Gender, Diskriminierung und Frauenorganisationen in Rußland

Rezension von Eva Maria Hinterhuber

Rebecca Kay:

Russian Women and Their Organizations.

Gender, Discrimination and Grassroots Women‘s Organizations, 1991–96.

Houndmills et al.: Macmillan Press 2000.

276 Seiten, ISBN 0–333–76546-X, £ 45,00 / DM 168,00

Abstract: Im Mittelpunkt des Buches „Russian Women and their Organizations“ steht die Auseinandersetzung mit dem postsowjetischen ‚Geschlechterklima‘ und dessen Auswirkungen auf Frauenorganisationen und auf Frauen als soziale Gruppe in Rußland in den Jahren von 1991–1996.

Auf der Grundlage des theoretischen Konzepts von ‚Geschlechterklima‘ stützt sich Rebecca Kay in ihrer Studie wesentlich auf die Überlegungen des Männerforschers Robert Connell (1987). Ausgangspunkt ist das Verständnis von gender als kohärentem System, wie es sich in Connells Definition von ‚Geschlechterordnung‘ wiederfindet. Die jeweilige ‚gender order‘ gibt dabei die Definition hegemonialer Männlichkeit vor, der Weiblichkeit und andere Versionen von Männlichkeit untergeordnet werden. Vor diesem Hintergrund meint der Begriff des Geschlechterklimas die Form, in der sich eine Genderordnung zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer spezifischen Gesellschaft präsentiert.

Das Buch ist in zwei Teile gegliedert: Der erste beschäftigt sich mit den Auswirkungen des Wandels des Geschlechterklimas nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der zweite Teil ist den Reaktionen von Frauenorganisationen auf diesen gewidmet.

Das Geschlechterklima im postsowjetischen Rußland

Das Geschlechterklima im postsowjetischen Rußland Anfang bis Mitte der neunziger Jahre war für die Gleichstellung der Geschlechter keineswegs förderlich. Essentialistische Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit gewannen die Oberhand. Die sogenannte ‚Emanzipation von oben‘ sowjetischen Stils wurde als übertrieben zurückgewiesen, die ‚Rückkehr‘ zur traditionellen Rollenverteilung als Wiederherstellung der natürlichen Ordnung und sogar als Lösung nationaler sozialer und ökonomischer Probleme gepriesen. Diese Haltungen dominierten im Mediendiskurs ebenso wie auf gesellschaftlicher und politischer Ebene. Parallel zur Rhetorik bzw. Ideologie zeigte sich der vergeschlechtlichte Charakter des Transformationsprozesses auch in manifester Form: Armut, Arbeitslosigkeit, der Zusammenbruch der Systeme der sozialen Sicherung, der Verlust der politischen Repräsentation und soziale Ausschlußmechanismen trafen den weiblichen Bevölkerungsteil in überproportionalem Maße.

In ihrer Analyse des gegenwärtigen Geschlechterklimas macht Rebecca Kay jedoch nicht den Fehler, die jetzige Situation als losgelöst von der Geschichte zu betrachten. Zwar verweist sie auf die emanzipatorischen Fortschritte durch die sowjetische Frauenpolitik insbesondere im ökonomischen Bereich und auf gesetzlicher Ebene, argumentiert jedoch, daß es zu keiner grundsätzlichen Veränderung der zugrundeliegenden Geschlechterordnung gekommen sei. In ihrer Argumentation konzentriert sie sich auf die Reproduktion traditioneller Geschlechterrollenstereotype als Ergebnis staatlicher Politik. Erklärungsansätze, die die Rolle der sogenannten ‚zweiten Gesellschaft‘ in realsozialistischen Ländern für die Aufrechterhaltung traditioneller Sichtweisen von Geschlecht unterstreichen (bspw. Watson 1995), werden nicht herangezogen. Dies wäre gerade vor dem Hintergrund der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Organisationen förderlich gewesen. Kays zentraler Argumentationsstrang wird jedoch auch so deutlich: Zwar war die neue politische Führung der unabhängigen Russischen Föderation, unterstützt von der öffentlichen Meinung, bemüht, sich gegenüber der sowjetischen Vergangenheit in beinahe allen Bereichen deutlich abzugrenzen. Dies galt jedoch nicht für die Frauenfrage: Nachdem die sowjetische Gleichheitsrhetorik weggelassen werden konnte, wurden biologistische Argumentationsfiguren, die sich in den letzten Jahrzehnten der UdSSR neuerlich stärker durchgesetzt hatten, keineswegs zurückgewiesen, sondern aufgenommen und verstärkt. Die Abkehr vom Ideal der Gleichheit wurde jedoch als Bruch mit der Vergangenheit dargestellt und als ‚Befreiung der Frau‘ gefeiert, Parallelen zwischen dem zeitgenössischen Geschlechterdiskurs und Diskursen vergleichbarer Ausrichtung in den 1970er und 1980er Jahren, die die Autorin nachzeichnet, wurden ignoriert.

