Von einigen Schwierigkeit der Vermittlung zwischen wissenschaftlichen Diskursen

Rezension von Ilka Borchardt

Claudia Gather, Regine Othmer, Martina Ritter (Hg.):

Geschlechterverhältnisse in Rußland.

Feministische Studien, 17. Jahrgang, Heft 1.

Weinheim: Deutscher Studienverlag 1999.

174 Seiten, ISSN 0723–5186, DM 24,00 / SFr 22,50 / ÖS 175,00

Abstract: Die Feministischen Studien 1/1999 Geschlechterverhältnisse in Rußland versuchen, mit mehreren rußlandbezogenen Beiträgen zu einem intensiveren Austausch zwischen ost- und westeuropäischen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern beizutragen. Es werden hier Probleme deutlich, die bei dem Transfer zwischen unterschiedlichen wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Kontexten entstehen.

Der Vermittlungsversuch der Feministischen Studien

Das Heft 1/1999 der halbjährlich erscheinenden Zeitschrift Feministische Studien ist dem Schwerpunkt Geschlechterverhältnisse in Rußland gewidmet. Als ich im Sommer 1999 die Ausgabe das erste Mal in den Händen hielt, war ich begeistert. Grund dafür war die Schwierigkeit, Literatur zum Thema zu finden, mit der ich mich in den Monaten zuvor konfrontiert gesehen hatte. Während des Studiums der Ethnologie und Gender Studies war es mir trotz eines recht vielfältigen Angebots an den Berliner Universitäten sehr schwer gefallen, Materialien zur Frauen- und Geschlechterforschung in und über Rußland zu finden. Somit boten mir die Feministischen Studien eine gute Grundlage für weitere Literaturrecherchen. Beim nochmaligen Lesen für diese Rezension allerdings fiel mir aufgrund etwas besserer Kenntnisse über den Stand der geschlechterbezogenen Rußlandforschung auf, daß eine solche Aufsatzsammlung tatsächlich nur Ansätze bieten, Interesse wecken und keine umfassenden Informationen bieten kann wie z. B. eine Monographie.

Bemerkenswert an dieser Ausgabe ist der Versuch, ein möglichst breitgefächertes Forschungsfeld abzudecken. So reichen die Aufsätze vom Wandel von Identitätskonstruktionen im Zuge kultureller Modernisierung (M. Ritter) und der Theoretisierung der Unterscheidung von Privatheit und Öffentlichkeit (E. Zdravomyslova) über literaturwissenschaftliche Betrachtungen von Mutterfiguren in neueren Texten (L. Lissjutkina) bis hin zur Analyse der Position von Frauen auf dem russischen Arbeitsmarkt (E. Meshcherkina). Ergänzt werden diese Beiträge durch einen Bericht über Marina Lioubaskina, eine russische Malerin in Berlin, Informationen über ein russisches Internet-Frauenmagazin, über Stiftungen zur Förderung von Frauenforschung und mehrere Rezensionen.

Zum Konzept der Zeitschrift gehören drei weitere Rubriken, die außerhalb des jeweiligen Schwerpunktes stehen. Der Beitrag zum Hegelianismus amerikanischer Idealistinnen (D. Rogers) unter der Rubrik „Außer der Reihe“ läßt sich in einem recht weitgefaßten thematischen Zusammenhang mit Zdravomyslovas Artikel verstehen, da sich beide mit Konzeptionen von ‚privat‘ und ‚öffentlich‘ befassen. Neben „Tagungsberichte“ findet sich auch die Rubrik „Diskussion“. Die Beiträge hier über die Trans- oder Interdisziplinarität eines Studienfaches Gender Studies beziehen sich auf das Verständnis von Gender Studies in Deutschland. Sie wurden durch Überlegungen zur Einrichtung des Studienganges Geschlechterforschung an der Universität Potsdam ausgelöst und repräsentieren im wesentlichen eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit dem Selbstverständnis einer solchen Wissenschaft innerhalb der sich in einer Krise befindlichen und daher zur Veränderung gezwungenen Universitäts- und Wissenschaftslandschaft.

Besonders auffällig an den wenigen schwerpunktbezogenen Aufsätzen sind die Versuche, empirische Angaben und deren Theoretisierung zu verbinden. Auch das reflektiert grundlegende Probleme feministischer Wissenschaft sowohl in Westeuropa als auch in Rußland. Frauenforschung und Gender Studies mühen sich nach wie vor damit ab, Theorien zu finden, die sie als ernstzunehmende Wissenschaften ausweisen könnten. Allerdings birgt die westeuropäische Erfahrung, die auf eine scheinbar längere Praxis feministischer Forschung zurückblickt, auch die Gefahr, sich in Definitionsdiskussionen zu verlieren, anstatt tatsächlich zu forschen und Erkenntnisse zu sammeln und zu generieren. Mir scheint, daß allein der Beitrag Zdravomyslovas dem Anspruch einer Synthese aus Theorie und Empirie gerecht wird. Interessanterweise schafft sie es auch als eine der wenigen, konstruktive Perspektiven für die Zukunft anzudeuten, indem sie eine der Grundlagen der Geschlechterhierarchie aufzeigt (die Konstruktion, Interpretation und Zuschreibung von Privatheit und Öffentlichkeit) und ihre Entwicklung innerhalb der sich weiter verändernden russischen Gesellschaft untersucht. Mit dieser Arbeit schlägt sie tatsächlich eine Brücke zwischen westlichen und osteuropäischen Diskursen, da gerade die Aufteilung der Sphären und deren geschlechtsspezifische Zuordnung eine gemeinsame Erfahrung europäischer Frauen darstellt.

