Gesa Dane:
„Zeter und Mordio“.
Vergewaltigung in Literatur und Recht.
Göttingen: Wallstein 2005.
312 Seiten, ISBN 3–89244–861–2, € 32,00
Abstract: Gesa Danes Untersuchung zur Vergewaltigung in Literatur und Recht ist eine präzise Analyse literarischer „Vergewaltigungsfälle“ vor dem jeweiligen zeitgenössischen rechtlichen Hintergrund. Im Vordergrund der Betrachtung stehen Texte von Barockautoren wie Grimmelshausen, Lohenstein oder Calderón de la Barca sowie von Schriftsteller/-innen des ausgehenden 18. und 19. Jahrhunderts wie Wagner, Goethe, Kleist, Lessing oder Hahn-Hahn. Diese Texte hat Dane auf deren anthropologische Konzeptionen von Ehre, Scham und Schande und auf das Tabu des Sprechens über sexuelle Gewalt befragt.
„Vergewaltigung“[1] ist ein Verbrechen, das bis ins 20. Jahrhundert hinein zwischen den Zeilen des literarischen Textes stattgefunden hat. Sie wird vom Gedankenstrich/der Ellipse repräsentiert, ereignet sich im off der theatralen Handlung oder wird als Spur der Erinnerung geschildert. Diese Unaussprechbarkeit der sexuellen Gewalt stellt sich für die Literatur in doppelter Hinsicht als ein Problem dar: Erstens können die Protagonist/-innen innerhalb der literarischen Erzählung die sexuelle Gewalt sprachlich nur schwer zum Ausdruck bringen, zweitens aber muss den Lesenden das Geschehen als solches verdeutlicht werden. Diese Schwierigkeit hat dazu geführt, dass vielfältige Strategien entwickelt wurden, auf das sexuelle Verbrechen zu verweisen, ohne es zu explizieren. Gesa Dane hat sich in ihrer Untersuchung von literarischen Texten des Barock und der beginnenden Moderne auf eine Spuren- und Indiziensuche der sexuellen Gewalttaten begeben. Sie hat sich dabei vor allem der Kontextualisierung von Recht und Literatur gewidmet und die literarischen Fälle im Spiegel der gängigen Rechtsvorstellungen von „Vergewaltigung“ bzw. „Notzucht“ interpretiert. Häufig standen ihr die Rezeptionsgeschichte der einzelnen Werke, d. h. die Auslegung der sexuellen Gewalttaten als Verführung, und die Schwierigkeit, historische Darstellungsformen aus heutiger Perspektive zu verstehen, im Wege. In der methodischen Verknüpfung von Rechtsgeschichte und Intertextualität hat sich Dane die Möglichkeit eröffnet, die Vergewaltigungsfälle eindeutig zu identifizieren und von – dem seit Augustinus virulenten – Vorwurf der Verführung abzugrenzen.
Schwerpunkt ihrer Untersuchung ist der Wandel der Rechtsnormen von „Vergewaltigung“ als Verbrechen gegen die Ehre des Standes oder der Familie hin zum „fleischlichen“ und Sittlichkeitsverbrechen sowie der damit einhergehende Wandel der Deutungen in der Literatur. Dies begründet auch die Auswahl ihrer Texte, die sie vorwiegend aus dem 17. Jahrhundert, aus der Zeit des Carolinischen Rechts (der Constitutio Criminalis Carolina von 1532), sowie aus dem 18./19. Jahrhundert und der Entstehung der neueren Rechtsauffassungen des Allgemeinen Landrechts für die Preußischen Staaten (1794), des Bayerischen (1813) und des Preußischen Strafgesetzbuchs (1851) wählt.
