Stephen P. Robertson:
Crimes against Children.
Sexual Violence and Legal Culture in New York City, 1880–1960.
Chapel Hill, London: The University of North Carolina Press 2005.
337 Seiten, ISBN 0–8078–2932–3 (Hardcover)/ 0–80708–5596–0 (Pb.), US$ 22,50/ca. € 20,00 (Pb.)
Abstract: Ein öffentliches Interesse an sexueller Gewalt gegen Kinder setzte in den Vereinigten Staaten mit dem Ende des 19. Jahrhunderts ein. Stephen P. Robertsons Studie ist die erste, die über den langen Zeitraum von 1880 bis 1960 ein amerikanisches Gericht und die an ihm beteiligten Menschen mit all ihren unterschiedlichen Vorstellungen über Kindheit und Sexualität begleitet.
Was in der außerparlamentarischen Linken Westeuropas und der Vereinigten Staaten seit den 1960er Jahren als Triple Oppression firmierte, wurde in den letzten Jahren zum Standard historischer Forschung. Gender, class und race gehören zum klassisch gewordenen Kategorienkanon historischen Verstehens. Diese Dreieinigkeit eröffnete vor allem im Bereich der Gender Studies schlüssige Einsichten in die Konstruktion kultureller Phänomene. Eine weitere wichtige Kategorie historischen Verstehens jedoch wurde vergessen, so die Behauptung Stephen P. Robertsons – die des Alters. Vor allem bei Fragen rund um die Sexualität zogen nicht nur sexuelle Praktiken, sondern auch das Alter der beteiligten Personen die Grenzen zwischen Erlaubtem und Verbotenem. „[T]he imperative to see sexuality through the prism of age was a central part of twentieth-century concepts of sexuality“, fasst Stephen P. Robertson seine zentrale These zusammen (S. 233).
Robertsons Untersuchung sexueller Gewalt an Kindern in New York von 1880 bis 1960 kreist um das Alter als eine der Schlüsselkategorien, mit dem Rechts- und Alltagskulturen amerikanischer Bürger verstanden werden sollen. Der Zeitraum markiert für Robertson den Beginn und das Ende eines besonderen Interesses an Kindern als Opfer sexueller Gewalt. Warum dominierten kindliche Opfer die Wahrnehmung sexueller Gewalt in den Jahren zwischen 1880 und 1960? Wer wurde als Kind wahrgenommen? Wieso galten manche Mädchen als frühreif, andere als unschuldig? Welche Auswirkungen hinterließen wissenschaftliche Theorien wie die der allmählichen Entwicklung vom Kind zum geschlechtsreifen Menschen im Alltagsverständnis über Kindheit? Diese Fragen will Stephen P. Robertson anhand der Akten der New Yorker Staatsanwaltschaft und der New Yorker Gesellschaft zur Verhinderung von Grausamkeiten gegen Kinder (New York Society for the Prevention of Cruelty to Children/NYSPCC) beantworten. Dabei geht es ihm aber weniger um das Verstehen der Rechtskulturen des Mittelstandes, also derjenigen Menschen, die die Quellen verfassten. Vielmehr versucht Robertson, Handlungen und Einstellungen der Unterschichten zu rekonstruieren. Recht versteht Robertson dabei als ein Resultat, das unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen (in diesem Falle untere Schichten und Mittelschichten) gemeinsam und gegeneinander hervorbrachten. Dieses Mit- und Nebeneinander von „modernen Ideen“ (S. 3) über Sexualität und Kindheit, das laut Robertson in den 1960er Jahren in der Vorstellung einer allmählichen sexuellen Entwicklung des Kindes zum Erwachsenen mündet, strukturiert den Verlauf des Buches.
Die Gründung der NYSPCC in den 1870er Jahren ist Robertsons Ausgangspunkt. Mit Aufnahme der Vereinsarbeit war ein deutlicher Anstieg von Fällen sexueller Gewalt gegen Kinder zu verzeichnen. Die NYSPCC etablierte sich in kürzester Zeit nicht nur als Rechtshilfeverein, der die Opfer sexueller Gewalt vor Gericht vertrat, sondern auch in den Arbeitervierteln New Yorks als Anlaufstation akzeptiert wurde. Die Vorstellungen über Kindheit in den Kreisen der NYSPCC unterschieden sich dabei deutlich von denen der Unterschichten. Für die Arbeiter New Yorks, so Robertson, waren Attribute wie Unschuld und Unwissenheit von zentraler Bedeutung für die Frage danach, ob es sich um Kinder handelte. Die NYSPCC betonte hingegen „objektive“ Kriterien wie das Alter und legte die Schwelle bei 16 Jahren fest. Robertson stellt dar, wie sehr die Geschworenen Unwissenheit in sexuellen Belangen bei Mädchen unter elf Jahren erwarteten und wie schwer sie sich damit taten, diese Unwissenheit in bereits pubertierenden Mädchen zu entdecken. Die Agenten der NYSPCC hingegen bemühten sich, auf der Grundlage ihres Verständnisses von Kindheit alle Mädchen unter 16 als unwissend und unerfahren darzustellen. Trotzdem antizipierte die NYSPCC in ihren Vernehmungsprotokollen die Vorstellungen der Geschworenen und präsentierte die kindlichen Opfer als ignorante, passive Wesen. Die Chancen auf eine Verurteilung sollten so steigen.
