Dagmar Herzog:
Die Politisierung der Lust.
Sexualität in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts.
München: Siedler 2005.
431 Seiten, ISBN 3–88680–831–9, € 24,90
Abstract: Dagmar Herzog bietet mit der vorliegenden Untersuchung einen ersten und in diesem Sinne beachtenswerten, körper- und geschlechtergeschichtlich aber grundsätzlich ergänzungsbedürftigen Überblick zur Geschichte der Sexualität in Deutschland im 20. Jahrhundert. Im Zentrum der Studie steht das sich wandelnde Verhältnis zwischen Sexualität und Vergangenheitspolitik in der Bundesrepublik, insbesondere die Politisierung der Sexualität um ‚1968‘. Eher rückblickend geraten die Adenauerära und der Nationalsozialismus in den Blick. Der Titel der amerikanischen Originalausgabe bringt diesen Themenschwerpunkt deutlich zum Ausdruck: Sex after Fascism.
Die vorliegende Übersetzung wurde bereits unmittelbar nach Erscheinen in allen großen Zeitungen mehr oder weniger ausführlich besprochen, und einige gewichtige Kritikpunkte sind in diesem Zusammenhang bereits thematisiert worden. Dazu gehört die Feststellung, dass die Studie nicht auf einem homogenen bzw. systematisch zusammengetragenen Quellenkorpus basiert. Mitunter gewinnt man daher den Eindruck: Berücksichtigung findet, was den Gang der Argumentation befördert. Auch besitzt das Buch keinen ausformulierten und zur Diskussion gestellten analytischen Bezugsrahmen. Verwunderlich ist dabei insbesondere, dass Herzog keinerlei Bezug nimmt auf die theoretischen und methodischen Reflektionen Michel Foucaults oder Judith Butlers – obwohl diese inzwischen zum Kanon der Sexualitätsgeschichte im Besonderen und der Körper- und Geschlechtergeschichte im Allgemeinen zählen und obgleich sich diese in der empirischen Forschung als überaus erkenntnisfördernd erwiesen haben.
Der erste Teil der Untersuchung ist der Geschichte der Sexualität im Nationalsozialismus gewidmet. Herzog wendet sich in diesem Kontext vor allem gegen das um ‚1968‘ fest etablierte und seitdem eifrig reproduzierte Bild vom sexuell verklemmten ‚Dritten Reich‘. Sie macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Sexualität im Nationalsozialismus nicht ausschließlich auf Geburten- und Bevölkerungspolitik im Rahmen von Ehe und Familie reduziert werden sollte. Über vorehelichen Geschlechtsverkehr und größtmöglichen Lustgewinn wurde durchaus recht offen und mitunter auch öffentlich gesprochen, zum Beispiel im Rahmen der florierenden Ratgeberliteratur. Ob man jedoch sogleich von einem „nachdrücklichen Ansporn des Regimes zu freizügigeren sexuellen Sitten“ sprechen sollte (S. 75) und das ‚Dritte Reich‘, so die These, „in vielerlei Hinsicht eine lockere Zeit“ darstellte (S. 123), darf dann doch bezweifelt werden. Zwar verliert Herzog weder die Verfolgung von Homosexuellen noch die Rassengesetze und Euthanasiemorde aus dem Blick – hin und wieder verschwimmt allerdings der Unterschied zwischen tolerierten Stellungnahmen und offizieller Regierungspolitik. Des öfteren sind es sogar lediglich Interviews mit ehemaligen Zeitzeugen, die den Gang der Argumentation tragen.
