Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts

Rezension von Angela Berlis

Doris Brodbeck (Hg.):

Dem Schweigen entronnen.

Religiöse Zeugnisse von Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts.

Würzburg, Markt Zell: Religion & Kultur 2006.

339 Seiten, ISBN 3–933891–17–5, € 19,90

Abstract: Der Sammelband ist als Beitrag zur “ (inter-)konfessionellen Frauengeschichtsschreibung“ konzipiert und enthält Texte von 18 christlichen Frauen aus dem 16. bis 19. Jahrhundert, die sich zu religiösen, und damit auch zu gesellschaftlichen Fragen ihrer Zeit geäußert und – wie der Titel sagt – so dem Schweigegebot des Apostels Paulus ( 1 Kor 14,34) entronnen sind. Es ist das Anliegen der Herausgeberin, das Denken dieser bekannten und unbekannten Schriftstellerinnen und Dichterinnen, Frauenrechtlerinnen, Diakonissen, Ordensfrauen, einer Heilsarmeepredigerin und anderer religiöser Frauen einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen und dabei die Eigenständigkeit und Originalität ihrer Schriften hervorzuheben. Alle hier vorgestellten Frauen haben eine Beziehung zur Schweiz. Das Buch ist für die private Lektüre, aber auch für die Arbeit mit Gruppen geeignet.

Interkonfessionelle Frauengeschichtsschreibung

Beim vorliegenden Buch handelt es sich um den neuesten Beitrag zur interkonfessionellen Frauengeschichtsschreibung der Schweizer reformierten Pfarrerin und Kirchenhistorikerin Doris Brodbeck. Der Begriff “ (inter-)konfessionell“ ist bewusst gewählt, da der Autorin zufolge sich das Denken dieser Frauen weniger auf institutionelle Kirchen bezieht, gleichwohl jedoch konfessionell geprägten Traditionen und Gesellschaftskreisen verbunden ist (vgl. S. 14). Während sich das 1998 gemeinsam mit Yvonne Domhardt und Judith Stofer herausgegebene Buch Siehe, ich schaffe Neues (eFeF-Verlag, Bern) in biographischen Beiträgen mit protestantischen, römisch- und christkatholischen sowie mit jüdischen Frauen beschäftigte, stehen im 2003 von Doris Brodbeck allein herausgegebenen Buch Unerhörte Worte (eFeF- Verlag, Bern und Wettingen) sowie im vorliegenden Band nunmehr Texte von Frauen im Mittelpunkt. Der Reader Unerhörte Worte enthält gesellschaftskritische Texte von Schweizer Frauen des 20. Jahrhunderts. Im vorliegenden Textband kommen mit der Schweiz verbundene, christliche Frauen des 16. bis 19. Jahrhunderts mit ihren Glaubensfragen und –zweifeln, aber auch in ihrem Denken über gesellschaftspolitische und religiöse Fragen ihrer Zeit zu Wort. Anders als in den bisherigen Veröffentlichungen finden sich hier keine Zeugnisse jüdischer Frauen – trotz umfangreicher Recherchen wurde die Herausgeberin bisher nicht fündig.

Jeder Beitrag des in vier Abschnitte unterteilten Sammelbandes enthält Informationen zum Lebenslauf der betreffenden Frau (verfasst von einer der insgesamt 16 Mitarbeiterinnen am Buch), ein Bild sowie Hinweise auf weitere Quellen und Literatur und eine Hinführung zu den – bisweilen zweisprachig auf Französisch und Deutsch abgedruckten – Quellentexten. Die Texte selbst sind sparsam mit Anmerkungen versehen. Am Ende des Buches findet sich ein Bibelstellenregister.

