Jüdische Frauenvereine als Teil der europäischen Frauenbewegung

Rezension von Nicolai Hannig

Margarete Grandner, Edith Saurer:

Geschlecht, Religion und Engagement.

Die jüdischen Frauenbewegungen im deutschsprachigen Raum. 19. und frühes 20. Jahrhundert.

Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2005.

262 Seiten, ISBN 3–205–77259–8, € 35,00

Abstract: Der vorliegende Sammelband gibt einen fundierten Einblick in die unterschiedliche Entwicklung der jüdischen Frauenbewegung vom 19. bis ins 20. Jahrhundert. Im Zentrum der sechs Beiträge stehen verschiedene Frauenvereine sowie deren Zusammensetzung und Tätigkeitsfelder in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Deutlich wird, dass vor allem Wohltätigkeit und Fürsorge wichtige Aufgabenbereiche diverser Vereine darstellten; aber auch wirtschaftliche, rechtliche und politische Emanzipation spielten eine wichtige Rolle. Abgerundet wird dieser lesenswerte Tagungsband durch einen knapp 80 Seiten starken Quellenteil.

Mit dem Beginn der Vereinsgründungen seit dem späten 18. und dem frühen 19. Jahrhundert gelang es Männern und vereinzelt auch Frauen, in einen Bereich einzutreten, der es ihnen erlaubte, ihre Interessen öffentlichkeitswirksam zu arrangieren und zu postulieren. Der 1816 in Wien gegründete „Israelitische Frauen-Wohltätigkeitsverein“ gilt dabei als Vorläufer zahlreicher weiterer jüdischer Frauenvereine. Schon durch die Namensgebung wird auf das vornehmliche Tätigkeitsfeld der Frauen verwiesen: die Wohltätigkeit. Die jüdischen Frauenvereine lagen zwar größtenteils in den Händen der Frauen, ihr Engagement sollte jedoch für jene Bereiche wirksam sein, aus denen sich der Staat zurückgezogen hatte wie etwa die Armutsbekämpfung und die Wohlfahrtspflege. Erst etwa seit den 1860er Jahren wurde der Tätigkeitsbereich der Frauenvereine erweitert. Hinzu kamen Themen wie die weibliche Erwerbsarbeit, die Verbesserung der gesellschaftlichen Position von Frauen und seit der Jahrhundertwende auch das politische Stimmrecht. In Deutschland, Österreich und der Schweiz bildeten sich schließlich mit dem Übergang zum 20. Jahrhundert Dachverbände heraus, die alle Frauenvereine vereinigten. Zwar waren die jüdischen Frauenvereine Mitglieder dieser Dachverbände, ihre Konfession wurde dennoch meistens bewusst ausgeblendet.

In ihrem Sammelband, der auf eine Wiener Tagung aus dem Jahr 2001 zurückgeht, möchten die Herausgeberinnen Margarete Grandner und Edith Saurer die unterschiedlichen Entwicklungen der jüdischen Frauenvereine in Deutschland, Österreich und der Schweiz nachzeichnen. Damit soll zugleich ein wichtiger transnationaler Vergleich erbracht werden, denn beispielsweise gelang nur in Deutschland ein Zusammenschluss der jüdischen Vereine vor dem Ersten Weltkrieg. Worauf sind nun jeweils vereinsinterne und -externe Entwicklungen, Transformationsprozesse, Vorbedingungen, Konzessionen und auch Rückschläge zurückzuführen?

Jüdische Frauenbewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert

Michaela Raggam-Blesch stellt zunächst die Spannungen dar, denen Jüdinnen in Österreich durch ihre Verankerung im Judentum auf der einen Seite und durch ihre Verbindung mit der Frauenbewegung auf der anderen Seite ausgesetzt waren. Die Wohltätigkeit galt als ein wichtiges eigenständiges und potenziell emanzipatorisches Tätigkeitsfeld, welches durch die Mitarbeit vieler Jüdinnen unterstützt wurde. Auch im Bund österreichischer Frauenvereine und im Allgemeinen österreichischen Frauenverein waren zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche jüdische Frauen vertreten, deren Gläubigkeit jedoch zumeist bewusst ausgeblendet wurde. Ganz anders stellte sich die Position von engagierten Frauen im Zionismus dar: Ihre Aufgabe bestand in einer nationalen Erziehung, wobei jedoch die Weiterentwicklung zu einer rechtlich-politischen Gleichstellung in den Hintergrund trat. Auch in der sozialistischen Bewegung fanden sich viele prominente jüdische Aktivistinnen wieder. Zwar stand die Sozialdemokratie für sozialpolitisches Engagement und Gleichberechtigung der Geschlechter ein, antisemitistische Strömungen gab es dennoch. Österreichische Jüdinnen, die politisch aktiv werden wollten, waren aufgrund ihrer Religion und ihres Geschlechts zahlreichen Hindernissen ausgesetzt; ihre Tätigkeiten beschränkten sich zumeist auf die Wohlfahrt. Als Erklärung für eine nicht existierende Dachorganisation jüdischer Frauenvereine hebt Raggam-Blesch vor allem die stärkere Neigung des österreichischen Judentums zur Assimilation hervor.

Elisabeth Torggler konzentriert sich in ihrem Beitrag auf den 1816 gegründeten „Israelitischen Frauen-Wohltätigkeits-Verein in Wien“ und dessen Aufgabenbereiche. Etwa ab 1860 stand für den Verein die Unterstützung bedürftiger Frauen im Vordergrund. Sein Einfluss lässt sich vor allem darauf zurückführen, dass er von den wohlhabendsten Frauen der jüdischen Gemeinde getragen und ab 1852 von der Israelitischen Kultusgemeinde unterstützt wurde. Letztlich griff der Verein auch geschlechtsspezifische Forderungen auf, die sicherlich als Teil der Frauenbewegung der zweiten Jahrhunderthälfte zu verstehen sind.