Nicht der Nationalsozialismus, sondern erst die Adenauerära sei „sexualpolitisch konservativ“ gewesen. Unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges, so verdeutlichen der zweite und dritte Teil der Studie, sprach man noch regelmäßig von den vermeintlich „freizügigeren sexuellen Sitten“ im ‚Dritten Reich‘. Verschiedentlich wurden dabei die nationalsozialistischen Massenverbrechen zurückgeführt auf den apostrophierten Verfall der ‚Sexualmoral‘ nach 1933. Sehr überzeugend rekonstruiert Herzog in diesem Zusammenhang die gewichtige Rolle der Kirchen für die Sexualpolitik der 50er und frühen 60er Jahre, die sich auch in diesem Fall als aufrechte Gegner des Nationalsozialismus imaginierten und inszenierten. Erst in den späten 50er Jahren sei die Erinnerung an die „lustfördernden Aspekte des Nationalsozialismus“ sukzessive verdrängt worden (S. 80). Das Bild vom sexuell verklemmten ‚Dritten Reich‘ erweise sich dergestalt als „postfaschistische Erfindung“ (S. 170), Herzog spricht von einer „Strategie für den Umgang mit der Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust“ (S. 128 f.). Die nicht zuletzt gegenüber den Alliierten zur Schau gestellte Rolle der Deutschen als Opfer des Nationalsozialismus vertrug sich nicht, so die These, mit dem Umstand, „dass man am ‚Dritten Reich‘ durchaus Vergnügen gefunden hatte“ (S. 130).
Wie überaus erfolgreich diese in den späten 50er Jahren einsetzende „Verleugnungsstrategie“ war, zeige allen voran das Bild, das sich die Studentenbewegung in den 60er und 70er Jahren vom Nationalsozialismus gemacht habe. Der vierte Teil der Untersuchung rekonstruiert, wie sich ausgehend von den Auschwitzprozessen seit 1963 ein Bild etablierte, das maßgeblich auf der „Verbindung von Nationalsozialismus mit unterdrückter Sexualität“ beruhte (S. 165). Im Zentrum der Studentenbewegung stand demnach die ebenso „feste wie falsche Überzeugung […] der Holocaust sei das perverse Produkt unterdrückter Sexualität“ (S. 123). Diskussionsbedürftig bleibt, ob Herzog nicht übertreibt, wenn sie die Studentenbewegung vor diesem Hintergrund nicht als antifaschistische, sondern „in erster Linie als antipostfaschistische Bewegung“ charakterisiert (S. 170).
Zwar verortet Herzog die innerhalb der Studentenbewegung massiv vorangetriebene Politisierung der Sexualität – die viel zitierte ‚sexuelle Revolution‘ – zu Recht im Kontext einer immer breitere Bevölkerungskreise erfassenden ‚Sexwelle‘, welche die Bundesrepublik bereits Mitte der 60er Jahre erreichte. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang in aller Kürze auf die zahllosen Aufklärungsfilme der 60er und 70er Jahre, auf die Ende der 60er Jahre einsetzende ‚Pornowelle‘ sowie auf die sich im selben Zeitraum neu konstituierenden Sexualwissenschaften. Es wäre jedoch interessant gewesen, die körper- und geschlechtergeschichtliche Dimension unterschiedlicher Aufklärungsfilme und deren jeweilige Rezeption detailliert in den Blick zu nehmen. Auch die ausgesprochen kontrovers geführte Debatte um die Wirkung und das Verbot von Pornographie zwischen Ende der 60er und Ende der 80er Jahre findet kaum Beachtung. Ebenso versäumt es Herzog, die zutreffend konstatierte „Hinwendung zum Empirismus“ innerhalb der Sexualwissenschaften auf deren die Sexualität normierenden und normalisierenden Effekte hin zu befragen. So wäre es aufschlussreich gewesen, den vor allem innerhalb der Kommune- und Kinderladenbewegung weit verbreiteten Drang zum Geständnis ‚sexueller Intimitäten‘ einmal im Kontext dieser „Hinwendung zum Empirismus“ zu betrachten. Eine solche Kontextualisierung wäre, wie man meinen darf, erkenntnisfördernder als die den Gang der Argumentation mitunter prägende Psychologisierung: Welchen Erkenntniszuwachs gewinnt man, wenn man die innerhalb der Kommune- und Kinderladenbewegung häufig formulierte Ablehnung der ‚bürgerlichen Kleinfamilie‘ auf den „unbewussten Wunsch […] nach Ermordung der eigenen Eltern“ zurückführt (S. 211)?
