Psychiatrie im Nationalsozialismus. Zwangssterilisation und Euthanasie am Beispiel des Saarlandes

Rezension von Torsten Mergen

Christoph Braß:

Zwangssterilisation und ‚Euthanasie‘ im Saarland 1935–1945.

Paderborn: Ferdinand Schöningh 2004.

368 Seiten, ISBN 3–506–71727–8, € 39,90

Abstract: In seiner ausführlichen und anhand zahlreicher Patientenakten erarbeiteten Dissertationsschrift untersucht Christoph Braß die Folgen des rassenhygienischen Denkens am Beispiel des Saarlandes von 1935 bis 1945. Dabei analysiert er einerseits systematisch die Vorgänge im Rahmen der Zwangssterilisation von psychisch Kranken und Behinderten, andererseits zeigt er exemplarisch Vorgeschichte, Verlauf und Ergebnisse der Euthanasie an saarländischen Patienten. Es entsteht eine eindrucksvolle und durch die dichte Darstellung Betroffenheit auslösende Studie, die eine wichtige Lücke der NS-Forschung schließt.

Seit der 1986 erschienenen Studie von Gisela Bock zum Thema Zwangssterilisation im Nationalsozialismus wird allmählich das Ausmaß des rassistisch-eugenischen Denkens im sog. Dritten Reich erkannt: Im Mittelpunkt stehen nicht mehr ausschließlich die unter dem Deckmantel von „kriegswichtigen Gründen“ verübten Krankenmorde der Weltkriegsjahre, die seit den späten sechziger Jahren von der Geschichtswissenschaft untersucht wurden. Viel stärker rekonstruiert die neuere Forschung die Voraussetzungen und den Paradigmenwechsel, welche zu dem unethischen und skrupellosen Umgang mit Behinderten und Kranken im Rahmen des „Gesetzes zur Verhütung erbkranken Nachwuchses“ geführt haben.

Forschungsinteresse und Quellengrundlage

Vor dem Hintergrund dieses wissenschaftlichen Spannungsbogens dokumentiert und analysiert Christoph Brass in seiner Saarbrücker Dissertation aus dem Jahre 2002 die Hintergründe, den Ablauf und die Handlungsmöglichkeiten, Verhaltensoptionen sowie -motivationen von Tätern, die an Zwangssterilisation und Euthanasie im Saargebiet der Jahre 1935 bis 1945 mitgewirkt haben, sowie der Opfer, die davon betroffen waren. In dieser Arbeit, eine der letzten Dissertationen, die von der Saarbrücker Historikerin Elisabeth Fehrenbach betreut wurden, geht es um ein Anliegen, das durch eine mehr als befriedigende Quellenlage begünstigt wurde: „Insgesamt konnten […] Informationen über mehr als 1.250 namentlich belegbare Patienten aus dem Saarland zusammengetragen werden, von denen die meisten während des Dritten Reiches ums Leben kamen.“ (S. 13) Ausführlich kann der Autor dank der Unterstützung der zwischenzeitlich umstrukturierten saarländischen Landeskrankenhäuser in Merzig und Homburg auf einen reichen Fundus an Patientenakten rekurrieren, die aus der genannten Zeitspanne in den ehemaligen Landesnervenkliniken vorzufinden waren.

Die Zwangssterilisation im Saarland seit 1935

Dem unprätentiösen Titel der Studie entsprechend geht Braß in zwei Schritten vor: Nach einer knappen Einführung in die Problematik rassenhygienischer und erbbiologischer Argumentation analysiert er akribisch die Quantität, Praxis und Ideologie der Zwangssterilisation im Saarland. Dabei kann er zeigen, dass das zuständige Erbgesundheitsgericht in Saarbrücken mit einer eher passiven Haltung in der saarländischen Ärzteschaft umzugehen hatte. Dennoch wurde ein breites Spektrum an Psychiatriepatienten sterilisiert – in der Klassifikation der damaligen Zeit: Schwachsinnige, Schizophrene, Manisch-Depressive, Taube, Blinde, Alkoholiker, Missgebildete, Juden und ausländische Anstaltsinsassen. Mit welch willkürlichen Maßstäben über das Schicksal von Menschen geurteilt wurde, zeigt Braß an vielen Einzelfällen; ein beredtes Zeugnis sei hier zitiert: „Ihrem geistigen Tiefstand entsprechend hat sie sich im Leben nicht bewährt. Sie hat drei uneheliche Kinder von drei verschiedenen Vätern, von denen einer erst 17 Jahre alt war.“ (S. 98)

