‚Fleißige Bienen‘, ‚Vertager‘ und ‚Durchhalter‘. Zur kulturellen Umpolung von Arbeit und Familie

Rezension von Cord Arendes

Arlie Russell Hochschild:

Keine Zeit.

Wenn die Firma zum Zuhause wird und zu Hause nur Arbeit wartet.

Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften 2006.

2. Auflage, 305 Seiten, ISBN 3–531–14468–5, € 19,90

Abstract: Wie lässt sich eine für alle Beteiligten zufriedenstellende Balance zwischen Arbeit und Familie in der globalisierten Wirtschaftsgesellschaft erreichen? Arlie Russel Hochschild zeigt in ihrer Untersuchung der Implementierung entsprechender Programme in einem amerikanischen ‚Top-Unternehmen‘, dass im Kontrast zu den postulierten Zielen die Maßnahmen sogar dazu beitragen, einen ‚negativen‘ Wertewandel zu beschleunigen: Für Männer und insbesondere auch Frauen wird die Firma zum Zuhause, während die Familie als „zweite Schicht“ nur noch zusätzliche Arbeit bedeutet.

Zum prekären Verhältnis von Arbeitszeit und Lebenszeit

Hochschild konnte im Verlauf von 3 Jahren umfassende Untersuchungen der Lebens- und Arbeitsbereiche von Angestellten auf allen Ebenen der Firmenhierarchie im Auftrag eines für seine Familienpolitik preisgekrönten „anonymisierten“ Unternehmen der amerikanischen „Top 100“ durchführen. In den USA steigen die Arbeitszeiten bei beiden Geschlechtern an und sind insgesamt länger als in Deutschland – bei zugleich kürzeren Urlaubszeiten. Den oberen sozialen Schichten gelingt es mitunter sogar, die Zeitfalle zum Bestandteil der eigenen Persönlichkeit zu machen, wie die Typen ‚fleißige Biene‘, ‚Vertager‘ oder ‚Durchhalter‘ zeigen (S. XXIII). Beruf und Familie können „nicht mehr als getrennte Komplexe von Tätigkeiten“ verstanden werden, „sondern als miteinander verflochtene und dennoch konkurrierende emotionale Kulturen.“ (S. XXXII) Dies führt Hochschild zu ihrer These, dass Arbeit und Zuhause in den letzten 30 Jahren einen entscheidenden Wandel durchgemacht haben, die Art und Weise, wie wir über die beiden Bereiche denken und kommunizieren, aber nahezu unverändert geblieben ist. Was ist heute eigentlich Arbeit? Und: Was ist Zuhause?

Rollenspiele in einem Großunternehmen

Ausgangspunkt der Untersuchung Hochschilds war die Beobachtung, dass man die mangelnde Zeit berufstätiger Eltern bzw. Mütter für die Kinder nicht zu Hause untersuchen kann. Entscheidend ist der Bereich Arbeit bzw. sind die Arbeitsbedingungen. Fakt ist: Die Arbeitstage sind in den USA in den letzten Jahren um ein bis 1,5 Stunden nach hinten ‚gewachsen‘. Die Unternehmenskultur fortschrittlicher Firmen lockt mit dem Versprechen mehr „sorgenfreie(r) Zeit bei der Arbeit“ und mehr „konfliktfreie(r) Zeit zu Hause“ (S. 27). Das Angebot wird aber nur selten genutzt – warum? Es gibt kein gemeinsames und entschlossenes Vorgehen gegen zu lange Arbeitszeiten. Wenn, dann wird die „sorgenfreie“ und damit flexible Arbeitszeit eingefordert, nicht eine Verkürzung, die mehr Zeit mit den Kindern zu Hause bedeuten würde (vgl. S. 31 ff).

Die Arbeitsstätte wird zum Erholungsraum vom häuslichen Stress und den familiären Problemen. Die soziale Welt, die eine „Verbindlichkeit“ von uns einfordert, bestimmt in der Regel auch unsere Zeitmuster (vgl. S. 57). Als Folge wird das Familienleben vielerorts nun ebenfalls nach Effizienzprinzipien gestaltet. Ehemals gemeinsame Aktivitäten werden an Dritte ‚delegiert‘, von der Kinderbetreuung und dem Sommercamp bis hin zu Dating-Agenturen. In den Führungsetagen übernehmen Männer oft eine erweiterte Vaterrolle gegenüber ihren Untergebenen, die sie mehr ausfüllt als ihre eigentliche Rolle als Familienvater – und nur möglich wird, weil die Ehefrau sich allein der Kinderbetreuung widmet (vgl. S. 77 f.). Ähnliche „Fluchten“ gibt es auch auf Seiten der weiblichen Führungskräfte, die sich neben ihrer Rolle als „Mutter“ im Betrieb aber oft auch noch als „häusliche Managerin“ (vgl. S. 90) betätigen müssen – ohne auf einen Ehemann zurückgreifen zu können, der bei den familiären Problemen hilft.

Steigende gesellschaftliche Anerkennung durch Mehr-Arbeit?

