Transgender und „Transsexualität“ als Frage der Menschenrechte. Eine Einführung anhand von Rechtsfällen

Rezension von Arne Duncker

Elisabeth Greif:

Doing Trans/Gender.

Rechtliche Dimensionen.

Linz: Universitätsverlag Rudolf Trauner 2005.

240 Seiten, ISBN 3–85487–832–X, € 22,50

Abstract: Als deutschsprachige Monographie zum neueren Transgender-Recht ist die vorliegende Dissertation Greifs über weite Strecken eine Pionierarbeit. Die Autorin untersucht in einer sehr schönen fallorientierten Übersicht die aktuelle Rechtsprechung oberster europäischer Gerichte (EuGH, EGMR). Ergänzend stellt sie die österreichische Rechtslage dar und schildert als Hintergrund der juristischen Entscheidungsprozesse die Entwicklung der außerjuristischen, namentlich medizinischen Diskurse. Die Arbeit stellt einen wichtigen Schritt zur rechtswissenschaftlichen Verarbeitung der bisher vorwiegend auf kulturwissenschaftlichem und medizinischem Gebiet geführten Transgender-Diskurse dar. Ihr ist eine weite Verbreitung zu wünschen.

Trotz der mittlerweile recht umfangreichen kulturwissenschaftlichen, medizinischen, biographiezentrierten sowie populärwissenschaftlichen Literatur herrscht weiterhin ein Mangel an spezifisch juristischen Monographien zur Transgender-Problematik. Im juristischen Diskurszirkel scheint – völlig anders als in den Geisteswissenschaften – geradezu eine gewisse Berührungsangst zu bestehen, sich durch größere Werke in diesem Themenumfeld zu positionieren. Die immer reichhaltiger werdende neuere Rechtsprechung sowie die in den letzten Jahrzehnten erlassenen Rechtsnormen zur sog. „Transsexualität“ und deren historische Vorläufer sind somit über weite Strecken noch nicht adäquat aufgearbeitet worden, ebensowenig wie das juristisch relevante Material zur Intersexualität und die reichlich vorhandenen Querverbindungen zu Kulturwissenschaft und Medizin. Die neuere rechtswissenschaftliche Literatur ist u. a. verstreut über eine Reihe von Urteilsbesprechungen, Kurzverweisen in Lehrbüchern und Kommentaren, Zeitschriftenartikeln, hinzu kommen eine ältere Dissertation (Schneider 1975), Festschriftenbeiträge (Wacke 1989, Will 1993) und ein Unterabschnitt im Rahmen einer rechtshistorischen Monographie (Duncker 2003). Vor diesem Hintergrund ist die aus dem frauenrechtsgeschichtlichen Forschungszusammenhang in Linz hervorgegangene Dissertation Greifs (Band 29 der Linzer Schriften zur Frauenforschung) eine sehr wichtige Arbeit. Der Autorin ist es gelungen, das nicht einfache Thema inhaltlich sehr ansprechend und recht übersichtlich zu verarbeiten. Ihr Schwerpunkt liegt dabei in der Darstellung der aktuellen Rechtsprechung oberster europäischer Gerichte (EuGH, EGMR) sowie der österreichischen Rechtslage.

Eingeteilt ist die Darstellung Greifs in ein Einführungskapitel (S. 1–17) und vier Hauptabschnitte zu unterschiedlichen Diskursebenen der Transgender-Debatten. Die zentralen und wissenschaftlich neuen Inhalte der vorliegenden juristischen Arbeit befinden sich dabei im zweiten bis vierten der genannten Hauptabschnitte. Dort werden in sehr übersichtlicher und gut strukturierter Weise drei wesentliche juristische Diskurszusammenhänge erläutert, nämlich diejenigen nach Europäischer Menschenrechtskonvention (EMRK), nach Recht der Europäischen Union sowie österreichischem Recht.

Transsexualität oder Transgender?

