Rainer Herrn:
Schnittmuster des Geschlechts.
Transvestitismus und Transsexualität in der frühen Sexualwissenschaft.
Gießen: Psychosozial 2005.
243 Seiten, ISBN 3–89806–463–8, € 29,90
Abstract: Jede Geschichte hat eine Vorgeschichte. Es ist das Verdienst von Rainer Herrn, mit dem hier angezeigten Buch die Frühgeschichte von Transgender auf- und nachgezeichnet zu haben, die sich in Berlin im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts zugetragen hat. Verknüpft ist diese Geschichte vor allem mit dem Namen Magnus Hirschfeld, der bislang in erster Linie als Vorkämpfer für die Entkrimininalisierung der Homosexualität wahrgenommen wurde. Einen passenderen Titel als Schnittmuster des Geschlechts hätte der Autor für sein Buch nicht finden können.
Das Buch kann als Fallstudie zu unterschiedlichen Themen gelesen werden: außer zur Geschichte der Identifikation von Transsexualität zum Umgang des Rechts mit Menschen, die die Heteronormativität des bürgerlichen Patriarchats für sich ablehnen, zum Verhältnis der verschiedenen Gruppen außerhalb der Heteronormativität zueinander, zur Geschichte des von Magnus Hirschfeld begründeten Instituts für Sexualwissenschaft und schließlich zur durch das „Dritte Reich“ unterbrochenen Geschichte der Sexualforschung selbst. Es umfasst, in insgesamt sieben Kapitel gegliedert, den Zeitraum von 1910 bis 1933, wobei das 7. Kapitel nur zwei Seiten lang ist und die „undankbaren Erben“ (S. 219 f.) Hirschfelds benennt, die nach dem Ende des 2. Weltkriegs die Transsexualität neu „entdeckt“ haben, obwohl sie es besser hätten wissen müssen.
Das Buch enthält ferner ein umfangreiches Literaturverzeichnis von 17 Seiten, ein Verzeichnis der insgesamt 54 Abbildungen und ein höchst lesenswertes Geleitwort von Volkmar Sigusch.
Im Korsett der (bourgeois-)bürgerlich-patriarchalen Gesellschaftsordnung Ende des 19. Jahrhunderts und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Männer in Frauenkleidern und Frauen in Männerkleidung als pathologisch in ihrer Sexualität eingeordnet. Ihnen wurden „conträre“ Sexualempfindungen unterstellt. Die Cross-Dresser, wie sie sich bereits in dieser Zeit in den USA selbst bezeichneten (vgl. S. 33), galten in der frühen Sexualwissenschaft deshalb zunächst als homosexuell. Hiergegen verwahrten sich viele jedoch vehement, wie Herrn anhand eindringlicher zeitgenössischer Quellen belegt (vgl. S. 31–37). Umgekehrt grenzten viele männliche Homosexuelle sich ebenso vehement von den Cross-Dressern als „Effeminierten“ ab (vgl. S. 38–42).
Hirschfeld, dessen wissenschaftlicher Ehrgeiz auf eine umfassende Geschlechtstheorie gerichtet war, konnte die Cross-Dresser zunächst nicht unterbringen. In seiner Schrift von 1905 Geschlechts-Übergänge. Mischungen männlicher und weiblicher Geschlechtscharaktere (sexuelle Zwischenstufen) erwähnt er sie deshalb erstmals als eigene Kategorie neben Homosexuellen und Hermaphroditen. 1910 veröffentlicht er eine Monografie mit dem Titel Die Transvestiten. Eine Untersuchung über den erotischen Verkleidungstrieb. Darin definiert er Transvestitismus als „den heftigen Drang, in der Kleidung desjenigen Geschlechts zu leben, dem die Betreffenden ihrem Körperbau nach nicht angehören“ (zit. nach Herrn, S. 54). 1912 folgt als Ergänzung ein von Hirschfeld und Max Tilke herausgegebener Bildband, der „sowohl die Transvestiten als Zielgruppe […] als auch die wissenschaftliche Öffentlichkeit“ hat (S. 70). 1929 verwendet Hirschfeld für dieses Phänomen auch schon den Begriff „seelischer Transsexualismus“ (zit. nach Herrn, S. 219).
„Um diesen ‚verkannten Mitmenschen Verständnis und gerechte Beurteilung zu verschaffen‘“, hat Hirschfeld in der Schrift von 1910 den Vorschlag unterbreitet, „die behördliche Legitimation, Kleidung des ‚anderen‘ Geschlechts zu tragen, von ärztlichen Gutachten abhängig zu machen“ (zit. nach Herrn, S. 74). Zwar war es in der Kaiserzeit nicht direkt verboten, Kleidung zu tragen, die nicht dem eingetragenen Geschlecht entsprach, doch riskierten Menschen, die dies taten, wegen „groben Unfugs“ strafrechtlich verfolgt zu werden, was damals mit Geldstrafe oder Haft belegt werden konnte.