Übererfüllung des Arbeitszeitsolls ist zum unausgesprochenen Standard geworden, Teilzeitarbeitsverhältnisse sind nur schwer durchzusetzen, sowohl gegenüber den unmittelbaren Vorgesetzten als auch den Kolleginnen und Kollegen: „Die einzige Art und Weise, an einer Teilzeitregelung festzuhalten, ohne gegen die unausgesprochenen Regeln des Arbeitsplatzes zu verstoßen, war im Grunde, Vollzeit zu arbeiten.“ (S. 114) Die Probleme setzten sich in der Firmenhierarchie bis auf die unteren Ebenen der nach Arbeitsstunden bezahlten Beschäftigten fort. Insgesamt gibt es für alle Beteiligten trotz unterschiedlicher Problemkonstellationen nur einen Bereich, in dem Zeit unter eigener Steuerung gemanagt werden kann: die Familie (vgl. S. 207).

Die kulturelle Bedeutung von Arbeit und das Ansehen, das man durch sie erreichen kann, entwertet das Privatleben – und erst Recht die zu Hause anfallenden Arbeitsprozesse. Arbeitsplatz und Zuhause haben also in den Worten Hochschilds eine „kulturelle Umpolung“ durchlaufen (S. 217). Nach außen steht der Kampf des Unternehmens im Rahmen der Globalisierung, nach innen der Kampf um die Zeit und vor allem auch um die „Herzen“, d. h. die Loyalität der Arbeitnehmerinnen und -nehmer. Die Familie dagegen wird einem neuen „Effizienzkult“ (S. 231) unterstellt. Neben die erste (Erwerbsarbeit) und die zweite (Hausarbeit) tritt so noch eine dritte Schicht, das persönliche Zeitmanagement. Die Flucht in die Arbeit nimmt meist erst dann ihr jähes Ende, wenn aufgrund des wirtschaftlichen Drucks Entlassungen anstehen oder schwere Krankheiten auftreten.

Gender- und Familienfragen als betriebswirtschaftliches Organisationsproblem

Wie Mechtild Oechsle in ihrem Vorwort schreibt, hat die deutsche Erstauflage der Studie Hochschilds vor allem im Kontext arbeits- und familiensoziologischer Studien, aber auch in der Genderforschung einen großen Nachhall gefunden. In der „Praxis“ hingegen ist das Buch eher negativ aufgenommen worden: Hochschilds These gehe an den aktuellen und sich ständig neu den Bedürfnissen anpassenden Realitäten vorbei (vgl. S. VII f.).

Die Tendenzen zu einer Werteverschiebung zwischen Arbeit und Privatleben sind auch in Deutschland unübersehbar: Erfahrungen von Zeitnot und Zeitdruck haben stark zugenommen. Die Studie von Hochschild liefert somit wichtige Argumente und Ansichten für eine notwendige und überfällige Debatte. Ihr gelingt es, neben den Risiken und Ambivalenzen auch die Chancen von Programmen zur Verbesserung des Verhältnisses von Arbeits- und Lebenszeit – gerade auch im Kontext der Untersuchung von Geschlechterbeziehungen – deutlich aufzuzeigen. Aber: Gender- und Familienfragen dürfen nicht von einem gesellschaftlichen Gerechtigkeitsproblem zu einer Frage der internen und somit wirtschaftlichen Betriebsorganisation werden.

Die nicht nur im europäischen Vergleich zu niedrige Geburtenrate mit ihren Diskussionen um entsprechende familienpolitische Gegenmaßnahmen und die aktuellen Arbeitszeitdebatten haben in Deutschland erneut zu einer Debatte darüber geführt, wie viel ihrer Lebenszeit die Angestellten ‚ihrem‘ Unternehmern zur Verfügung stellen müssen. In der Nichtthematisierung des Gestaltungspotentials der Politik liegt denn auch eine klare Schwäche von Hochschilds ansonsten überzeugender Untersuchung. In modernen Gesellschaften ist Arbeit nicht allein ein Aushandlungsgegenstand zwischen Arbeitgeberinnen und Arbeitnehmern. In Deutschland entzünden sich die öffentlichen Debatten immer noch an den ‚traditionellen Punkten‘ einer gestaltenden Familienpolitik. Nur an einer Stelle (S. 266) gibt Hochschild einen dezenten Hinweis darauf, was Zeitnot für die Demokratie bedeutet: Die zivilgesellschaftlichen Institutionen verlieren Mitstreiter – es fehlt schlicht an Zeit für notwendiges bürgerschaftliches Engagement. Dieses Missverhältnis wird leider nicht weiter ausgeführt. Die Realität ist auch hier schon weiter: Auch in Deutschland gibt es einen Trend – besonders in multinationalen Unternehmen –, dieses Engagement ebenfalls im Rahmen der Arbeitszeit zu ‚regeln‘: Die Unternehmen gerieren sich als ‚Corporate Citizen‘, die Arbeitnehmer müssen sich als ‚Corporate Volunteers‘ verstehen und Zeit ‚investieren‘. Die Zeit-Schere zwischen Haus und Arbeit geht so weiter auseinander, eine gerechte Verteilung der Belastungen zwischen den Geschlechtern wird so – trotz vieler anderslautender Postulate – weiter erschwert werden.

URN urn:nbn:de:0114-qn072028

Dr. Cord Arendes

Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften (ZEGK), Historisches Seminar/Zeitgeschichte

E-Mail: Cord.Arendes@urz.uni-heidelberg.de

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