Gegen die Macht der Determination

Rezension von Susanne Thiemann

Petra Dodell:

Frauenbilder in der spanischen Novellistik des Siglo de Oro.

Berlin: edition tranvía – Walter Frey 2005.

288 Seiten, ISBN 3–925867–92–9, € 25,00

Abstract: Petra Dodell leistet eine äußerst anregende und innovative Re-Lektüre der Novellen von Cervantes, Céspedes, Lugo und Zayas, die als obligatorisch für alle, die sich mit der spanischen Novellistik des Siglo de Oro auseinandersetzen, einzuschätzen ist. Ihre Herangehensweise, die ausgewählten Texte mit dem Handwerkszeug der (Raum)-Semiotik und der Narratologie strukturell und in Bezug auf das Verhältnis von „Vermittlungsebene“ und „Geschichte“ hin zu analysieren und die hiermit in enger Beziehung stehenden Frauenbildern auf ihren Grad an Dialogizität hin zu untersuchen, führt zu einer Fülle von Einzelergebnissen, die sich nicht auf eine einzelne These reduzieren lassen. Somit erfüllt die Arbeit den Anspruch, den sie an die von ihr untersuchten Texte stellt, selbst: Sie formuliert keinen absoluten Wahrheitsanspruch, sondern schlägt eine Leseweise vor, die als ergänzend zu den bisherigen verstanden werden kann.

Bei der 2003 an der Ludwig-Maximilians-Universität München eingereichten Dissertation Petra Dodells, Frauenbilder in der spanischen Novellistik des Siglo de Oro, handelt es sich um eine mutige, mit den Konventionen der Textgattung brechende Arbeit, die sehr viel anregender und spannender ist als der etwas brav daher kommende Titel zunächst vermuten lässt. Keineswegs handelt es sich um eine der typischen „das Frauenbild bei Autor X“-Arbeiten, die in ihrer Zeit zwar notwendige Aufarbeitung leisteten, mittlerweile aber theoretisch überholt sind und etwas schwerfällig und redundant daherkommen. Dodells Arbeit zeigt: Die Analyse der Frauenbilder kann Lust machen – trotz der gewalttätigen Sujets der ausgewählten Texte. Davon zeugen zumindest der spielerisch assoziative (zuweilen sich allerdings etwas im Arabesken verausgabende und die Transparenz beeinträchtigende) Schreibstil und die ungeheuer kreative und kompetente Re-Lektüre der Novellen von Miguel de Cervantes (Novelas ejemplares, 1613), Gonzalo de Céspedes y Menenses (Historias peregrinas y ejemplares, 1623), Francisco de Lugo y Dávila (Teatro popular. Novelas morales, 1622) und María de Zayas y Sotomayor (Novelas amorosas y ejemplares, 1637, und Parte segunda del Sarao y entretenimiento honesto [Desengaños amorosos], 1647).

Nach einer kurzen, etwas erratischen, doch nach der Lektüre der gesamten Arbeit verständlich werdenden Einleitung, folgt ein ebenfalls knapp gehaltenes, ca. 13 Seiten umfassendes Methodenkapitel, in dem die Verfasserin die Begrifflichkeiten vorstellt, die ihr als Wegzeichen bei ihrem Gang durch die verschiedenen Wirklichkeitsebenen der Texte dienen: Sujet und Weltbild nach Juri M. Lotmann, Polyphonie und Dialogizität nach Michail Bachtin sowie das von Gérard Genette bereitgestellte Analyseinstrumentarium der Narratologie. Hieran schließt sich der in zwei Blöcke gegliederte Hauptteil der insgesamt ca. 270 Seiten umfassenden Arbeit an: Im 2. Kapitel, „Domestikation des animal imperfecto: Die Frau im historischen Kontext“, etabliert Petra Dodell aus drei Traktaten zur Frauenerziehung einen normativen Kanon, vor dem sie „die fiktionalen Texte als individuelle Resonanz“ (S. 13) in Kapitel 3–6 liest.