Ganz anders fielen die Berichte der NYSPCC bei sexueller Gewalt gegen Jungen aus. Im Unterschied zu denen über Mädchen findet sich in ihnen eine deutliche Betonung des Widerstandes, den die Opfer ihren Angreifern angeblich geleistet hatten. Robertson führt dies darauf zurück, dass diese andere Präsentation der männlichen Opfer weniger Ausdruck der tatsächlichen Haltung des NYSPCC war als Rückschlüsse auf die Vorstellungswelten der New Yorker zulässt. Diese nämlich entdeckten bereits in frühester Kindheit bei Jungen eine Männlichkeit, die sich im Falle eines Angriffes in Gegenwehr und Widerstand übersetzte. Wegen dieser vermeintlichen Männlichkeit unterschätzten die New Yorker sexuelle Gefahren gegenüber Jungen in der Regel einerseits, während sie andererseits bei homosexuellen Vergewaltigungen quasi automatisch einen viel höheren Widerstand als bei heterosexuellen Vergewaltigungen vermuteten. Die Vorstellungen von Kindern waren also dominiert von der Idee eines unschuldigen, sich entwickelnden Körpers, der zwar für Jungen und Mädchen unter elf Jahren galt, nicht aber für die gefährlicheren, weil nicht mehr unschuldigen, pubertierenden Mädchen. Das Bild des „Teenagers“ als Person, die mehr war als ein sich entwickelnder Körper, sondern mit Geist und sogar sexueller Aktivität beseelt, erreichte seine Prominenz um die Jahrhundertwende. Unklar bleibt allerdings, warum ausgerechnet die Haltung der NYSPCC zu dieser dauerhaften Unterscheidung von Kindern und Jugendlichen geführt haben soll. Ebenso könnte man behaupten, die NYSPCC habe hier schlicht die Meinungen und Vorstellungen der New Yorker Geschworenen antizipiert; demzufolge wäre das Alltagsverständnis der unteren Schichten grundlegend für die Scheidung der Kindheit in ein kindliches und ein zweites jugendliches Alter.
Ebenso streitbar ist Robertsons Behauptung, dass bei Gewalt gegen Kinder die Wichtigkeit von gender durch das Alter abgelöst wurde. Während also noch im späten 19. Jahrhundert die unterschiedliche Behandlung von Mädchen und Jungen bei Sexualdelikten Alltag war, hätten vor allem die Entwicklungen in der Psychologie, respektive Psychoanalyse dazu geführt, dass Kinder zunehmend als geschlechtslose Kinder und Jugendliche, nicht mehr als Mädchen und Jungen wahrgenommen wurden. In den von ihm zitierten Fällen wurden um die Jahrhundertwende Zeugen auf Delikte sexueller Gewalt nur aufmerksam, weil erwachsene Männer mit kleinen Mädchen spazieren gingen oder sich in Hinterhöfen herumtrieben. Männer, die mit Jungen gesehen wurden, erregten keine Aufmerksamkeit. Den Beweis, dass sich dies nach 1930 geändert haben sollte, bleibt er schuldig. Ebenso problematisch ist sein Hinweis auf die schwindende Wichtigkeit von gender im Zusammenhang mit den Geschworenengerichten. Die Anwesenheit von Frauen in der Jury führte nicht zu einer Häufung von Schuldsprüchen, ergo, so Robertson, war die Wahrnehmung von Männern und Frauen die gleiche. Dieses Argument ist keineswegs zwingend, da eine Jury einstimmig zu urteilen hatte. Ein oder zwei Frauen, die möglicherweise mehr Sympathien mit den Opfern aufbrachten, hätten sich wohl kaum gegen eine Mehrheit von Männern durchgesetzt.
Trotz dieser Mängel ist Stephen P. Robertsons Buch über sexuelle Gewalt an Kindern sehr lesenswert. Besonders beeindruckend ist seine Darstellung des mit jeder Gesetzesänderung neu entstehenden Handlungsbedarfes, desjenigen Terrains also, in dem dann die beteiligten Akteure aufs Neue um den adäquaten Schutz von Kindern rangen. So verdankt sich die Begrenzung des Untersuchungszeitraums auf die Zeit vor 1960 auch weniger der Tatsache, dass Robertson behaupten würde, dass seither der Schutz der Kinder gewährleistet sei. Vielmehr sei seit den 1960er Jahren das Terrain abgesteckt, innerhalb dessen sich bis heute bewegt wird, wenn es um Sexualverbrechen an Kindern geht: die Vorstellungen vom lüsternen Psychopathen und die Entwicklungspsychologie des Kindes.
URN urn:nbn:de:0114-qn072210
Alexandra Oberländer
Humboldt-Universität Berlin/Institut für Geschichtswissenschaften
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