigmenwechsel von der autonomen, gesellschaftlich aktiven hin zur passiven, empfindsamen Frau, sondern damit verbunden auch einen Wandel des Begriffs „Tugend“, der immer stärker identisch gedacht wird mit weiblicher Unschuld. Zwar werden in diesem Kontext zentrale Themen der (Früh-)Aufklärung wie die Vater-Tochter-Beziehung oder die Konfrontation der weiblichen Figuren mit dem Laster behandelt, es ist jedoch zu bedauern, dass kein Text aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts Berücksichtigung findet und somit der europäischenAufklärung, die doch dem Jahrhundert ihre Prägung gab, nur wenig Raum gewidmet wird.
Der zweite Beitrag zu Lessing stellt ausgehend von einer kritischen Darstellung der Tagungsbeiträge der 35. Kamenzer Lessing-Tage zum Thema „Weiblichkeitsentwürfe und Frauen im Werk Lessings“ sieben Forschungsdesiderate vor, die z. T. auch über die Lessing-Forschung hinaus, d. h. bezogen auf die Auseinandersetzung der Gender-Forschung mit dem 18. Jahrhundert insgesamt, immer noch Geltung beanspruchen können. Gerade die erste Forderung: „die Forschung sollte sich nicht länger auf einige wenige mehr oder minder kanonische [Lessing-]Texte beschränken“ (S. 50), wird nach wie vor nur in Einzelfällen eingelöst – was leider auch für den vorliegenden Band gilt.
Gleichwohl vertritt Stephan durchaus auch anhand der kanonisierten Autoren und Texte eigenständige Thesen, die nichts an Aktualität eingebüßt haben. Dazu zählt sicher vor allem die in den Aufsätzen „Zur Textkonkurrenz zwischen Goethe und Lenz“ und „Zur Ausgrenzung des ‚Weiblichen‘ in der Sturm-und-Drang-Bewegung“ aus unterschiedlichen Kontexten heraus aufgestellte These, J. M. R. Lenz sei ein Autor mit „weiblicher Textpraxis“, er sei die sonst vergeblich gesuchte ‚Stürmerin‘ und ‚Drängerin‘. Hier zeigt sich bereits, dass Stephan mit „Inszenierter Weiblichkeit“ weit mehr meint als die Gestaltung der Frauenfiguren in literarischen Texten. Ebenso wie hier die Codierung einer männlichen Person mit weiblichen Rollenzuschreibungen eine erweiterte Perspektive darstellt, nähert sich die Verfasserin unter anderem auch durch die Analyse weiblicher Autorschaft am Beispiel von Dorothea Schlegel dem Thema Literatur und Weiblichkeit aus verschiedensten Blickrichtungen an und entgeht damit souverän einer eindimensional motivgeschichtlich angelegten Betrachtungsweise der Geschlechterrollen im 18. Jahrhundert. Zugleich sorgt auch der zum Teil sehr unterschiedliche methodische Zugang (z. B. bei Lessing sozialgeschichtlich, bei Lenz eher psychoanalytisch) für facettenreiche Blickwinkel, die aufgrund der Zeitspanne der Ersterscheinung der Aufsätze auch als kleiner Ausschnitt der Gender-Wissenschaftsgeschichte angesehen werden können.
Die Analyse der Medea-Dramen von F. M. Klinger vermittelt nicht nur chronologisch zwischen Sturm und Drang und Spätaufklärung, sondern macht – wie auch die Untersuchung der „Amazonen und Amazonenmythen bei Schiller und Kleist“ – deutlich, dass die literarische Ausarbeitung eines bereits seit der Antike tradierten Bildes von Weiblichkeit zum Anlass genommen werden kann, autor- und zeitspezifische Weiblichkeitsvorstellungen freizulegen. In diesem Fall zeigt sich durch alle Texte hindurch, dass kämpfende, gewalttätige Frauen, wie sie sich historisch-real auch im Umfeld der Französischen Revolution finden, als erschreckend empfunden wurden. In literarischen Texten wurde versucht, durch humanisierende Züge (Klinger), „Entlebendigung“ (S. 125) und ‚weiblichere Gestaltung‘ (Schiller) diesen Schrecken zu mildern und einen Kompromiss mit konventionellen Vorstellungen von Weiblichkeit zu finden. Kleist bleibt mit seiner in diesem Kontext viel zitierten Penthesilea das Gegenbeispiel, weil hier der „gnadenlose Geschlechterkampf“ (S. 129) ausgetragen und zu einem blutigen Ende geführt wird, wobei die weibliche Figur Wunsch- und Schreckbild vereint.