Nicht nur der Diskursbegriff, auch der Begriff der Transsexualität taucht in allen Abschnittsüberschriften als bestimmendes Element auf. Dass dieser Begriff aus neuester Sicht zu kritisieren ist, thematisiert Greif zu Recht in ihrem weiterführenden Abschnitt „Doing Transgender? – Ein Ausblick“ (S. 50–55). Dort berichtet sie davon, diese Bezeichnung beinhalte nach Meinung der Kritiker eine Pathologisierung der Betroffenen, eine Fixierung des Ausdrucks auf die sexuelle Neigung und/oder die körperlichen Sexualorgane und ihr läge ein heteronormatives binäres Geschlechtsbild zugrunde (vgl. S. 50 f.). Sie stellt sodann die ganz anders strukturierten Termini „Transidentität“ und „Transgender“ vor, bespricht allerdings leider nur letzteren Begriff ausführlich und mit guter Problementwicklung. Freilich bleibt sie die Antwort schuldig, warum sie als Einteilungskriterium und im fortlaufenden Text der Arbeit, insbesondere in den sehr wichtigen juristischen Kapiteln, trotz vorhandenen Problembewußtseins nahezu ausschließlich den althergebrachten Begriff der Transsexualität verwendet. Dieser ist zwar durchaus vertretbar, doch es wäre hilfreich gewesen, seine Verwendung genau zu begründen. Ein möglicher Grund wäre beispielsweise, dass hier einfach die Sprache vieler zur Zeit herrschender Rechtsquellen verwendet wird („nach den alten Regeln spielen“, vgl. S. 54). Gerade die in der Arbeit dokumentierte Rechtsentwicklung zeigt allerdings, dass Rechtsinhalte und Rechtssprache hier in ständigem Fluss sind und die „alten Regeln“ weniger gefestigt sind, als es den Anschein haben mag. Nicht zuletzt ist aus deutscher Sicht auf die Reformentwürfe der letzten Jahre zum Transsexuellengesetz zu verweisen, in denen u. a. ausdrücklich von einem Transgender-Gesetz die Rede ist.

Einleitung und „medizinhistorischer Diskurs“

Der überwiegende Teil der Einleitung (S. 2–17) und der erste Hauptabschnitt („Transsexualität im medizinhistorischen Diskurs“, S. 18–55) lassen sich zusammenfassend als eine im besten Sinne interdisziplinäre Einführung in das zu behandelnde Rechtsthema charakterisieren. Greif referiert hier gewissenhaft und in einem sehr begrüßenswerten, für eine juristische Arbeit ungewöhnlichen Umfang außerjuristische (nicht nur medizinhistorische) Literatur. Diese ist ihrerseits notwendig, um die später besprochenen Rechtsquellen kompetent in einen übergreifenden geschlechtertheoretischen Zusammenhang einordnen zu können. Eine eigenständige Positionierung der Arbeit im Rahmen der einleitend dargestellten Diskurse wird bisweilen angedeutet, unterbleibt im ersten Hauptabschnitt jedoch über weite Strecken. Sie ist freilich auch nicht zwingend erforderlich, da die interdisziplinäre Darstellung lediglich einen Diskussionsrahmen zur Einordnung der juristischen Quellen bilden soll. Gerade vor diesem Hintergrund ist sie als eine gut gelungene, verständliche, sehr inhaltsreiche Einführung in das Thema zu verstehen, die für zukünftige einschlägige Arbeiten aller Fachrichtungen einen hervorragend verwertbaren Überblick über den derzeitigen Forschungsstand liefert.

Behandelt werden zunächst die Dispute im aktuellen sozial- und kulturwissenschaftlichen Schrifttum unter besonderer Berücksichtigung Judith Butlers, sodann die antiken und frühneuzeitlichen medizinischen Lehren zum Geschlechtsunterschied, die rechtshistorischen Befunde zu transidentem Verhalten und zu Hermaphroditen, die frühe Entwicklung des transsexuellen Diskurses seit Magnus Hirschfeld, die „Wiederentdeckung der Transsexualität“ ab 1949 nebst Formulierung der gegenwärtig vorherrschenden medizinischen Beurteilungskriterien, schließlich die aktuellen Transgender-Diskurse.

An der sehr schönen Zusammenfassung ist kaum etwas zu bemängeln. Allenfalls wäre es noch sinnvoll gewesen, was die Quellen der Zeit vor 1900 betrifft, in den Fußnoten zusätzlich zur Sekundärliteratur häufiger auch den Fundort der Primärquelle zu zitieren. Was die Sekundärliteratur selber betrifft, hätte eine ergänzende Einbeziehung der Monographie Annette Runtes (Biographische Operationen. Diskurse der Transsexualität, München 1996) die Materialbasis noch erheblich vertiefen können, auch spiegelt die ausgewählte Literatur oft die vermeintliche Deutungshoheit der Mediziner wider. Doch jede Literaturauswahl ist subjektiv, und die vorliegenden Anmerkungen sind lediglich als ergänzende Hinweise zu einem insgesamt erfreulichen Abschnitt der Arbeit zu verstehen.

