Vormundschaftsrecht als Grundlage politischer Herrschaft

Rezension von Arne Duncker

Pauline Puppel:

Die Regentin .

Vormundschaftliche Herrschaft in Hessen 1500–1700.

Frankfurt a.M., New York: Campus 2004.

407 Seiten, ISBN 3–593–37480–3, € 45,00

Abstract: In ihrer beachtlichen und sehr gewissenhaft dokumentierten Arbeit über vormundschaftliche Regentschaften im 16. und 17. Jahrhundert beschreibt Pauline Puppel unter ausführlichem Bezug auf zeitgenössische Literatur und Archivalien sowohl die allgemeine Rechtslage im damaligen Reich als auch die Anwendungsfälle in Hessen, wo zwischen 1500 und 1700 insgesamt viermal eine Landgräfin als Vormünderin des Fürsten zur Regentin ihres Landes wurde. Dies steht exemplarisch für eine bereits in der Frühen Neuzeit mögliche und nicht einmal ganz seltene Form politischer Frauenherrschaft, die bisher oft nicht hinreichend gewürdigt wurde. Puppels Untersuchung ist in zwei Hauptteile gegliedert. Der erste Teil (Das juristische Regelwerk“, S. 34–143) behandelt die zeitgenössischen Rahmenbedingungen der durch Frauen ausgeübten Vormundschaft und Regentschaft. Der zweite Abschnitt („Die Landgräfinnen von Hessen als Regentinnen“, S. 144–307) befasst sich mit der Ausfüllung dieser Regeln durch konkrete Fallbeispiele in Gestalt von Leben und Regentschaft der regierenden Landgräfinnen von Hessen.

Fragestellungen und Forschungsstand

Einleitend beschreibt die Autorin Fragestellungen und Forschungsstand (S. 13–34). Zwar sei Herrschaft in der Frühen Neuzeit grundsätzlich als eine männliche Aufgabe definiert gewesen, doch habe es in monarchisch strukturierten Territorien für Fürstinnen zwei unterschiedliche Möglichkeiten gegeben, zur Herrschaft zu gelangen: bisweilen aufgrund subsidiären Erbrechts bei Aussterben der männlichen Linie – wie im Fall Maria Theresias –, häufiger aber als Regentin für einen minderjährigen Erbprinzen. Puppel verweist hierzu auf Johann Jacob Moser, einen der führenden Staatsrechtler des 18. Jahrhunderts, der die Mutter an erster Stelle als zur Übernahme der Vormundschaftsregierung berechtigt ansah. Hieraus folgert Puppel (S. 17), die vormundschaftlichen Regentschaften hochadliger Frauen seien keine Zufälle gewesen, sondern hätten auf einem weit verbreiteten „Rechtsinstrument“ beruht. Regentinnen seien immer wieder anzutreffen gewesen, und es sei falsch, sie als Ausnahmefälle zu bezeichnen. Das Erkenntnisinteresse der Studie richte sich demnach auf die legitimierte und institutionalisierte Herrschaft von Frauen. Hieraus ergeben sich die zwei Teilabschnitte der Untersuchung. Zunächst wird die zeitgenössische juristische Auseinandersetzung über das Rechtsinstitut anhand des Schrifttums vom 16. Jahrhundert bis zum Ende des Alten Reichs nachvollzogen. Dabei werden in erster Linie das Schrifttum zum damaligen Staatsrecht (ius publicum) und Privatfürstenrecht (ius privatum principum) sowie juristische Dissertationen der damaligen Zeit herangezogen (vgl. detailliert zu den Quellen S. 29–31). Im zweiten Teil wird exemplarisch die Anwendung des untersuchten Rechtsinstituts in der hessischen Praxis analysiert, und zwar anhand der vier weiblichen Regentschaften in der Landgrafschaft Hessen zwischen 1500 und 1700. Hierzu wird weitgehend auf die archivalische Überlieferung sowie auf zeitgenössische Drucke zurückgegriffen.