Die sozialgeschichtliche Erfassung jüdischer Feministinnen und ihr Anteil an der interkonfessionellen Frauenbewegung bleibt gewiss noch ein Desiderat der historischen Forschung. Somit betritt Elisabeth Malleier in ihrem Beitrag sicherlich Neuland, wenn sie zunächst ausführt, dass sich Jüdinnen sowohl in religiösen als auch in überkonfessionellen Frauenvereinen engagierten. In Wien beispielsweise arbeiteten schon im frühen 19. Jahrhundert jüdische und nichtjüdische Frauen in verschiedensten Vereinen zusammen. Dass es aber in Österreich im Gegensatz zum Deutschen Kaiserreich keinen Zusammenschluss jüdischer Frauenvereine gegeben hat, lag wohl in erster Linie an der größeren sprachlichen, kulturellen, religiösen, politischen und sozialen Mannigfaltigkeit der jüdischen Bevölkerung.

Martina Steer untersucht die Bedeutung des Ersten Weltkrieges für die Tätigkeit und die Ausrichtung des Jüdischen Frauenbundes (JFB). Während des Krieges stieg seine Mitgliederzahl stark an, und es vollzog sich allmählich ein Wandel weg vom Kampf gegen Mädchenhandel und Prostitution hin zum Einsatz für eine Geschlechtergleichheit in der jüdischen Gemeinde. Der JFB blieb in seiner Entwicklung weitestgehend eine „gemäßigt feministische Organisation, die sich um eine Verbesserung der Lage jüdischer Frauen bemühte“ (S. 121). Man verringerte das Engagement gegen den Mädchenhandel und rückte das Engagement für die internationale Friedensbewegung in den Vordergrund.

Die Weltkongresse jüdischer Frauen und der Bund Schweizerischer Jüdischer Frauenorganisationen

Den Bestrebungen nach internationaler Kooperation und den Versuchen zur Gründung eines Weltbundes jüdischer Frauen geht Dieter Josef Hecht nach. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts hatte sich durch zunehmenden Nationalismus und durch Marginalisierung jüdischer Frauen in weiten Teilen der Frauenbewegung eine „international orientierte jüdische Frauenbewegung“ (S. 154) herausgebildet. Hecht dokumentiert nun den breiten Themenbereich, der auf den beiden Weltkongressen (Wien 1923 und Hamburg 1929) diskutiert wurde, und zeigt auf, dass, obwohl es 1914 durch den Einsatz von Bertha Pappenheim gelungen war, den „Weltbund jüdischer Frauen“ zu gründen, sich diese Initiative bedingt durch den Ersten Weltkrieg nicht durchsetzen konnte. Betont werden besonders die Konfliktlinien, die den Kongress von 1923 durchzogen und zionistische und nichtzionistische Frauen trennten. Auf dem zweiten Kongress in Hamburg 1929 wurden die alten Themen erneut aufgegriffen, Probleme des Völkerbundes und jene von Frauen in der Berufswelt kamen hinzu. Einerseits gelang es hier, endlich einen „Weltbund“ ins Leben zu rufen, andererseits blieben Forderungen nach einer Veränderung der jüdischen Ehegesetzgebung vergeblich.

Im abschließenden Beitrag zeichnet Elisabeth Weingarten-Guggenheim die Geschichte des Bundes Schweizerischer Jüdischer Frauenorganisationen und dessen Entwicklungen, Neuerungen und Wandlungen in seinem Tätigkeitsbereich von der Gründung 1924 bis in die jüngste Vergangenheit nach. In seiner ersten Phase bis 1933 ging der Bund als reine Wohltätigkeitsorganisation vor allem karitativen Aufgaben nach. Auch in den folgenden Jahren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs dominierte die Hilfstätigkeit vor allem für Flüchtlinge. Nach dem Krieg dann richtete sich der Bund stärker politisch aus und professionalisierte und verstaatlichte seine Fürsorgearbeit. Seinen Höhepunkt als national und international anerkannte Interessenvertretung jüdischer Schweizerinnen erreichte er Ende der 1970er Jahre. Bis heute stehen die Probleme der jüdischen Minderheit im Vordergrund, so dass durchaus eine Neubewertung der traditionellen Frauenrolle im Judentum sowie die Entscheidung zur Professionalisierung des politischen Engagements vorgenommen werden muss.

Der Sammelband bietet nun insgesamt einen sicherlich breiten Überblick über die unterschiedliche und manchmal auch ähnliche Entwicklung jüdischer Frauenvereine in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Ansprechend ist zudem der 80 Seiten umfassende, sehr umfangreiche und gut recherchierte Quellenteil des Bandes. Neben zahlreichen Bildern und Positionen ausgewählter Aktivistinnen sind vor allem die Gründungsstatuten des Zionistischen Frauenvereins in Wien von 1899 und der Jahresbericht des Frauenhorts versammelt. Beigefügt sind in diesem Quellenteil zusätzlich die Vorträge von Bertha Pappenheim über den Schutz von Frauen und Mädchen sowie von Hulda Klotz über die Hilfe für die verlassene Frau anlässlich des Weltkongresses in Wien 1923. Der Band enthält eine andere, nämlich die jüdische Perspektive der Frauenbewegung und wirft damit ein Licht auf einen bislang eher unterbelichteten Bereich der bisherigen Forschung zur europäischen Frauenbewegung.

URN urn:nbn:de:0114-qn072120

Nicolai Hannig

Bochum/Ruhr-Universität Bochum/Fakultät für Geschichtswissenschaft

E-Mail: Nicolai.Hannig@ruhr-uni-bochum.de

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