Wie weit ist die Vermittlung hier realisiert?

Wie in der Einleitung des Bandes bereits angekündigt, ist die Verständigung zwischen Frauen aus westlich-kapitalistischen und postsowjetischen Gesellschaften über „Fragen der sozialwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den Geschlechterverhältnissen“ nicht einfach, „zumindest setz[t] sie genauere Kenntnisse über die jeweils unterschiedlichen kulturellen und gesellschaftlichen Kontexte sowie über die entsprechende Gestaltung von Lebensverhältnissen voraus“. (S. 3) Hierin deuten die Herausgeberinnen Probleme der Zusammenarbeit zwischen west- und osteuropäischen Wissenschaftlerinnen an, die auch in dieser Ausgabe schwer überwunden werden. Die Zeitschrift beinhaltet zwar Beiträge osteuropäischer Autorinnen, von denen Zdravomyslova und Meshcherkina wohl die bekanntesten sein dürften. Allerdings bleiben nicht nur Fragen an die sprachliche Übersetzung offen, wie an Meshcherkinas Bibliographie deutlich wird: Es ist zweifelhaft, daß alle von ihr verwendeten Schriften in deutsch erschienen sind, die nennt sie jedoch in der Studie Literaturliste nur in der Übersetzung.

Weitere nicht beantwortete Fragen betreffen z. B. regionale Unterschiede, die gerade für Rußland auch die Verständigung zwischen Vertreter/-innen der Geschlechterforschung und der Frauenbewegung erschweren. Die Nähe oder Entfernung von der Hauptstadt, vom Zentrum der offiziellen Politik beeinflußt entscheidend die jeweiligen (Diskriminierungs- und andere Lebens-) Erfahrungen von Frauen mit. So war es bereits vor 1991, und so ist es noch heute. Aber auch schon geographische, klimatische oder damit verbundene wirtschaftliche Bedingungen sind in dieser Hinsicht von Bedeutung. Auffällig bleibt gleichfalls, daß in diesem Heft zwar frühe amerikanische, also – stark vereinfacht – westliche Philosophinnen vorgestellt werden, aber keine russischen, vorsowjetischen. Dabei böte gerade die Auseinandersetzung mit gemeinsamen oder wenigstens vergleichbaren Entwicklungen Chancen einer interkulturellen Übersetzung.[1]

Ebensowenig ist meines Erachtens das quantitative Verhältnis der Aufsätze dazu angelegt, dem Schwerpunkt tatsächlich gerecht zu werden. Zwar wird in der Einleitung zugestanden, daß Diskussionen und Forschung weiter anhalten, daß die Beiträge vorläufige Ergebnisse eines Workshops vom Sommer 1998 sind, doch wäre es wünschenswert, unter einem so breitangelegten Titel wie Geschlechterverhältnisse in Rußland ausführlichere Informationen eben auch zu diesen zu finden. So hätten sich beispielsweise noch weitere Hinweise auf Kontaktadressen hinzufügen lassen, um den Dialog zwischen ost- und westeuropäischen Wissenschaftlerinnen zu fördern.[2]

Fazit

Die Feministischen Studien mit dem Schwerpunkt Geschlechterverhältnisse in Rußland versuchen, letztere der deutschsprachigen wissenschaftlichen Landschaft näherzubringen. Das Ziel dabei sollte ein etwas genauerer Einblick in die Perspektiven west- und osteuropäischer Frauenforscherinnen sein, um langfristig den Dialog zwischen beiden zu erleichtern. Die Verständigung wird erschwert durch ungleiche und ungleichzeitige gesellschaftliche Erfahrungen.

Allerdings muß dieses Heft tatsächlich nur als ein Versuch angesehen werden, der einen ersten Schritt auf einem wahrscheinlich noch langen Weg getan hat. Leider wird es dem Titel nicht vollständig gerecht, sicher auch geschuldet der noch sehr jungen Zusammenarbeit und dem gerade erst begonnenen Austausch zwischen Vertreterinnen verschiedener gesellschaftlicher und wissenschaftlicher Traditionen.

Trotz der angesprochenen Kritik am Inhalt bietet die Zeitschrift einige wichtige weiterführende Informationen für Interessierte, z. B. aus den Literaturangaben der Autorinnen, Kontaktadressen von Stiftungen in Deutschland und Einblick in die anhaltende theoretische Auseinandersetzung und Selbstfindung von Geschlechterforscher/-innen in Deutschland.

Anmerkungen

[1]: Was die Suche nach der angegebenen Literatur in russischen Bibliotheken und Archiven erschweren dürfte.

[2]: Es bieten sich hier u.a. das Moskauer (MCGS) oder das Kharkover Zentrum für Gender Studies (KCGS) an, wobei das u.a. KCGS eine sehr reichhaltige Versandliste per e-mail betreibt.

URN urn:nbn:de:0114-qn021096

Ilka Borchardt

Berlin, z. Zt. in Novosibirsk / Rußland

E-Mail: semykina_ilka_1999@yahoo.de

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