Im Rahmen der sehr umfassenden und gewissenhaften Darstellung des Forschungsstandes (S. 18–28) beschreibt Puppel, dass in der bisherigen Literatur die Frage der Herrschaftsausübung durch regierende Fürstinnen erst ansatzweise erforscht wurde und zudem in der landesgeschichtlichen Forschung angemessene neuere Biographien zu den Landgrafen und Landgräfinnen von Hessen noch weitgehend fehlen.

Das juristische Regelwerk

Um es vorwegzunehmen: der im engeren Sinne rechtshistorische Abschnitt der Arbeit (S. 34–143) ist vorzüglich gelungen und stellt über weite Strecken eine Pionierarbeit in einem bisher wenig erforschten Teil der Frauenrechtsgeschichte dar. Dies ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass die Autorin ihre Ergebnisse immer wieder in vorbildlicher Weise direkt aus den oft sprachlich und bibliographisch nicht leicht zugänglichen Quellen erarbeitet.

Vor diesem souverän und sehr gewissenhaft erarbeiteten Hintergrund entwickelt sie ein juristisches System der vormundschaftlichen Regentschaft. Zunächst definiert sie hierzu den behandelten Rechtsbegriff, referiert die staatsrechtliche Entwicklung und klärt die Frage auf, welches Recht bzw. welche Rechtsquellen anzuwenden seien. Sodann untersucht sie, ob Frauen vormundschaftliche Regentschaften übernehmen konnten. Dies schien problematisch, da die Vormundschaft grundsätzlich als „männliches Amt“ definiert war. Daher bestand eine gewisse Rechtsunsicherheit (vgl. S. 63). Freilich waren Ausnahmen für enge weibliche Verwandte (Mutter, Großmutter) trotz einiger Angriffe anerkannt. Noch stärker umstritten war die Frage, ob mit der Vormundschaft einer Frau über einen (z. B. minderjährigen) Fürsten auch Regentschaft, also Regierungsgewalt verbunden war. Eine Reihe von Rechtsgelehrten lehnte dies ab, andere wie Stryk sprachen der Vormünderin die Regentschaft zu und verwiesen hierzu auf zahlreiche Beispiele gut gelungener mütterlicher Vormundschaftsregierungen. Puppel gelangt zu dem Schluss, dass die adelige Witwe dieselben Ansprüche auf die Regentschaft gehabt habe wie alle anderen Mütter auf die Vertretung ihrer leiblichen Kinder (vgl. S. 88).

Weiterhin beschreibt sie eine der Lehenspyramide ähnliche „Pyramide der Vormünder“ mit dem Kaiser als oberstem Vormund, welcher die hausgesetzlichen Regelungen der Adelshäuser überwachte. Die an einer Regentschaft beteiligten Personen bildeten einen hierarchischen Verband, bestehend aus Ehren-, Ober-, Mit- und Untervormündern. Soweit Vormünder einem Regenten oder einer Regentin beigeordnet wurden, handelte es sich bei diesen zusätzlichen Vormündern um Männer. Weiterhin konnten Vormundschaftsräte und landständische Ausschüsse gebildet werden, welche in Regierungsangelegenheiten mitbestimmen konnten. In Hessen bestimmten die Landgrafen testamentarisch zusätzlich zum Vormundschaftsrat die Bestellung eines Landrats oder landständischen Ausschusses.

Schließlich wird die Beendigung der vormundschaftlichen Regentschaft untersucht (S. 117–138). Wichtigster Beendigungsgrund war die eingetretene Volljährigkeit des Mündels. Daneben kamen weitere Gründe in Betracht: Wiederheirat der Vormünderin, treuwidrige oder grob fahrlässige Verwaltung der Vormundschaft. Anlässlich des Endes der Vormundschaft hatte das Mündel ein Recht auf Rechnungslegung und ggf. auf Schadensersatz. Abschließend bespricht Puppel die Zeremonien und Rechtsakte, mit denen die Vormundschaft beendet und die selbständige Regierung angetreten wurde.