Die organisierte Antwort auf den vergeschlechtlichten Charakter der Transformation

In diesem widrigen Klima agierten die Frauenorganisationen, die Gegenstand der vorliegenden Untersuchung sind. Kays Forschungssample umfaßt elf ‚Graswurzel-Organisationen‘ aus den Städten Moskau, Saratov, Tver’ und Tarusa sowie drei Dachorganisationen. Mit deren Mitgliedern sowie einer Kontrollgruppe nicht organisierter Frauen hat die Autorin zahlreiche Tiefeninterviews geführt, die die Basis der Arbeit darstellen. Die untersuchten ‚Graswurzel-Frauenorganisationen‘ sind in Reaktion auf den sich an traditionellen Geschlechterstereotypen ausrichtenden Charakter der Transformation entstanden, auch wenn dies oft nur implizit deutlich wurde. Da sozial ausgerichtete Organisationen auf breite Unterstützung, Frauenorganisationen jedoch weitestgehend auf Ablehnung trafen, stellten die untersuchten Organisationen in der Regel Aspekte ihrer Arbeit wie praktische Hilfeleistung in den Vordergrund. Darüber hinaus sind sie mit zahlreichen anderen Schwierigkeiten wie einer fehlenden Infrastruktur konfrontiert. Hinzu kommen mangelnde Ressourcen und das Faktum, daß ihre Arbeit fast ausschließlich von ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen getragen wird. Dennoch belegt Rebecca Kay eindrucksvoll, daß die untersuchten Organisationen trotz der problematischen Situation Erfolge vorweisen können. Sie konstatiert, daß es ihnen gelungen sei, Überlebensstrategien im Rahmen und mit Hilfe der Organisation zu entwickeln. Die eigentliche Errungenschaft jedoch, so die Autorin, ist vor allem im persönlichen Bereich anzusiedeln und läßt sich mit den Schlagworten ‚empowerment‘ und ‚consciousness raising‘ umreißen. Die Herausbildung einer kollektiven Identität, gerade in Abgrenzung zu den vorherrschenden neotraditionalistischen Geschlechtermodellen, schaffe ein subversives Potential und führe zu einem Zuwachs an Gestaltungsmacht. Vor diesem Hintergrund äußerten die Aktivistinnen das Ziel, eine Frauenbewegung auf nationaler Ebene zu begründen. Die bestehenden Dachorganisationen, zu deren assoziierten Mitgliedern einige der ‚Graswurzel-Organisationen‘ gehörten, erfüllten ihre diesbezüglichen Ansprüche jedoch nicht, sei es aufgrund des Verhaftetseins in sowjetisch-paternalistischen Praktiken, sei es aufgrund einer zu ausgeprägten Ausrichtung gen Westen.

Feminismen in West und Ost

Was das Buch von anderen Publikationen aus demselben Bereich positiv abhebt, ist die konstante Reflexion der eigenen Position und Perspektive. Parallel dazu setzt Kay die Entwicklungen in Rußland regelmäßig in Beziehung zur Situation in westeuropäischen Ländern und kommt auf diesem Weg zu interessanten Gedanken. So stellt sie die Berichterstattung in den westlichen Massenmedien über die Situation osteuropäischer Frauen in Zusammenhang mit der im Westen vielfach postulierten Ära des Postfeminismus. Der Blick auf die schwierige Lage von Frauen in Osteuropa, so ihre These, ist geeignet, von bestehenden Ungleichheiten im eigenen Land abzulenken. Somit sollen westliche Frauen ihrer Errungenschaften versichert und der Eindruck verstärkt werden, daß nichts mehr übrig sei, wofür es sich zu kämpfen lohne. Hinsichtlich der feministischen Forschung zu Osteuropa sieht Kay ähnliche Prozesse. Der Export feministischer Ideen und Theorien komme zu einer Zeit, in der der Feminismus im Westen an Boden verliere. Kay sieht in ihm eine dritte Welle des Feminismus, der in einem ersten Schritt Frauen niedrigerer Schichten und dann des Trikonts ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit gestellt habe. In jedem dieser Fälle werde eine bestimmte Gruppe von Frauen als ‚noch unterdrückter‘ klassifiziert. Dieser paternalistisch getönte Zugang kann, gerade angesichts des ökonomischen Machtgefälles zwischen Ost und West, eine Reihe von negativen Konsequenzen nach sich ziehen. Als ein Beispiel führt die Autorin das Machtgefälle zwischen westlichen Geber- und östlichen Nehmerorganisationen an, das, häufig durch mangelnde Kenntnis der Situation im Empfängerland verschärft, regelmäßig zu Konflikten führt. Gleichzeitig zeichnet Kay nach, daß es zu Spaltungen unter russischen Frauenorganisationen entlang der Kenntnis und der Bereitschaft zur Übernahme westlicher feministischer Theorien, welche wiederum den Zugang zu finanziellen Ressourcen erleichtern, kommen kann. Hier fehlt jedoch der Hinweis auf den sogenannten Feminismusstreit, in dessen Rahmen auf akademischer Ebene auch zwischen Ost und West eine Auseinandersetzung über die Möglichkeit eines Transfers westlicher feministischer Konzepte auf osteuropäische Verhältnisse geführt wurde. Trotz aller Schwierigkeiten plädiert Rebecca Kay für eine Intensivierung der Kontakte zwischen Ost und West – jedoch im Sinne eines wechselseitigen Austausches. Denkbar wäre, so ihre abschließende Bemerkung, daß russische Frauenorganisationen neue Problemlösungsstrategien zur Überwindung von Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, welche auch im Westen in ähnlicher Weise nach wie vor existieren, entwickeln.

Dieser Komplex an Überlegungen macht einige Schwächen des Buches wett, die im Fehlen von Definitionen und von trotz einer umfangreichen Bibliographie oft unbefriedigend raren Literaturverweisen liegen, was streckenweise zu einer gewissen Vagheit der Aussagen führt. Das Buch ist eine rundweg lohnende Lektüre über die Situation von Frauenorganisationen und Frauen als sozialer Gruppe in Rußland.

URN urn:nbn:de:0114-qn021084

Eva Maria Hinterhuber

Europäische Universität Viadrina, Frankfurt / Oder

E-Mail: Ehinterh@aol.com

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