Die Mission von Frauen

Der Band enthält im ersten Abschnitt „Zwischen Auflehnung und Anpassung“ fünf Briefauszüge der Berner Patrizierin und Frauenrechtlerin Helene von Mülinen an den Theologen Adolf Schlatter (1888–1890). Sie spiegeln die gesundheitliche Krise und religiöse Suche der Autorin, aber auch ihr Eintreten für die religiöse Frauenemanzipation. Des weiteren finden sich ein ihren drei Söhnen gewidmeter Vortragstext der Westschweizer Abolitionistin Emilie de Morsier-Naville über „Die Mission der Frau“ (mit franz. Original, 1889) und ein kämpferischer Text von Catherine Booth-Clibborn mit dem Titel „Der Krieg ist erklärt“ (mit franz. Original, 1883). Gerade 24jährig, kam die Tochter des Begründers der Heilsarmee in England 1882 nach Genf, wo die „Marschallin“, wie Gassenjungen sie nannten, bald mit ihren glänzenden Reden ihre Zuhörerschaft fesselte und die Heilsarmee in der Schweiz begründete. Drei kurze literarische Texte aus den Jahren 1871, 1880 und 1905 der weltberühmten „Heidi“-Buchautorin Johanna Spyri-Heußer fanden wegen ihrer religiösen Botschaft ebenfalls Eingang in die Textsammlung. Tagebucheinträge der nicht näher bekannten Elise von Liebenau und Josephine Schwytzer im Tagebuch des Luzerner Marienvereins (1873), zugehörig zur konservativ-katholisch, ultramontan orientierten römisch-katholischen marianischen Kongregation, beschließen diesen Abschnitt.

Der zweite Abschnitt, überschrieben mit „Religiöse Hingabe und Armut“, enthält Briefauszüge Trinette Bindschedlers, der ersten Oberin des Diakonissenhauses von Riehen, aus den Jahren 1855 bis 1876 und Briefe Bernarda Heimgartners,, der Begründerin der Gemeinschaft der Lehrschwestern vom Heiligen Kreuz in Menzingen, an Schwester Elisabeth Zürcher (geschrieben 1851–1852). Beide erweisen sich als Seelsorgerinnen ihrer Mitschwestern. Außerdem finden sich Tagebuchauszüge der Gründerin des Diakonissenhauses in Bern, Sophie von Wurstemberger (von 1831 und 1832). Die Einträge geben Einblick in ihr Alltagsleben und Aufschluss über den Zweck ihres Schreibens: die geistliche Selbstprüfung und das Gotteslob. In der Schrift „An die Armen“ (1817) verkündet die russische Baronesse Juliane von Krüdener die Erlösung der Armen und ruft zur Bekehrung angesichts der kommenden Königsherrschaft auf. 1817 wurde die Erweckungspredigerin wegen „Schwärmerei“ und Volksaufwiegelung aus der Schweiz ausgewiesen und zog sich auf die Krim in eine christliche Kolonie zurück. Am Ende dieses Abschnitts ist der Nachruf auf Maria Wiborada Treichlingerin von Kempten (1765) abgedruckt, der ersten Chronistin des Klosters Libingen-Glattburg (Kanton St. Gallen), für die Armut und Entbehrung „selbstgewähltes Mittel religiöser Läuterung“ (S. 13) war. Die Gattung des „Schwesternnekrologs“ vermittelt über die Beschreibung des Lebenslaufs die Frömmigkeitsideale eines weiblichen gottgeweihten Lebens.

Grenzgängerinnen und Reformerinnen

Im dritten Abschnitt, „Glaubensentwürfe zwischen Pietismus und Rationalismus“, tritt uns die Dichterin und Sprachschöpferin Meta Heußer-Schweizer, Mutter Johanna Spyris, mit einigen ihrer Gedichte (1820–1867) entgegen. Sie gehörte – ähnlich wie Juliane von Krüdener – zu den Briefpartnerinnen der weltoffen und interkonfessionell denkenden Anna Schlatter-Bernet (der Großmutter Adolf Schlatters), von der Briefe und Gedichte aus den Jahren 1792 bis 1826 in den Band aufgenommen sind. Während sie viel mit römisch-katholischen Geistlichen korrespondierte, richtete die Luzerner Ursuline Katharina Schmid von 1792 bis 1800 mehrere Briefe an den Zürcher reformierten Pfarrer Johann Kaspar Lavater und dessen Tochter. Über konfessionelle Grenzen hinweg bestand zwischen beiden eine Seelenverwandschaft, die sich auch in beider Freundschaft zu dem Theologen und Regensburger Bischof Johann Michael Sailer ausdrückt. Es folgen mehrere „Aussprachen“ der Thuner Strumpfweberin und radikalpietistischen Prophetin Ursula Meyer in ihrem Exil auf der Ronneburg bei Frankfurt a.M. (1715) und Auszüge aus den „Briefe[n] über die für den Menschen essentielle Religion“ (mit franz. Original, 1739) der Marie Huber, deren Vorstellungen großen Eindruck auf Jean Jacques Rousseau machten. Zwei Textauszüge der Graubündener reformiert-evangelischen adeligen Dame Hortensia von Salis (1695, 1715) folgen am Ende dieses Abschnitts. Ihre Texte sind die einzigen hinterlassenen deutschsprachigen Texte einer Schweizerin aus diesem Zeitraum.