Die Europäische Menschenrechtskonvention

Der umfangreichste Unterabschnitt der Arbeit (S. 56–128) ist der „Transsexualität im Menschenrechtsdiskurs“ gewidmet. Hierunter ist nicht etwa eine abstrakte Behandlung der Menschenrechte zu verstehen, sondern ihre konkrete Anwendung im Rahmen der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Diese gilt in zahlreichen europäischen Staaten als innerstaatlich anzuwendendes Recht. Die Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) können damit als verbindliche Leitentscheidungen für weite Teile Europas eingestuft werden.

Greif bespricht detailliert insgesamt neun Entscheidungen des EGMR im Umfeld der menschenrechtlichen Behandlung von Transsexualität. Typischerweise handelt es sich um Gerichtsverfahren, die von persönlich Betroffenen als Beschwerdeführern gegen ihren Staat unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte geführt wurden. Die überwiegende Zahl der in diesem Zusammenhang eingebrachten Beschwerden stützte sich auf die Art. 8, 12 und 14 EMRK. Art. 8 räumt jedem Menschen Anspruch auf Achtung des Familien- und Privatlebens einschließlich der sexuellen Identität ein, Art. 12 gewährt Frauen und Männern im heiratsfähigen Alter das Recht, nach Maßgabe der nationalen Gesetze eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, und Art. 14 als Gleichheitssatz verbietet jede Form der Diskriminierung beim Genuss der in der Konvention festgelegten Freiheiten.

Die geschilderten Fälle werden sehr eingehend und mit bisweilen hervorragenden Querbezügen auf das geschlechtertheoretische Schrifttum besprochen. In diesem exzellenten und zentralen Abschnitt der Arbeit wird ein im Zuge der fortschreitenden Fallrechtsprechung entstehendes und weiter im Entstehen begriffenes System des Grundrechtsschutzes in Transgender-Fällen entwickelt. In der Praxis ergingen die Gerichtsentscheidungen häufig in Konfrontation mit dem britischen Recht.

Aus deutscher Sicht, so ließe sich unter dem Eindruck der Arbeit Greifs und ergänzend zu dieser hinzufügen, ist eine parallele Entwicklung feststellbar. Das deutsche „Transsexuellenrecht“ entstand nur vordergründig als Akt des Gesetzgebers. Die tatsächlichen Meilensteine dieses Rechts wurden vielmehr durch das Bundesverfassungsgericht aufgrund von Verfassungsbeschwerden der Betroffenen gesetzt, worauf der Gesetzgeber lediglich reagierte.

Übergreifend läßt sich daher die vom Material der vorliegenden Untersuchung bestärkte These formulieren, dass es sowohl in formaler als auch in materieller Hinsicht einen spezifisch juristischen Zugang zur Definition und Bewältigung von Transgender-Fragen gibt, der sich markant von den meisten Varianten der medizinischen sowie geschlechtertheoretischen, sozial- und kulturwissenschaftlichen Zugänge unterscheidet:

Formal ist dieser juristische Zugang geprägt von der Beschwerde eines in der Regel selbst betroffenen Individuums bei einem unabhängigen Gericht gegen ein bestehendes staatliches Normensystem zur Definition und Regelung von Geschlechtlichkeit. Dies beinhaltet einerseits einen individualistischen Ansatz, andererseits die Definition der Fragestellung nicht durch medizinische und andere Wissenschaftler, sondern durch die Betroffenen selbst. Die Beantwortung der Frage erfolgt dann freilich nicht mehr durch die Betroffenen selbst, sondern durch die Richter/-innen, insofern hat auch der juristische Zugang teilweise den Charakter einer Bestimmung von außen.

Materiell ist der spezifisch juristische Zugang geprägt vom Entscheidungskriterium der individuellen Grundrechte (im deutschen Diskurs) bzw. Menschenrechte (im europäischen Diskurs). Auch hier steht das Individuum im Mittelpunkt, und durch die Betonung der klassischen Freiheitsrechte und deren neue Anwendung auf Transgender-Fragen werden die Individualinteressen tendenziell stärker gewichtet als abstrakte traditionelle Geschlechtsordnungskritierien der Gemeinschaft (insoweit in der Argumentationsstruktur durchaus eine gewisse Parallele zur damals neuen Anwendung der klassischen Gleichheits- und Freiheitsrechte auf Frauen im Forderungskatalog der bürgerlichen Frauenbewegung um 1900). Auch durch die materiellen juristischen Kriterien wird damit im Ergebnis eher das Prinzip der Selbstbestimmung gefördert, die Prinzipien der überindividuellen Ordnung oder der betreuenden Hilfe werden dagegen zurückgedrängt.