Die „dunklen Jahre“ – der Krankenmord an den Anstaltsinsassen (1939–1945)

Im Kapitel über „Saarländische Psychiatriepatienten als Opfer des nationalsozialistischen Krankenmordes“ zeigt sich das methodische Können des Autors, der minutiös und partiell erschöpfend die verworrenen Verlegungswege der Patienten aus den saarländischen Anstalten rekonstruiert. Dabei kommt Braß zu einer wichtigen Erkenntnis: „Ein Hauptgrund dafür, dass die Psychiatriepatienten aus dem Saarland vom nationalsozialistischen Krankenmord härter betroffen waren als ihre Schicksalsgenossen in den meisten anderen Regionen Deutschlands, dürfte u. a. darin bestanden haben, dass die Anstalten im Saarland – ähnlich wie im Osten des Reiches – zu Beginn des Krieges im Rahmen eines militärischen Kontextes geräumt worden waren.“ (S. 329) Nach diversen Zwischenlagern sollten Hadamar und Eichberg bis zum Kriegsende zu den Stätten werden, an denen die meisten saarländischen Psychiatriepatienten den Tod fanden. Mindestens 418 saarländische Patienten waren Opfer der von Adolf Hitler angeordneten „Aktion T 4“; der so genannten wilden Euthanasie nach den öffentlichen Protesten wichtiger Kirchenvertreter sind noch mehr Menschen zum Opfer gefallen, so dass 1945 nur 80 von ursprünglich rund 1500 Personen die rassenhygienischen Maßnahmen überlebt hatten.

Dreifacher Erkenntniswert der Studie

Die Studie von Christoph Braß verdient dreifache Aufmerksamkeit: An erster Stelle ist hier eine wichtige regionalgeschichtliche Forschungslücke im Hinblick auf die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft an der Saar geschlossen worden. Des Weiteren erlaubt gerade die profunde Kenntnis der regionalen Lage, manch überbetriebene Zahlenakrobatik der älteren Forschung in ein rechtes Licht zu rücken. Beispielsweise kann Braß am Ende seiner zahlengesättigten Argumentation nachweisen, dass die tatsächliche Zahl der Zwangssterilisierten deutlich niedriger ausgefallen sein müsste als dies bisher angenommen wurde: Rechnet man die saarländischen Daten auf das Deutsche Reich hoch, gelangt man auf einen Wert, der bei 0,5 Prozent der Gesamtbevölkerung liegen müsste (vgl. S. 333).

Ohne in die Haltung eines Revisionisten zu verfallen, geht es Braß drittens bei seiner exakten Analyse um das Aufzeigen von Handlungsalternativen, die es in einem pseudototalitären Raum durchaus gegeben hat. Nicht für alle beteiligten Ärzte galt, was eine Anstaltspatientin 1941 schriftlich festgehalten hat: „Wenn man hier vom Sterben schreibt, meinen die noch, man wolle es gerne, so verrückt sind die, die drehen als [recte: alles] rum, die verstehen kein Deutsch. Was mögen sie auf die Todesbescheinigung schreiben?“ (S. 11)

Neben vielen abstoßenden Befunden, die sich bis zu Medizinerkarrieren nach 1945 erstrecken, gibt es nach den Erkenntnissen von Braß auch die andere Seite: Ärzte, die Patienten für die Verlegungen in die Tötungslager transportunfähig schrieben, Pfleger, die Angehörige benachrichtigten, und Angehörige, die massiv nach ihren Verwandten fragten.

Es entsteht so ein Mosaik von Verhaltensmustern, das allzu vereinfachenden Pauschalurteilen entgegenwirkt. Dies dürfte gerade in der aktuellen Debatte um korrektes ärztliches Verhalten bei gentechnischen Eingriffen dringend notwendig sein, damit nie wieder eine Zeit kommt, die mit Erlebnissen wie dem Folgenden endet. Die ehemalige Merziger Patientin Elfriede Urban verstarb im Rahmen der „Aktion T 4“, ihre offizielle Todesursache wurde mit Lungenentzündung benannt. Ihren Verwandten blieb nur anonyme Asche: „Im Krematorium wurde uns eine Urne ausgehändigt, auf deren Deckel ein Schildchen mit dem Namen, Geburts- und Sterbetag meiner Schwester angenietet war. Ein katholischer Priester von Bernburg, mein Bruder Philipp und ich haben dieses Gefäß auf dem Friedhof III in Bernburg in einem Urnengrab beigesetzt.“ (S. 257)

URN urn:nbn:de:0114-qn071187

Torsten Mergen

Saarbrücken

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