„Im Schatten der Reformation“ – so die Überschrift des vierten Abschnitts – regten sich Frauen auf vielfältige Weise. So verfasste die Genfer Klarissin Jeanne de Jussie zu Beginn der Reformation in Genf eine „Kleine Chronik“ (mit franz. Original, 1547–1548) und schuf damit den „interessantesten und umfangreichsten Bericht über ein Frauenkloster in der Reformationszeit“ (S. 279). Die aus dem flandrischen Tournai gebürtige Reformatorin Marie Dentière bezeichnete de Jussie als „falsche Äbtissin mit diabolischem Mundwerk“ (S. 304). Beide Frauen waren sehr gebildet, betätigten sich literarisch und verfassten als Augenzeuginnen die ersten Berichte über die Reformation in Genf. In religiösen Fragen standen sie jedoch auf entgegengesetzten Standpunkten. In einer Epistel an Margarethe von Navarra (mit franz. Original, 1539) ermutigt Dentière Frauen zur Beschäftigung mit Glaubensfragen und bringt ihre Überzeugung von der moralischen und intellektuellen Gleichrangigkeit der Geschlechter zum Ausdruck. Rhetorisch fragt sie: „Haben wir zwei Evangelien, eines für die Männer und eines für die Frauen?“ (S. 304).

Originalität des Denkens

Die Herausgeberin möchte mit ihrem Buch auf eine Forschungslücke für den angegebenen Zeitraum hinweisen, einen Überblick über Denkansätze von Frauen geben und so „zu einer vertieften Beschäftigung mit den unterschiedlichsten religiösen Denkrichtungen“ beitragen (S. 16). Besonders weist sie dabei auf die Eigenständigkeit und Originalität des Denkens dieser Frauen hin. Es wäre spannend gewesen, wenn Brodbeck diesen von Béatrice Acklin-Zimmermann für Frauen des Mittelalters entwickelten Ansatz (vgl. S. 14 f.) weiter erläutert und in einer Art Analyse und Zusammenschau für den vorliegenden Sammelband ausgewertet hätte. Darin hätten auch die vielfach über Konfessionsgrenzen hinweg bestehenden Verbindungen (und gegenseitigen Beeinflussungen?) der hier vorgestellten Frauen untereinander behandelt werden können. Ein Namensregister wäre hilfreich gewesen, nicht nur um solchen Querverbindungen schneller auf die Spur zu kommen.

Die vorliegende Textsammlung ist für Veranstaltungen und Seminare über historische Frauengestalten sehr gut brauchbar, da sie zum Teil nur schwer zugängliche Text von Frauen erschließt und Hinweise zu weiterem Studium gibt. Die Auswahl der Texte wird leider nicht näher kommentiert, so dass unklar bleibt, welche Kriterien dabei eine Rolle spielten. Möglicherweise war das Kriterium kein anderes als (die Kenntnis über) das Vorhandensein solcher Quellentexte bei der Herausgeberin bzw. den mitwirkenden Autorinnen, was wiederum als Hinweis auf die Überlieferungssituation von Frauentexten zu verstehen ist.

URN urn:nbn:de:0114-qn072035

Prof. Dr. Angela Berlis

Utrecht/Niederlande

E-Mail: ABerlis@theo.uu.nl

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.