Rechtsprechung des EuGH

Das Recht der Europäischen Union (S. 129–153) untersucht Greif unter ähnlichen Gesichtspunkten wie zuvor die Entscheidungen des EGMR. Auch hier steht die Rechtsprechung im Mittelpunkt: besprochen werden Entscheidungen des EuGH, zu dem die Sache jeweils aufgrund der Rechtsmittel Betroffener gegen vermeintliche Rechtsverletzungen gelangte. Auch hier gehen die möglichen Rechtsverletzungen von britischen Institutionen aus, und auch hier geht es zentral um die mögliche Anwendung eines abstrakten grundrechtsähnlichen Satzes (Verbot der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts) auf die Lage von Transgender-Personen. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang namentlich Greifs schöner Exkurs über „die juristische Herstellung von ‚Gleichheit‘“ (S. 141–146): die Kriterien des EuGH zur Bildung geschlechtlicher Vergleichsebenen werden hier als widersprüchlich charakterisiert.

Zur Lage in Österreich

Abschließend bespricht Greif im einzelnen die innerstaatliche Lage in Österreich (S. 154–212). Diese ist anders als in Deutschland nicht in erster Linie durch Gesetzesparagraphen, sondern seit 1983 zentral durch formal nur verwaltungsinterne Erlasse des Bundesministeriums für Inneres bestimmt. In materieller Hinsicht sind diese allerdings als Rechtsverordnungen bindend (vgl. S. 158). Der aktuelle Erlass datiert von 1996.

Greif gibt eine detaillierte Übersicht über die in Österreich möglichen Verfahren einschließlich einer Vielzahl von Beispielfällen und Grenzfällen. Verschiedene Erwägungen sind über den nationalen Rahmen Österreichs hinaus von grundsätzlicher Bedeutung. Hier sei insbesondere auf S. 169–171 („Der Geschlechtsbegriff der österreichischen Rechtsordnung“) verwiesen. Greif überprüft hier kritisch die Argumente, aufgrund derer die traditionelle Rechtslehre die eindeutige Zuordnung einer Person entweder zum männlichen oder zum weiblichen Geschlecht verlangt, beispielsweise als Einordnungskriterium für Wehrpflicht und Eheschließung. Sie teilt völlig zu Recht die traditionelle und noch herrschende Auffassung nicht und verweist darauf, dass diese hinsichtlich der Eindeutigkeit der Geschlechtszuordnung stillschweigend auf vermeintliche biologische Tatsachen Bezug nimmt, die dem aktuellen geschlechterbiologischen Schrifttum widersprechen.

Begleitendes Material und Gesamteindruck

Leider fehlt ein Register, dieses wäre zur schnellen Erschließung der Informationen sehr hilfreich gewesen. Zu begrüßen ist, dass drei außerhalb Österreichs nicht leicht zu beschaffende Rechtsquellen als Anhänge der Arbeit beigefügt wurden. Hierdurch wird die rechtsvergleichende Arbeit wesentlich erleichtert, und die Ergebnisse Greifs können auch in die aktuellen Reformdiskussionen außerhalb Österreichs eingebracht werden. Im Literaturverzeichnis ist die schöne Einbeziehung einer Vielzahl außerjuristischer Literaturnachweise hervorzuheben, die in den Fußnoten der Untersuchung immer wieder herangezogen werden, u. a. werden sie mitunter sehr geschickt in die Bearbeitung der juristischen Fälle einbezogen. Insgesamt lässt sich sagen, dass hier ein schwieriges Thema in sehr überzeugender Weise ausgewertet worden ist. Es handelt sich um eine der leider zu seltenen rechtswissenschaftlichen Arbeiten, die den gerade auch im Interesse des Rechtsstoffes wichtigen Blick über den „juristischen Tellerrand“ wagen und sehr gekonnt die Ergebnisse von Nachbarwissenschaften zur Untersuchung der abgehandelten Rechtsfragen mit heranziehen. Der Arbeit kommt nicht nur ein bleibender Platz in der Transgender-Forschung zu, sondern auch in der juristischen Geschlechterforschung schlechthin, denn die Untersuchung und von Greif vorgenommene „Vermessung“ der juristischen Geschlechtergrenze ist in vielfältiger Weise für die Rechtsstellung von Frauen und Männern generell relevant, ob nun in der Ehedefinition, der geschlechtsspezifischen Anwendung von Gleichheits- und Freiheitsrechten oder hinsichtlich der individuellen Selbstbestimmung entgegen rechtlich und kulturell zugewiesener Geschlechterrollen.

URN urn:nbn:de:0114-qn072063

Dr. Arne Duncker

Universität Hannover, Juristischer Fachbereich, Lehrgebiet Zivilrecht und Rechtsgeschichte

E-Mail: Bikila@t-online.de

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