Die Landgräfinnen von Hessen als Regentinnen

Nach kurzen Ausführungen zur Landesgeschichte und zur besonderen Häufung vormundschaftlicher Regentschaften in Hessen sowie zu Regentschaften in der Zeit vor 1500 behandelt Puppel die zentralen vier Fälle, in denen hessische Landgräfinnen im 16. und 17. Jahrhundert als Vormünderinnen die Regierung innehatten: Anna von Hessen (reg. 1514–1518), Amelie Elisabeth von Hessen-Kassel (reg. 1637–1650), Hedwig Sophie von Hessen-Kassel (reg. 1663–1677) und Elisabeth Dorothea von Hessen-Darmstadt (reg. 1678–1688).

Diese personenbezogenen Kapitel haben alles in allem nicht in erster Linie den Charakter von Gesamtbiographien der betreffenden Fürstinnen, sondern analysieren vor allem den jeweils mit der Regentschaft verbundenen Lebensabschnitt, und zwar unter dem Gesichtspunkt einer möglichst vollständigen und genauen Behandlung des jeweiligen Vormundschafts- und Regentschaftsfalles nebst dessen rechtlichen und politischen Verknüpfungen. Erneut fällt hier die vorzügliche Quellen- und Literaturverwertung ins Auge. Es handelt sich vermutlich zumindest teilweise um eine Erstbearbeitung von Archivalien, denn in den Abschnitten zur hessischen Landesgeschichte wird immer wieder auf Archivmaterial Bezug genommen, und die ältere Literatur behandelt die Regentinnen oft nur unzureichend (vgl. hierzu im einzelnen S. 27 f.).

Diese vier nicht nur landesgeschichtlich, sondern auch staatsrechtlich, vormundschaftsrechtlich und damit frauenrechtlich bedeutsamen Fälle können in der vorliegenden Rezension aus Gründen der Platzbeschränkung nicht in der Individualität und Ausführlichkeit dargestellt werden, die sie angesichts der gut gelungenen, gewissenhaften Bearbeitung und der Verknüpfung mit den in Teil 1 erarbeiteten Ergebnissen zum rechtshistorischen Rahmen ohne Zweifel verdienen. Die Autorin sieht vier Aspekte als zentral an (vgl. S. 303), diese sind nur zum Teil juristischer Natur, zum anderen Teil aber Ausdruck politischer Machtverhältnisse: die Position der Landstände, die Rolle der Vormundschaftsräte, die Bedeutung der Herkunftsfamilie und das fürstliche Testament. Mit der testamentarischen Einsetzung Annas von Hessen als Vormünderin (1508) war erstmals eine Landgräfin als Regentin eingesetzt worden und hatte u. a. wegen des Widerstandes der Landstände ihr Amt erst einige Jahre nach dem Tod ihres Mannes antreten können. Damit war ein neues Besetzungsprinzip für die vormundschaftliche Regentschaft in Hessen eingeführt und durchgesetzt worden, an das man sich im wesentlichen in den nächsten Jahrhunderten hielt, denn die Stände folgten anders als noch 1509/10 bei Einsetzung späterer Landgräfinnen als Regentinnen der testamentarischen Bestimmung.

