Frauen in Philosophie und Wissenschaft

Rezension von Regina Harzer

Brigitte Doetsch (Hg.):

Philosophinnen im dritten Jahrtausend.

Ein Einblick in aktuelle Forschungsfelder.

Bielefeld: Kleine 2004.

189 Seiten, ISBN 3–89370–395–0, € 19,90

Abstract: Der von Brigitte Doetsch herausgegebene Band präsentiert die aktuelle Feministische Philosophie und sammelt Beiträge, die Einblick geben in den gegenwärtigen Forschungsstand, wie ihn „Philosophinnen im dritten Jahrtausend“ erreicht haben. Insgesamt neun, zum Teil interdisziplinär ausgerichtete Arbeiten werden vorgestellt. Das Themenspektrum ist weit: Geschichte der Philosophie; Politische Philosophie und Naturphilosophie; Epistemologie; Biopolitik und Bioethik als Bereiche praktischer Philosophie; Forschung über Geschlechterverhältnisse. Alle Beiträge gehen zurück auf eine Vortragsreihe des Braunschweiger Zentrums für Gender Studies. Leser/-innen erhalten einen guten Überblick über die aktuelle Frauenforschung aus der Sicht theoretischer und praktischer Philosophie.

Frauen denken nicht anders, Frauen denken besser

Die Herausgeberin gibt im ersten Beitrag (S. 9–15) Auskunft über die Entstehung des vorliegenden Bandes. Darüber hinaus skizziert sie den aktuellen gleichstellungspolitischen Stand als eine subtil angespannte Situation, in der Universitäten und Hochschulen der Frauen- und Geschlechterforschung zunehmend unengagiert begegnen.

Im zweiten Beitrag (S. 17–28) von Ruth Hagengruber geht es um die „Neuorientierung im Verhältnis von Philosophie, Wissenschaft und Feminismus“. Hagengruber greift historische Aspekte der Philosophie auf und entwickelt gleichzeitig eine spezifische Perspektive auf feministische Diskurse, in denen es nach Ansicht der Autorin insbesondere darum gehe, das „Anliegen der Frauen in der theoretischen Darstellung bewahrt zu wissen“ (S. 24). Die vornehmliche Aufgabe feministischer Wissenschaftstheorie bestehe darin, Bedingungen der Möglichkeiten von abstraktem Erkennen und konkreter Begrifflichkeit zu erforschen; die praktische Seite politischer Handlungskonzepte habe sich daran zu orientieren.

Martina Plümacher beschäftigt sich im dritten Beitrag (S. 29–51) mit „Gender-Perspektiven in der Perspektive einer Philosophie epistemologischer Perspektivität“. Der Aufsatz besteht aus zwei Abschnitten: im ersten theoretischen Teil wird eine „Philosophie der Perspektivität“ dargelegt, und im zweiten praktischen Teil erfolgt eine Auseinandersetzung mit Seyla Benhabib und Judith Butler. Perspektivität des Erkennens bestehe zwar als „Abhängigkeit von bestimmten Erkenntnismotiven“, gemeint sei aber das entwickelte Bewusstsein über bestimmte Gegenstandsaspekte (S. 29) als „Perspektivität des Denkens“ (S. 30). Verschiedene Perspektiven gelten weithin als Vermittlung kontroverser Standpunkte. Demgegenüber gelingt der Verfasserin auf der Basis des ersten Teils der Nachweis, dass unterschiedliche Perspektiven auch Ergänzungspotentiale beinhalten. Plümacher veranschaulicht dies an der von Benhabib und Butler geführten Kontroverse.

Kritische Philosophie und Feminismus-Kritik

Im vierten Beitrag über „Feministische Philosophie – aktuelle Perspektiven“ (S. 53–68) zieht Herta Nagl-Docekal einerseits Zwischenbilanz über „feministisch motiviertes Philosophieren“ (S. 53) und erläutert andererseits die heutige Situation, Errungenschaften, Auseinandersetzungen, Beantwortung offener Fragen sowie Perspektiven für die Bewältigung künftiger Aufgaben. Der pessimistischen Bestandsaufnahme hinsichtlich einer „weitgehenden Nichtbeachtung der Ergebnisse“ feministischer Forschung (S. 54) stellt die Autorin optimistische Analysen zur enormen Leistungsfähigkeit einer undogmatischen Frauen- und Genderforschung gegenüber. Der Beitrag ist ein gelungener Versuch zur „Entdogmatisierung“ feministischer Philosophie. Nagl-Docekal verdeutlicht ihr Anliegen durch Schilderung einiger zentraler Differenzierungsprozesse: Infragestellung des „Weiblichen“ als Begrifflichkeit; Geschlechterdifferenz aufgrund normativer Festlegung als rhetorische Übertreibung; Kontraproduktivität einer Konzeption, die Autonomie und Gleichheit als männliche Konstruktion etikettiert; internationaler Gerechtigkeitsdiskurs.