Dane analysiert die literarischen Vergewaltigungsfälle vor dem Hintergrund der Historischen Anthropologie, die sich den symbolischen Formen der menschlichen Existenz, ihren Deutungsmustern und Wahrnehmungsweisen widmet. Auf diese Weise kann sie den historischen Entwicklungen der – auch für die Rechtsprechung relevanten – Konzepte der Ehre bzw. der Schande und Scham folgen und ihre Bedeutung für die sich wandelnde Auffassung von „Vergewaltigung“ im Recht und in der Literatur nachvollziehen. Dabei grenzt sie sich deutlich von diskursanalytischen Ansätzen nach Foucault ab (vgl. S. 18), weil ihr vor allem an einer Untersuchung der Handlungsräume gelegen ist, die die Literatur den Akteur/-innen über die jeweils gültigen Rechtsnormen hinaus eröffnet. Dies ist für sie mit einer diskursanalytischen Herangehensweise nicht einlösbar (vgl. S. 271). Um es gleich vorwegzunehmen: mit dieser Abgrenzung vergibt sich Dane die Möglichkeit, „Vergewaltigung“ und ihre Rechtsprechung in die zeitgenössischen Machtstrukturen einzubetten. Indem sie es ablehnt, Gesetzestexte und literarische Texte als Teile eines Diskurses über die Geschlechterverhältnisse, eines Wissenssystems über Gewalt, Geschlecht und Kollektiv zu begreifen, bleiben ihre Analysen oft wie auf halbem Weg stecken. So erfahren wir zwar einiges über die sich wandelnde Bedeutung der Ehrvorstellungen vom 17. bis zum 19. Jahrhundert und die damit zusammenhängende Wahrnehmung von Schande als kollektivem bzw. individuellem Phänomen, was damit jedoch über die Geschlechterverhältnisse und -hierarchien ausgesagt wird, bleibt offen. Diese Ausblendung ist insofern nicht nachvollziehbar, weil gerade die „Vergewaltigung“ bzw. sexuelle Gewalt ein drastisches Mittel der Unterwerfung und Demütigung von Frauen, Mädchen oder Schwächeren darstellt und somit als ein Instrument der machtvollen Durchsetzung der hierarchischen Geschlechterverhältnisse gelesen werden müsste. Auch können die Veränderungen der Geschlechterverhältnisse im Bezug auf die Ordnungsvorstellung der Kollektive auf diese Weise kaum nachvollzogen werden.
Interessant ist Danes Ansatz der Zusammenschau von Recht und Literatur insofern, weil sich die beiden Bereiche im Hinblick auf die unterschiedlichen Perspektiven auf die beteiligten „Akteur/-innen“ gut ergänzen. Während das Recht den Täter und dessen Verurteilung in den Blick nimmt, erlaubt es die Literatur, den Fokus auf das Opfer und dessen Wahrnehmung der Gewalttat zu richten. Sowohl in Grimmelshausens Coureische als auch in Kleists Die Marquise von O… oder in Hahn-Hahns Gräfin Faustine wird das Leid der Opfer der sexuellen Gewalttaten ausgeführt, die – außer bei Kleist – nach zeitgenössischem Recht jeweils nicht als „Vergewaltigungen“ gelten. Die Literatur stellt daher eine kritische Ergänzung der Rechtsnormen dar, die sie gleichzeitig veranschaulicht (Harsdörffers Erzählungen), in Relation zur Religiosität (Grimmelshausens Coureische) oder zum Naturrecht (Lohensteins Arminius-Erzählung) setzt oder hinterfragt (Wagners Die Kindermörderin, Kleist oder Hahn-Hahn). Eine Untersuchung der Täterperspektiven und deren Handlungsmotive steht dabei allerdings aus, weil die gewählten literarischen Beispiele diesen Bereich nicht erhellen und die Rechtsprechung selbst von Dane nicht einbezogen wird. Auch hier wäre eine anknüpfende diskursanalytische Zusammenführung von Literatur, Gesetzestexten und Rechtsprechung fruchtbar, um das Geflecht der symbolischen Konstruktionen von sexueller Gewalt und Geschlecht zu decodieren.