Begleitendes Material und Gesamteindruck

Durch das begleitende Personenregister (S. 395–407, die meisten Personen mit Lebensdaten), die Stammbäume der fürstlichen Familien (S. 316 f.) und die „Kurzbiographien der zitierten Gelehrten“ (S. 326–336) werden die beteiligten Personen teilweise sehr ansprechend erschlossen. Gelegentliche Fehlgewichtungen in den Kurzbiographien müssen bemängelt werden (so z. B. traditionelles Bodin-Bild ohne Erwähnung des europaweit bedeutenden Eintretens von Bodin für die Hexenverfolgung, ebenso keine Erwähnung der bedeutenden antifeministischen Positionen des Tiraquellus in dessen Kurzbiographie, zu kurze und auf das Unwesentliche beschränkte Ausführungen zu Leben und Werk des Thomasius und Zasius). Sie sollen aber insgesamt das erfreuliche Bild dieser Anhänge nicht zu sehr trüben. Leider fehlt ein alphabetisches Sachregister, welches zur Erschließung der Arbeit sicherlich noch gute Dienste geleistet hätte. Ganz hervorragend ist dagegen der Auswertungsstand von Quellen, Literatur und einigen Archivalien, wie er im Verzeichnis der verwendeten Werke (S. 341–394) dokumentiert ist: sowohl in der Quantität als auch in der aus den Fußnoten ersichtlichen Qualität der Auswertung erinnert die Arbeit eher an eine Habilitation als an eine Dissertation. Im übrigen ist für einen beachtlichen Teil der zeitgenössischen, oft in lateinischer Sprache gehaltenen juristischen Literatur eine wichtige wissenschaftliche Erstbearbeitung unter dem Aspekt der vormundschaftlichen Regentschaft aus der Sicht der neueren rechtshistorischen Geschlechterforschung vorgenommen worden.

Ein informativer Anhang mit Abdruck einiger Rechtsquellen ist beigefügt (S. 317–326). Selbstverständlich ist es angemessen und auch notwendig, diese wie geschehen in der Originalsprache zu halten. Um den Leserinnen und Lesern unabhängig von ihrer akademischen Qualifikation die Arbeit mit den Dokumenten zu erleichtern, hätten gleichwohl auf S. 317–321 in den Fußnoten deutsche Übersetzungen beigefügt werden können.

Doch sind dies lediglich Detailerwägungen, um darauf hinzuweisen, wo eine an sich schon sehr gute Arbeit noch etwas verbessert werden könnte. Insgesamt handelt es sich nämlich um eine vorzügliche Untersuchung, der weite Verbreitung zu wünschen ist. Vom Standpunkt der Frauenrechtsgeschichte aus besonders wichtig ist der Versuch eines neuen Zugangs zum Vormundschaftsrecht, einem Gebiet, das im Anschluss an die Vormundschaftslehren der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts lange als ein Hort überlieferten patriarchalen Gedankenguts galt. Gerade im Umfeld vormundschaftlicher Begriffe wurde damals das mundium als angeblich uraltes männliches Herrschaftsrecht und als Grundprinzip des altdeutschen Familienrechts schlechthin konstruiert. Puppel zeigt dagegen, dass das Vormundschaftsrecht in der Praxis der Frühen Neuzeit vormundschaftliche Regentschaften von Frauen zuließ und jedenfalls damals der Idealvorstellung eines männlichen mundium schon nicht mehr entsprach. Dies geht sogar so weit, dass im Vormundschaftsrecht weit eher eine selbständige Stellung von Frauen ermöglicht wurde als im Eherecht. Die unter staatsrechtlichen und politischen Aspekten zentrale Botschaft der Arbeit ist im übrigen, dass bereits in der Frühen Neuzeit politische Frauenherrschaft möglich und nicht einmal ganz selten war, nämlich in Gestalt der Regentschaften, welche, wie Puppel zu Recht bemängelt, bisher in Deutschland nicht hinreichend statistisch erfasst und hinsichtlich ihrer Wirkungen nicht hinreichend untersucht waren. Das vorliegende Buch ist ein erster wichtiger Schritt in diese Richtung.

URN urn:nbn:de:0114-qn072076

Dr. Arne Duncker

Universität Hannover, Juristischer Fachbereich, Lehrgebiet Zivilrecht und Rechtsgeschichte

E-Mail: Bikila@t-online.de

Die Nutzungs- und Urheberrechte an diesem Text liegen bei der Autorin bzw. dem Autor bzw. den Autor/-innen. Dieser Text steht nicht unter einer Creative-Commons-Lizenz und kann ohne Einwilligung der Rechteinhaber/-innen nicht weitergegeben oder verändert werden.