Der Gegenstand des Beitrags von Teresa Orozco (S. 69–90) bezieht sich auf die politische und staatsrechtliche Theorie von Carl Schmitt. „Männlichkeitskonstruktionen“ und „Maskulinisierungsstrategien“ werden als Grundbegriffe seiner Staatsauffassung herausgearbeitet. Der Aufsatz setzt sich mit der zeithistorischen Rezeption auseinander, der Verfasserin gelingt es aber auch, eine aussagekräftige Zusammenfassung originärer Textstellen aus dem Werk von Carl Schmitt zu präsentieren. Dabei wird durchgehend der aktuelle politische Bezug unter differenziertem Zugrundelegen von bürgerlicher Gesellschafts- und staatlicher Begründungsstruktur hergestellt. In einem kritischen Fazit verlangt die Verfasserin folgerichtig den „längst überfälligen Gender-Vertrag“ (S. 86).

Sokrates als Frau?

Brigitte Rauschenbachs Beitrag (S. 91–113) trägt den Titel: „‚Wenn Sokrates eine Frau gewesen wäre …‘ – Denken an der Grenze des Undenkbaren“. Der Verfasserin geht es darum, ob und wie sich Normativität theoretisch und praktisch auf Geschlechterordnungen auswirken kann und auswirkt. Sie nimmt für diese Fragestellung die Position des „kritischen Irrealis eines weiblichen Sokrates“ (S. 91) ein. Vorgeführt wird damit die Bedeutung von hypothetischem Denken für politische Philosophie und praktische Konzeptionen in Geschlechterordnungen. Das im Titel erwähnte Zitat geht auf Marie de Gournay zurück, eine Autorin des 16. Jahrhunderts und Zeitgenossin von Michel de Montaigne, und es lautet vollständig: „Wenn Sokrates eine Frau gewesen wäre, wäre sie eine der skandalumwitternsten Frauen Athens gewesen“. (S. 92). Konjunktivistisches, hypothetisches Denken soll als „Gedankenspiel“ provozieren (S. 94). Die Verfasserin bezieht sich im weiteren Verlauf der Untersuchung auf aktuelle Verhältnisse, in denen Geschlechterordnungen ebenfalls anhand hypothetischer Fragestellungen analysiert werden können. Mit einem Plädoyer für die „Wiedergewinnung des Konjunktivs“ (S. 111) im philosophischen Denken und Erkennen legt Rauschenbach eine theoretische Grundlage, Denkfiguren für praktische Verhältnisse fruchtbar werden zu lassen. Aus Sicht feministischer Philosophie wurde für diese Konzeption ein wesentlicher Schritt erarbeitet.

Natur und Kultur: Technik, Wissenschaft und angewandte Ethik

Der Aufsatz von Jutta Weber trägt den Titel: „Hybride Technologien – Technowissenschaftsforschung als transdisziplinäre Übersetzungspolitik“. Es geht um den Zusammenhang von Kultur und Natur und um eine fragmentarische Theorie von Transdisziplinarität unter dem Stichwort „Geschlecht als hybride Technologie“ (S. 121): Technologie und feministische Forschung erweisen sich als Teil paralleler Entwicklungsstrukturen. Die Verfasserin analysiert diese Strukturen: Bedingungen und Möglichkeiten eines „radikal transdisziplinären Arbeitens und Denkens“ seien damit konfrontiert, „dass die Diskurse der Humanwissenschaften in unserer heutigen Kultur schon längst und zutiefst mit denen der Technowissenschaften verflochten“ (S. 117) seien.

