Religionsgeschichte im Taschenformat

Rezension von Friederike Schneider

Adolf Holl:

Die unheilige Kirche.

Geschlecht und Gewalt in der Religion.

Stuttgart: Kreuz 2005.

200 Seiten, ISBN 3–7831–2593–6, € 14,95

Abstract: Adolf Holl liefert eine etwas oberflächliche, aber gut geschriebene Betrachtung diverser religiöser Phänomene in ihrem jeweiligen historischen und sozialen Kontext. Er befasst sich unter anderem mit der Religiosität bäuerlicher Kulturen seit der Steinzeit, dem König- und Priestertum, der New-Age-Bewegung und der Marienverehrung. Der Titel des Buches ist irreführend.

Mit seinem 1971 erschienenen Buch Jesus in schlechter Gesellschaft zog der österreichische Theologe Adolf Holl (geb. 1930) die Aufmerksamkeit und den Unwillen der Kirche auf sich. Man entzog ihm 1973 die Lehrerlaubnis und suspendierte ihn 1976 vom Priesteramt. Seither arbeitet Holl als Religionssoziologe und freier Schriftsteller; 2003 wurde ihm der österreichische Staatspreis für Kulturpublizistik verliehen. Mit zahlreichen Publikationen und Medienauftritten verbreitet Holl seine zum Teil kontrovers diskutierten Thesen.

Den Inhalt des vorliegenden Bandes kann man allerdings beim besten Willen nicht als provokant bezeichnen; trotz des vielversprechenden Titels kommt hier nichts zur Sprache, was ein Theologiestudent im ersten Semester nicht wüsste oder wissen sollte. Es werden keine dunklen Geheimnisse enthüllt, und über weite Strecken ist auch weder von Geschlecht noch von Gewalt die Rede. Vielmehr handelt es sich im Wesentlichen um eine kurze, recht originelle Geschichte religiöser Ideen und religionsbezogener Phänomene.

Adolf Holl geht von der Annahme aus, dass alle großen Religionen repressive Tendenzen zeigen, und untersucht in einem historischen Abriss die Folgen dieser „unterdrückten Obsessionen“ auf Individuum und Gesellschaft. Das Buch ist für ein breites Lesepublikum konzipiert und erhebt keinen Anspruch auf wissenschaftliche Akribie; dies sollte man bei der Lektüre bedenken wie auch die Tatsache, dass es sich um den Nachdruck des bereits 1991 unter dem Titel Im Keller des Heiligtums erschienenen Werkes handelt. Nicht alle Informationen befinden sich auf dem aktuellsten Stand.

Der Band ist in zehn Kapitel gegliedert; zunächst führt der Autor das Bild des 13. Schlüssels aus einem bekannten Märchen der Gebrüder Grimm ein, welcher zu der verbotenen Türe gehört, hinter der sich geheime Wünsche und unerfüllte Sehnsüchte verbergen. In mehr oder weniger chronologischer Reihenfolge schildert Holl die unterschiedlichen Ausprägungen religiöser Gedankenwelten und Machtausübungen im Verlauf der Geschichte der Menschheit. Beginnend mit dem „bäuerlichen Universum“, das seine Anfänge in der Urzeit hatte und sich mit seiner Betonung auf Fruchtbarkeit, Magie und Weiblichkeit bis heute eine gewisse Kontinuität bewahren konnte, spricht Holl über das alte Israel, antike Kulte, Indien und seine Götterwelt, Hexen und den bösen Blick. Anschließend wendet sich der Autor dem Königtum und seiner engen Verbindung mit der Religion zu sowie dem unausweichlichen Prozess der Säkularisierung.

Das 4. Kapitel befasst sich dann mit den Anfängen und der Entwicklung organisierter, mächtiger Priesterschaften und Tempelkulturen und dem in der Vergangenheit weit verbreiteten, bisweilen exzessive Formen annehmenden Opferwesen. Im darauf folgenden „Bund der Liebe“ geht es um die Entstehung des Christentums und anderer charismatischer Sekten und Kulte und deren Phänomenologie.

Eine sehr interessante Untersuchung zu Klöstern und klösterlichen Gemeinschaften in verschiedenen Kulturen findet sich im 6. Kapitel „Das Ideal der Keuschheit“; nach Holl boten Klostergemeinschaften einen alternativen Lebensentwurf, um gesellschaftlichen Zwängen zu entgehen und geistige Freiheit zu finden. Als nächstes befasst sich der Autor mit dem Kampf der Kirche gegen die Ketzer- und Armutsbewegungen seit dem Mittelalter.

Es folgt die „Religion im Zeitalter des Faschismus“. Holl beruft sich auf Rudolf Ottos Beschreibung des „Heiligen“ und rückt dieses in die Nähe des Nationalsozialismus; er spricht vom „Heiligkeitscharakter der Faschismen“ (S.136) und stellt diverse Definitionen des Begriffs des Heiligen vor, u. a. von Mircea Eliade und Sigmund Freud.