Ein historisch-realer Anlass für die Auseinandersetzung mit gewalttätigen Frauen ist die Ermordung Jean-Paul Marats durch Charlotte Corday am 13. Juli 1793. Die in der zeitgenössischen Öffentlichkeit weitgehend positiv aufgenommene Tat, die unter anderem auch Klopstock, Georg Forster und Jean Paul begeisterte, wurde auch für eine Autorin zum Schreibanlass. Christine Westphalens 1804 anonym veröffentlichtes Drama Charlotte Corday ist innerhalb des besprochenen Buches der erste Text einer Autorin, der genauer untersucht wird. Dadurch wird indirekt deutlich, dass die „Inszenierte Weiblichkeit“ im 18. Jahrhundert bezogen auf die literarische Produktion zumeist eine von Männern inszenierte ist, eine Tatsache, der Stephans im ersten Beitrag eingeführter Begriff „Frauenbild“ Rechnung trägt. Dieses wird als „eine ‚Form männlicher Wunsch- und Ideologieproduktion‘ [bezeichnet], durch die die Frau in ganz spezifischer Weise definiert und vom Subjekt zum Objekt gemacht wird“. (S. 14 f.) Es wäre freilich kritisch zu fragen, inwieweit das Buch diesen Vorgang nachvollzieht, wenn nur 4 Texte von Frauen, hingegen 15 von Männern ausführlicher interpretiert werden.
Eine neuer Aspekt der „Inszenierten Weiblichkeit“ findet mit der Thematisierung des Androgynie-Diskurses Berücksichtigung, der nicht nur zentral im Aufsatz „Androgynie und erotischer Diskurs bei Goethe und Kleist“ behandelt wird, sondern auch nochmals als romantisches Schreibkonzept im Beitrag zu Friedrich Schlegels Lucinde und Dorothea Schlegels Florentin aufgegriffen wird. Im erstgenannten Text kommt es dabei zu einer erneuten Analyse von Kleists Penthesilea, und hier wie bei der Beschäftigung mit J. M. R. Lenz zeigt sich, dass diese gelegentlichen ‚Wiederholungen‘ keinesfalls redundant wirken, sondern vielmehr durch eine Annäherung an dieselben Autoren und Texte aus verschiedenen Kontexten heraus die Vielschichtigkeit der Deutungsmöglichkeiten nur unterstrichen wird.
Ebenso wie der Androgynie-Diskurs verweist auch die Debatte zur ‚schönen Seele‘ auf eine bis in die Antike zurückreichende Tradition. Während ersterer jedoch immer auch das Verhältnis der Geschlechter zueinander thematisiert, ist die geschlechtliche Codierung der ‚schönen Seele‘ ein Zeitphänomen um 1800. Die Analyse von Goethes Bekenntnissen einer schönen Seele und der von Helene Unger verfassten Bekenntnisse zeigt zwar eine gänzlich unterschiedliche Herangehensweise an das Thema, beide Texte stellen jedoch einen Gegenentwurf dar sowohl zu konventionellen als auch zu revolutionären Weiblichkeitsentwürfen.
Der Bezug auf antike literarische Traditionen verbindet nicht nur Androgynie- und Seelenthematik, sondern prägt auch die literarische Beschäftigung mit „Weiblichkeit, Wasser und Tod“ in der Romantik, die jedoch zusätzlich vor allem auf die mittelalterlichen Traditionen des Melusinen- und Undinen-Stoffs zurückgreift. Ebenso wie die kämpferische Frau Faszination und Abwehr zugleich auslöst, stehen auch die ‚Wasserfrauen‘ für die Verbindung von Verführung und Tod.
Etwas unvermittelt steht am Ende des Bandes der Beitrag zum „Scheitern familialer Genealogien in Goethes Wahlverwandschaften“, der sowohl die Problematik der Liebes- und Eheverbindungen im Text beleuchtet als auch die Kinderlosigkeit der Figuren bzw. deren Verweigerung der Elternrolle. Zurückgeführt wird dieses Scheitern auf eine „‚Übererfüllung‘ der weiblichen und ‚Untererfüllung‘ der männlichen Geschlechterrollen“ (S. 272) im Text. Dieser letzte Aufsatz verdeutlicht damit nochmals, dass Entwürfe von Weiblichkeit immer nur als Pendant zu Männlichkeitskonzepten gedeutet werden können, wie es Stephan bereits im zweiten Beitrag zu Lessing konstatiert: „Eine Untersuchung der ‚Frauenbilder‘ und ‚Weiblichkeitsentwürfe‘ kommt also ohne die Berücksichtigung der ‚Männerbilder‘ und der ‚Männlichkeitsentwürfe‘ nicht aus.“ (S. 49) Die Aufsätze von Inge Stephan lösen diese Forderung an verschiedenen Stellen ein und setzen damit um, was der Titel verspricht: Eine Darstellung der Codierung der Geschlechter ausgehend von der Inszenierung von Weiblichkeit.
URN urn:nbn:de:0114-qn071209
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