Ausgehend von der als positive Norm angelegten Messlatte der Dialogizität bringt die Verfasserin ihre Untersuchungsobjekte recht schnell und eindeutig in Hierarchien: Während Fray Martín de Córdoba der Frau in seinem Jardín de Nobles Doncellas (1500) durch den Rekurs auf den freien Willen („yo quiero ser“), zugestehe, sich selbst im Sinne einer Überwindung der naturgegebenen weiblichen Schwäche zu perfektionieren, bedeute Juan Luis Vives‘ Traktat De institutione feminae christianae (1523) (das in der spanischen, nicht von Vives stammenden Version La formación de la mujer cristiana zitiert wird) einen Rückschritt, da er einen kompletten Regelkatalog entwerfe, nach dem die Erziehung der Frau zu modellieren sei. Diese monologisierende Lesart erscheint etwas problematisch, da nicht darüber reflektiert wird, inwieweit die Traktate überhaupt diskursbestimmend waren oder selbst schon Reaktionen und damit auch Variationen des überlieferten Geschlechterwissens darstellten. In der Querelle-Forschung (die hier gar nicht beachtet wird) hat sich nämlich mittlerweile herausgestellt, dass die zahlreichen Traktate, Dialoge und Streitschriften über den Wert und die Bildungsfähigkeit von Frauen viel komplexer und vielschichter rezipiert wurden als bisher angenommen (vgl. z. B. den von Engel, Hassauer, Rand und Wunder herausgegebenen Band Geschlechterstreit am Beginn der europäischen Moderne: Die Querelle des Femmes, Königstein/Taunus 2004). Vives‘ Exemplasammlung zur Verteidigung der christlich gebildeten Frau konnte Humanistinnen wie Luisa Sigea als Fundus und Folie zur Legitimation der eigenen Autorschaft dienen. Es würde sich sicher lohnen, sich nicht von den – in der Neuzeit erst konstituierenden – vorgegebenen Gattungsgrenzen beeindrucken zu lassen und auch Vives‘ Traktat als literarischen Text zu analysieren, d. h. ihn auf seine Vielstimmigkeit hin zu lesen, so wie es die Verfasserin mit Fray Luis de Leóns La perfecta casada unternimmt und den in der Querelle-Forschung (vgl. z. B. die Arbeiten von Hassauer) als Rückschritt hinter Vives geltenden Text zu rehabilitieren sucht.

Die Stärke der Arbeit liegt eindeutig in der Lektüre der Novellen. Im dritten Kapitel „Lokale Fixierung: Die Frau im Innenraum“ werden Raumkonstitution und Karnevalisierung in Cervantes‘ „Novela del celoso extremeño“, Céspedes‘ „Sucesos trágicos de Don Enrique de Silva“, Lugos „Del andrógino“ und Zayas‘ „La esclava de su Amante“ miteinander vergleichen. Sehr überzeugend und stets mit vielen Textbelegen gelingt es der Verfasserin, die Unterschiede der einzelnen Texte und der in ihnen zum Ausdruck kommenden Frauenbilder herauszuarbeiten: Dienen die an Gefängnisse erinnernden Häuser in den Novellen von Cervantes, Lugo und Céspedes hauptsächlich dem Erhalt der weiblichen – und damit männlichen – Ehre, so wird das Haus in den Novellen der Zayas zum Schauplatz des „Machtkampfs der Geschlechter“ (S. 146), das Kloster zur Möglichkeit für Frauen, eigenmächtige Entscheidungen zu treffen. Die auch hier etablierte Hierarchie, die sich in den folgenden Kapiteln verfestigen wird, ist nachvollziehbar: Im Gegensatz zu Cervantes‘ Novellen, die sich als derart offen und vielstimmig erweisen, dass sich auch das jeweilige Frauenbild eindeutigen Zuschreibungen verweigert, sind die Novellen der María de Zayas eher monologisch, stellen aber in Bezug auf den herrschenden männlichen Diskurs eine sinnvolle Ergänzung um die weibliche Perspektive dar, während die Struktur der Novellen von Céspedes rein monologisch und ihr Frauenbild von Vorsehung und Determination geprägt ist.