Hintergrund war ein Fall, in dem es Hirschfeld und seinem Kollegen Abraham gelungen war, für eine Frau die behördliche Genehmigung zu erwirken, öffentlich Männerkleidung zu tragen. Für eine solche Genehmigung, die vor Verhaftung und Verurteilung bewahrte, bürgerte sich in den Folgejahren der Ausdruck „Transvestitenschein“ ein. Hirschfeld veröffentlichte eine Reihe der hierfür – teils auch von Kollegen – erstellten Gutachten, aus denen Herrn ausführlich zitiert (vgl. S. 79–93). Vielfach gelang es den Ärzten schon in diesen Jahren, eine Rechtswirkung zu erzielen, die nach dem Zweiten Weltkrieg erst vor dem Bundesverfassungsgericht erstritten werden musste (und dann zum Transsexuellengesetz von 1980 führte): nämlich die offizielle Erlaubnis, einen anderen Vornamen zu führen. Dies ist in der Bundesrepublik deshalb bedeutsam, weil hierzulande der Vorname das Geschlecht seines Trägers oder seiner Trägerin erkennen lassen muss.
Wenige Monate nach Ende des 1. Weltkriegs eröffnete Hirschfeld in Berlin das weltweit erste Institut für Sexualwissenschaft als private Einrichtung, das zu der Anlaufstelle für (wie sie immer noch bezeichnet wurden) Transvestiten aus dem In- und Ausland wurde. Ausführlich beschreibt Herrn, wie Betroffene hier nicht nur Rat, sondern teilweise auch Unterkunft fanden: für Hirschfeld und seine Kollegen zugleich Patient/-innen und Gäste, aber eben auch Studienobjekt (vgl. S. 115). Sie dienten einerseits dazu, die Zwischenstufentheorie zu überprüfen, andererseits fanden sie hier einen Ort, an dem ihnen Verständnis entgegengebracht sowie medizinische Behandlung und allgemeine Unterstützung gegen gesellschaftliche Repressionen zuteil wurde. Dies führte u.a. zu einer Liberalisierung der Behördenpraxis in der Anwendung der Strafrechtsnormen und Vornamenregelungen (vgl. S. 126 ff.), die bis in die 1970er Jahre wohl nirgends so weit ging wie im Berlin der 1920er Jahre.
Was die medizinische Seite betrifft, kommen im Institut für Sexualwissenschaft einerseits die Ergebnisse der Hormonforschung zur Anwendung, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Geschlechtshormone entdeckte, so dass sich ein anderer als der „bloß“ psychische Zusammenhang zwischen Geschlecht und Geschlechtsempfindung herstellte. Andererseits waren in der Medizin im 1. Weltkrieg Methoden und Fertigkeiten in restaurierender Chirurgie verfeinert worden, die nunmehr in den Dienst derjenigen Menschen gestellt werden konnten, die sich in ihrem Geburtsgeschlecht unglücklich fühlten und sich ihrer Geschlechtsorgane, die sie als nicht ihnen zugehörig empfanden, entledigen sowie die, die sie an sich vermissten, erhalten wollten. Herrn berichtet aber auch über die Gefährdungen, denen diese Menschen durch die „ungebremste Operationsfreudigkeit“ (S. 174) einzelner Mediziner ausgesetzt waren.
Interessant ist die dokumentierte Normativität in den Selbstbildern der Transvestiten oder Transsexuellen. Wiederholt wird berichtet, dass für ursprüngliche Männer die Vorstellung dazu gehörte, irgendwann auch einmal schwanger zu werden, so am eindrücklichsten von Lili Elbe (vorher: Einar Wegener), deren Geschichte ausführlich dargestellt wird (vgl. S. 204 ff.): „Durch ein Kind würde ich mir selbst gegenüber den eindeutigsten Wahrheitsbeweis geben können, Weib von Beginn an gewesen zu sein“ (S. 208); Lili Elbe war bereits damals durch ihre 1931 posthum herausgegebene Geschichte Ein Mensch wechselt sein Geschlecht: Eine Lebensbeichte auch öffentlich bekannt geworden. Umgekehrt wurden die Operationen an Transvestitinnen weniger als Geschlechtsumwandlungen wahrgenommen, sondern eher, so mutmaßt Herrn, als Neutralisierung, da die plastisch-chirurgische Ausformung männlicher Genitalien erst in den 1970er Jahren möglich wurde – und er fügt in einer Fußnote die Erklärung von Marjorie Garber hinzu, der zufolge hierin „die Asymmetrie des kulturellen Status von Männern und Frauen“ zum Ausdruck kommt (zit. nach Herrn, S. 198).
Das Buch beeindruckt durch die Fülle des verarbeiteten Quellenmaterials, das in seinen wörtlichen Zitaten oft sehr bewegend ist. Die Abbildungen wirken nicht nur auf der Ebene der beschriebenen Phänomene, sondern geben zugleich Zeugnis von historischen Sichtweisen zu Geschlecht. Wer sich mit Genderfragen befasst (von welcher Disziplin auch immer ausgehend), sollte diese in sich interdisziplinäre Studie zu Rate ziehen und wird überrascht sein, wie oft manche Phänomene offenbar „neu entdeckt“ werden müssen, bevor sie Eingang in öffentliche Diskurse finden.
URN urn:nbn:de:0114-qn072222
HD’in Dr. Konstanze Plett, LL.M.
Universität Bremen, Zentrum für feministische Studien und Fachbereich Rechtswissenschaft
E-Mail: plett@uni-bremen.de
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