Auch wenn man die vorliegende Arbeit in dieser Hinsicht kritisieren mag, so gilt es doch festzuhalten: Herzogs Blick auf die Studentenbewegung ist keineswegs – wie verschiedentlich behauptet – denunziatorisch.
Während im fünften Teil die Geschichte der Sexualität in der DDR überflogen und diese insgesamt als „schrittweise Evolution“ gekennzeichnet wird (S. 233 f.), steht im sechsten und letzten Teil der Studie wieder die Entwicklung in der Bundesrepublik im Mittelpunkt, die Nachgeschichte der ‚sexuellen Revolution‘ in den 70er und 80er Jahren. Nicht nur die Studentenbewegung, so die These, auch die Frauenbewegung und die Schwulen- und Lesbenbewegung konstituierten sich unter stetigem Verweis auf die nationalsozialistischen Massenverbrechen und die vermeintlich unterdrückte Sexualität im ‚Dritten Reich‘. Erst Ende der 80er bzw. Anfang der 90er Jahre, nach der Vereinigung mithin, sei diese Verbindung von Sexualität und öffentlicher Erinnerung an den Nationalsozialismus auf breiter Ebene gekappt worden. Seitdem, so das Fazit und wohl auch der Ausgangspunkt der Untersuchung, stehe die öffentliche Erinnerung an ‚1968‘ im Zentrum der Auseinandersetzung.
Das Verdienst der vorliegenden Arbeit besteht darin, die Verbindung zwischen Sexualität und öffentlicher Erinnerung an das ‚Dritte Reich‘ – in dieser Nachdrücklichkeit zum ersten Mal – herausgearbeitet zu haben. Sexualpolitik war nach Ende des Zweiten Weltkrieges und vor allem um ‚1968‘ stets auch: Vergangenheitspolitik.
Herzog betreibt Sexualitätsgeschichte in diesem Sinne vor allem als Politikgeschichte, als Politikgeschichte indes in einem dann doch recht traditionellen Sinne des Wortes: Denn der vorliegenden Arbeit geht es in erster Linie um die politische Repräsentation und politische Inanspruchnahme der Sexualität, der Begriff der Politik bleibt dabei weitestgehend beschränkt auf den öffentlichen Deutungskampf um das Bild, das sich ‚die deutsche Nation‘ bzw. ‚die deutsche Gesellschaft‘ von sich und der eigenen Vergangenheit macht. Vor allem die in diesem Rahmen als politisch ausgewiesene Instrumentalisierung der Sexualität stößt als politisches Phänomen auf Interesse. Herzog betreibt Sexualitätsgeschichte hingegen allenfalls am Rande als Körper- und Geschlechtergeschichte. Die Sexualität selbst, die sich wandelnden sexuellen Praktiken sowie die körper- und geschlechterpolitischen Effekte, die sich wandelnde Sexualitätsdispositive zeitigen oder nicht zeitigen, finden daher zu wenig Beachtung. Die Untersuchung konzentriert sich, wie man meinen darf, zu einseitig auf die Ebene der Repräsentativität und vernachlässigt in diesem Zusammenhang die Ebene der Performativität: Die Sexualität selbst gerät auf diese Weise nicht ausreichend als politisches – Menschen als männliche oder weibliche, schöne oder hässliche, gesunde oder kranke Subjekte oder Objekte konstituierendes und hierarchisierendes, disziplinierendes und regulierendes – Phänomen in den Blick.
URN urn:nbn:de:0114-qn071072
Pascal Eitler, M.A.
Universität Bielefeld, Fakultät für Geschichtswissenschaft
E-Mail: Pascal.Eitler@uni-bielefeld.de
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