Im vorletzten Kapitel wendet sich der Verfasser der New-Age-Bewegung der 80er und 90er Jahre des 20. Jahrhunderts zu, wobei er sehr kritisch und in betont ironischer Weise die zahlreichen unterschiedlichen Versuche der Bewusstseinerweiterung und Sinnfindung beschreibt, die in dieser Zeit in Mode kamen, von Transzendentaler Meditation über Drogen bis hin zu Kontakten mit Außerirdischen. Allerdings hat dies alles nach Holls Ansicht nichts mit Religion zu tun, da „ultrastabile Kultformen“, legitimierende Geschichten und generationenüberschreitende Kontinuität in Text und Ritual fehlen (vgl. S. 168).

Das Schlusskapitel ist dem faszinierenden Thema der weltweiten, seit Anbeginn des Christentums existierenden Marienverehrung gewidmet. Seit etwa 150 Jahren kommt es vor allem in Mitteleuropa vermehrt zu Marienerscheinungen und damit verbundenen „Wundern“. Adolf Holl schildert im Detail die „weinende Madonna“ von Syrakus von 1953 und befasst sich mit C. G. Jungs Interpretation von Marienerscheinungen. Nach Holls Auffassung steht die Marienverehrung in der Tradition der Kulte der „Großen Mutter“.

Wahrheiten, mäßig entstellt

Beim Lesen des Buches wird deutlich, dass Adolf Holl über hervorragende Sachkenntnis verfügt und sich mit der Materie auseinandergesetzt hat. Es ist aber evident, dass die komplexen historischen Prozesse, die im Mittelpunkt seiner Abhandlungen stehen, sich nicht ohne weiteres für die Allgemeinheit leicht verständlich darstellen lassen. Verkürzungen, Auslassungen und Verfälschungen sind unvermeidlich.

Bei der Auswahl dessen, was Holl seinen Lesern zumuten will, lässt sich kein System erkennen. Er setzt voraus, dass seine Leserschaft mit dem Begriff „kantianisch“ etwas anfangen kann, hält es aber gleichzeitig für notwendig zu erklären, wer Buddha war. Auf klare Definitionen möchte er sich nicht einlassen: „Für den Zweck dieses Buches soll es zunächst einmal genügen, das eine oder andere Fragment aus der Allgemeinbildung zum Wort ‚Religion‘ zu assoziieren […]“ (S. 45). Holl unternimmt selten einen Versuch, seine Ideen oder Gedankengänge mit Fakten zu untermauern; Vermutungen sind ihm ausreichend: „Nehmen wir einmal an, alle religiösen Phänomene stünden in einem signifikanten Zusammenhang mit veränderten Wachbewusstseinszuständen […]“ (S. 50).

Gelegentlich scheinen seine Versuche, provokant zu wirken, ein wenig unsubtil, wenn er Dinge, die offensichtlich nichts miteinander zu tun haben, in eine Verbindung bringt, wie etwa St. Franziskus von Assisi und den Kapitalismus (vgl. S. 127), oder wenn er der New-Age-Bewegung vorwirft, noch kein Zaubermittel gegen die Atomwaffen gefunden zu haben (vgl. S. 157), obwohl sie sich dies nie zum Ziel gesetzt hatte. Nicht immer lässt sich mit Bestimmtheit feststellen, ob eine lässig dahingeworfene Bemerkung ironisch gemeint ist oder nicht.

Vermutlich um seine Prosa lebendiger zu gestalten, verwendet Holl gerne Zitate und Anregungen aus der Literatur, z. B. von Dostojewski und Thomas Mann, und lässt sich gelegentlich zu weitschweifigen assoziativen Sprachergüssen verleiten, die keinerlei Informationswert enthalten. Der Band wurde für die Neuauflage leicht überarbeitet, aber nicht sehr sorgfältig; hinter „Kardinal Ratzinger“ findet sich zwar der Einschub „nunmehr Papst Benedikt XVI.“ (S. 176), aber das „Dritte Geheimnis“ von Fatima – das schon lange veröffentlicht ist – befindet sich angeblich immer noch hinter Schloss und Riegel im Vatikan (vgl. S. 182).

Fazit

Da Adolf Holl keinen Wert auf eine adäquate Darstellung vielschichtiger historischer, ökonomischer und sozialer Zusammenhänge legt, entwirft er ein verzerrtes, sogar verharmlosendes Bild der Vergangenheit. Tatsächlich erscheinen die Aktivitäten der Kirche in einem besseren Licht, als sie es verdienen. Solange man keine profunden Einsichten in die Thematik erwartet, ist der flott geschriebene Band jedoch wirklich unterhaltsam und manchmal recht witzig. Er wirft mehr Fragen auf, als er beantwortet – das ist vielleicht seine größte Stärke.

URN urn:nbn:de:0114-qn072233

Dr. Friederike Schneider

Saarbrücken, Ausbildungszentrum Burbach

E-Mail: fschneider@internet-treff-sb.de

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