Auch das vierte Kapitel „Soziale Eliminierung: Vergewaltigungssujets“, in dem die Verfasserin Cervantes‘ irritierende Vergewaltigungsnovelle „La fuerza de la sangre“ mit Céspedes‘ „El Desdén del Alameda“ vergleicht, besticht durch die scharfe Analyse und die Dichte der Befunde, mit deren Hilfe Petra Dodell Licht in das komplexe Zusammenspiel von „Vermittlungsebene“ und „Geschichte“ bringt. Einmal mehr wird die Großartigkeit und Hintergründigkeit der Cervantinischen Erzählkunst deutlich, und es wird nachvollziehbar, warum dieser Autor nach wie vor den ersten Platz in der spanischen Literaturgeschichte verdient hat, obwohl die Verfasserin ursprünglich dazu angetreten war, „Cervantes‘ Hegemonie aufzubrechen“ (S. 10).

Im fünften Kapitel „Raumnahmen“ untersucht Dodell dann anhand der „Historia de Marcela y Crisóstomo“ aus Cervantes‘ Don Quijote, Céspedes‘ Novelle „La constante cordobesa“ und Zayas‘ maravilla „Aventurarse perdiendo“ Versuche von Frauen, eigene Lebensräume und Lebenswege außerhalb der durch die männliche Regie vorgegebenen Norm zu erobern. Diesmal sind es die in Cervantes‘ Text zum Ausdruck kommende Vielstimmigkeit gegenüber der ein freies Hirtenleben anstrebenden mujer esquiva Marcela und der ihr zugestandene eigene Rederaum sowie das in Zayas‘ Jacinta zum Ausdruck kommende weibliche Begehren, die den Frauenfiguren einen aktiven Part in der Erzählung zuteilen. Besonders originell erscheint das Unterkapitel, das Jacinta aufgrund ihrer Imagination, die ihr Begehren weckt und nährt, als weiblichen Crisóstomo behandelt (S. 238–241).

Aufgrund der vorherigen Befunde scheint es nur logisch, dass im 6. Kapitel „Wortergreifungen“ nur noch Cervantes („Novela del curioso impertinente“ aus Don Quijote) und Zayas (Paratexte der beiden Novellensammlungen) zu Wort kommen. Hier wird nun auch der gewählte Gesamtaufbau ersichtlich: Das vorangestellte Kapitel zur Traktatliteratur dient der Verfasserin dazu, ihre Arbeit als Kreis zu gestalten, denn am Ende werden die Traktate als Intertexte zu Cervantes‘ Novelle gelesen. Spätestens in diesem Kapitel wird nun auch das Zayas oft zugeschriebene Attribut, „conservadora“ zu sein, ins rechte Licht gerückt: Es entspricht ihrem sowohl in den Paratexten als auch innerhalb des diegetischen Rahmens explizit dargestellten Anliegen, „die Frau“ aufzuwerten und damit letztlich – wie Dodell überzeugend ausführt –weibliche Autorschaft zu legitimieren.

Mit dem 6. Kapitel endet die Arbeit etwas abrupt: Das fehlende Schlusskapitel wird durch die Zusammenfassungen der Analyseergebnisse in den jeweiligen einleitenden Abschnitten ersetzt. Das Ende dieser originellen und innovativen und für alle, die sich mit der spanischen Novellistik auseinandersetzen, als obligatorisch einzuschätzenden Arbeit, lädt dazu ein, es als mise en abyme für die ganze Arbeit und als Metalepse zur Ebene der Verfasserin zu lesen: Ebenso wie die Protagonistin Camila in Cervantes‘ Novelle bringt Petra Dodell männliche „Determinierungsversuche […] spielerisch zur Sprache und kehrt die Positionen um, macht die auf sie blickenden Männer zu Objekten ihrer Fiktion.“

URN urn:nbn:de:0114-qn071268

Dr. Susanne Thiemann

Universität Potsdam, Institut für Romanistik

E-Mail: thiemann@rz.uni-potsdam.de

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