Überzeugend ist Zeter und Mordio vor allem in der fast schon mit kriminologischer Präzision geführten Spurensuche nach Indizien der „Vergewaltigungstaten“, die in den meisten Fällen nur in Andeutungen und Gesten zu finden sind. Insbesondere die Beobachtung, dass sich Klagegesten als Strategien der Visualisierung von sexueller Gewalt mit der literarischen Repräsentation überkreuzen (vgl. S. 130 ff.), führt dazu, dass sich scheinbar unklare Fälle mit deutlicher Gewissheit als sexuelle Gewalttaten identifizieren lassen (z. B. in Calderón de la Barcas Der Richter von Zalamea, in Goethes Heidenröslein oder in Kleists Die Marquise von O…). Darüber hinaus spielen auch die intertextuellen Bezüge beim Nachweis der „Vergewaltigung“ eine Rolle, die ähnliche Fälle, häufig den der Lucretia, zitieren und sich gleichzeitig davon absetzen. Die Unterscheidung von „Vergewaltigung“ und „Verführung“ ist für die Deutung der jeweiligen literarischen Werke – aber auch in der Rechtsprechung – von erheblicher Brisanz, da sie nicht nur den Sinnzusammenhang völlig verändern, sondern auch die Position des Opfers und des Täters verkehren kann. Hier hat die Rezeption der literarischen Werke häufig einer Verharmlosung der sexuellen Gewalttaten und einer Umdeutung der Texte Vorschub geleistet.
Während die Literatur des Barock den Opfern noch Ausdrucksmöglichkeiten verleiht, das sexuelle Gewaltverbrechen bekannt zu machen, stellt Dane für das 18./19. Jahrhundert eine zunehmende Tabuisierung der „Vergewaltigung“ fest, die sie mit den virulenten Individualisierungstendenzen dieser Zeit erklärt. Eine nahe liegende Analyse der Verbürgerlichung der Gesellschaft und der Bewertung der „Vergewaltigung“ als Sittlichkeitsverbrechen bleibt in diesem Zusammenhang aus. Hier wäre Tanja Hommens Analyse des Konzepts der weiblichen Geschlechtsehre zur Entschlüsselung des Tabus der Unaussprechbarkeit aufschlussreich gewesen[2], da die „Vergewaltigung“ in diesem Kontext die Identität der Frau als Trägerin der sexuellen Ehre verletzt und dauerhaft angreift.
Auch wenn Dane der Literatur das Potenzial zuspricht, den Sachverhalt „Vergewaltigung“ „unzweideutig“ und als (Schmerz-)Erlebnis repräsentieren zu können (S. 95), so bleibt die explizite Darstellung der sexuellen Gewalttat bis ins ausgehende 20. Jahrhundert im Unaussprechlichen. Es scheint, dass der eigentliche Tabubruch nicht in der Rede über die Tat stattfindet, sondern in ihrer drastischen Darstellung. Die sexuelle Gewalt wird dadurch nicht mehr der Vorstellungswelt der Lesenden überlassen, vielmehr werden die Lesenden direkt mit ihr konfrontiert. Inwieweit diese direkte Konfrontation „neue Tabus mit sich führt“ (S. 275) und das Leid einen angemesseneren Ausdruck im Unausgesprochenen findet, bleibt allerdings eine noch zu klärende Frage.
Danes Studie zur „Vergewaltigung“ in Recht und Literatur stellt eine fundierte Grundlage dar, auf die weitere Untersuchungen zum Verhältnis von sexueller Gewalt und Gemeinschaft, zu Relationen von „Vergewaltigung“ und fast zwangsläufig nachfolgendem Tod des Opfers, sei es durch Selbstmord, Bestrafung, Schwäche oder Mord, zur Motivation und Legitimation des Täters sowie zum Topos der Unaussprechlichkeit aufbauen können.
[1]: „Vergewaltigung“ wird in der Rezension als uneigentlicher Begriff verwendet, da die Etymologie des Begriffs im semantischen Feld der „Verletzung einer Gemeinschaft durch Fremde“ angesiedelt ist. Dieser Sinngehalt schwingt in den Bedeutungen von „Vergewaltigung“ bis heute mit, vgl. Koch, Angela (2004): Die Verletzung der Gemeinschaft. Zur Relation der Wort- und Ideengeschichte von „Vergewaltigung“. In: Gehmacher, Johanna; Hauch, Gabriella; Mesner, Maria (Hg.): Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften. Innsbruck et al.: StudienVerlag, S. 37–56.
[2]: Hommen, Tanja (1999): Sittlichkeitsverbrechen: sexuelle Gewalt im Kaiserreich. (Reihe Geschichte und Geschlechter; Bd. 28). Frankfurt a. M., New York: Campus.
URN urn:nbn:de:0114-qn071136
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