Im achten Beitrag erläutert Susanne Lettow „Das Dispositiv der Bioethik. Elemente einer feministischen Kritik“ (S. 153–173). Einerseits geht es ihr um die theoretische Herausforderung, angewandte Ethik bestimmbar zu machen, andererseits um eine philosophische Stellungnahme aus feministisch-kritischer Sicht für den speziellen Bereich bioethischer Praxen. Theoretisch werden utilitaristische und an der Moralphilosophie Kants orientierte Konzepte bemüht (vgl. S. 160 ff.). Die Verfasserin vertritt die These, beide Konzepte konvergierten in ihren ökonomisierender Tendenzen. Gewagt ist diese These nur auf den ersten Blick; Lettow bezieht sich nämlich folgerichtig auf den Rechtscharakter dieser Moralphilosophien. Im aktuellen Umgang werden angewandte Ethiken, also auch Bioethik, zum Rechtsproblem: Rechtswissenschaft spiele im bioethischen Diskurs eine zentrale Rolle (vgl. S. 164). Schließlich kritisiert die Verfasserin derartige Zuständlichkeiten aus der „Perspektive einer feministischen Transformation der Bioethik“ (S. 165). Eine Orientierung auf Differenzen leistet nach Auffassung der Autorin „keine Kritik des Dispositivs der Bioethik“ (S. 166). Vielmehr bedürfe es eines kritischen Selbstverständnisses, in dem Autonomie und Selbstbestimmung auch als Grundlage eines kritischen Weltverhältnisses zu sehen sind.

Life-Sciences: Biologie und Transzendentalphilosophie

Im letzten Beitrag (S. 175–184) widmet sich Elisabeth List den „Grenzen der Erkennbarkeit – Thesen zur Epistemologie des Lebendigen“. Durch wissenschaftliche Errungenschaften seitens der Biologie als Wissenschaft vom Lebendigen sei belegt, dass es Grenzen der Erkenntnis und dass es Grenzen entwickelter Wissenschaftstheorien gibt. Die Verfasserin möchte das Verhältnis von Subjekt und Objekt des Erkennens aktualisieren bzw. fragen, was „das Leben überhaupt“ (S. 175) sei. Neueren Entwicklungen zufolge werden Begrifflichkeiten wie „Lebenswissenschaft“ und „life sciences“ herkömmlichen Disziplinen und ihren Bezeichnungen als Naturwissenschaften gegenüber gestellt. Wichtige Konsequenz: „Das erkennende Subjekt wäre demnach zugleich Subjekt und Objekt seiner Erkenntnis, der Erkenntnisprozess selbst Teil des Zusammenhangs, den es zu erfassen sucht.“ (S. 176). Nach einem historischen Rückblick auf verschiedene Modelle der Epistemologie des Lebendigen begründet die Autorin sehr überzeugend eine Theorie der Subjektivität des Lebendigen. Sie lehnt sich durchaus an die Kantische Transzendentalphilosophie an: „Wir erfassen die Subjektivität des Lebendigen, weil sie zu unserer eigenen epistemologischen Grundausstattung gehört. Subjektivität, so könnte man kantisch formulieren, ist die Bedingung der Möglichkeit biologischer Erkenntnis.“ (S. 179). Zutreffend konstatiert die Verfasserin, bei „reiner Objektivität“ handele es sich um bloße „Fiktion“ (S. 180). Hier liege die Grenze der Erkennbarkeit und gerade durch diese begrenzte Erkenntnis führten Erfahrungsgrenzen zur Erkennbarkeit des Lebendigen, die unvollständiger Prozess bleibt.

Fazit

Zusammenfassend betrachtet vermittelt der Sammelband philosophische Grundlegungen feministischer Frauenforschung ebenso wie trans- und interdisziplinärer Forschungsfelder, in denen hoch qualifizierte Wissenschaftlerinnen tätig sind. Sowohl theoretisch-philosophische Auseinandersetzungen als auch sozialphilosophische Fragestellungen mit naturwissenschaftlichen Bezugnahmen wurden ausgewogen integriert. Das Buch enthält durchgehend aussagekräftige und lesenswerte Beiträge und ist uneingeschränkt empfehlenswert.

URN urn:nbn:de:0114-qn071096

Prof. Dr. Regina Harzer

Universität Bielefeld, Fakultät für Rechtswissenschaft, Lehrstuhl für Strafrecht, Strafprozessrecht und Rechtsphilosophie

E-Mail: regina.harzer@uni-bielefeld.de

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