Sara Mills:
Gender and Colonial Space.
Manchester, New York: Manchester University Press 2005.
208 Seiten, ISBN 0–7190–5335–8, £ 50,00
Abstract: Sara Mills stellt in klarer Sprache ein Konzept vor, sexistische, rassistische und klassenbezogene Herrschaftspraxen in den Kolonien des British Empire hinsichtlich ihrer räumlichen Dimension zu analysieren. Ihr Ansatz soll möglichst viele Formen von Herrschaft integrieren, offen bleibt aber die Frage, ob dabei das von ihr verwendete Habituskonzept Bourdieus die passende Erklärung hierzu liefert.
Man mag es für einen Allgemeinplatz halten, aber jeder Ort hat eine Geschichte, die ihm seine Gestalt oder Ungestalt gibt. Der koloniale Eingriff in vorgefundene soziale Beziehungen war immer auch ein Eingriff in die bisherige Verwendung des Raums, zu denken wäre hier an die Errichtung von Außenposten und Städten oder die Landnahme durch Siedler. Im wörtlichen und übertragenen Sinn sollte kein Stein auf dem anderen bleiben, ‚Land und Leute‘ waren den westlichen Vorstellungen von Kultur und Zivilisation zu unterwerfen. Im vorliegenden Buch will Sara Mills zeigen, wie sich diese sozioräumlichen Herrschaftsbeziehungen hinsichtlich der Aspekte Nation, Klasse und Geschlecht konzeptualisieren lassen, wobei ihre Aufmerksamkeit überwiegend den Geschlechterverhältnissen zufällt. Untersuchungsort und -zeit sind die Kolonien des British Empire zu dessen Hochphase. Einige der aufgeworfenen Fragen lauten: Wie war es möglich, die bürgerliche Trennung zwischen öffentlich und privat auch in den Kolonien zu reproduzieren? Inwieweit waren britische Frauen Repräsentantinnen der Kolonialherrschaft? Wie beeinflussten andererseits kulturelle Praxen in den Kolonien die Lebensgewohnheiten und den Sprachgebrauch in England? Nicht zuletzt will Mills auch demonstrieren, wie wir, ohne uns von westlichen Stereotypen auf die falsche Fährte bringen zu lassen, Berichte und Reisebeschreibungen analysieren können, um etwas über indigene Verweigerungs- und Widerstandsstrategien herauszubekommen.
Mills ist Literaturwissenschaftlerin, orientiert sich methodisch an der Diskursanalyse Foucaults und gehört dem Theoriekontext der Post-Colonial-Studies an, die, von einzelnen Arbeiten abgesehen, im deutschsprachigen Raum bisher nur wenig Beachtung gefunden haben. Auch die deutschsprachige Frauenreiseforschung, die weitaus produktiver die Arbeiten von Mary Louise Pratt (vor allem Pratt, Mary Louise: Emperial Eyes. Travel Writing and Transculturation, London 1992) oder eben Sara Mills (z. B. Mills, Sara: Discourses of Difference. Womens’s Travel Writing and Colonialism, London 1991) einbeziehen könnte, macht hierbei keine gute Figur. Ein Grund ist möglicherweise, dass viele Texte sehr deutlich Standpunkte in theoriepolitischen Debatten vertreten, ein zweiter wird sein, dass sie sich dabei oft verhakeln, wie auch hier geschehen. Mills bemüht die Disziplinentrias Historiographie, Geographie und Literaturwissenschaft. Ohne ihr jedoch Unrecht zu tun, darf man sagen, dass die Analyse von Reiseberichten und Kolonialratgebern den überwiegenden Teil ihrer eigenen Arbeit ausmacht, alles andere wird aus bereits bestehenden Studien herangetragen. Sie nennt ihren Ansatz „materialistisch“, wobei das vorerst nur bedeutet, psychoanalytische Zugänge aufgrund ihrer mangelnden historischen Spezifizierung von Herrschaftsformen zurückzuweisen. Obwohl diese Kritik vorderhand zu überzeugen vermag, wirft einen die Aufforderung, literarische Texte im historischen Kontext zu verorten und ihre dortigen Funktionen zu bestimmen, nicht unbedingt vom Hocker. Wenn mir folgende Subsumtion gestattet sei: Auch die ‚nichtdiskursanalystische‘ Literaturwissenschaft sieht es (meistens) als ihr Anliegen, Prosatexte auf ihre ästhetisch-kritischen beziehungsweise affirmativen Wirkungen hin zu untersuchen. Mills versäumt aufzuzeigen, wodurch sich ihr „Materialismus“ als tragfähiges Konzept auszeichnet, was womöglich durch eine ausgedehntere Quellenanalyse und -verknüpfung zu erreichen gewesen wäre.
Ihre Privatsphäre mussten die Kolonisatoren in Indien, um hier eine Kolonie herauszugreifen, unter neuartigen Bedingungen herstellen. Sowohl der Wohnraum als auch die dort empfangenen Personen und das Personal erzwangen ein formelleres Verhalten als in England selbst, da es keine ausreichend separierbaren Räume für die Intimsphäre gab. Die Architektur des Bungalow wurde als den Blicken anderer leicht zugänglich empfunden, und das Personal bestand meist aus Indigenen, sodass man, um Distanz und das Gefühl der kulturellen Überlegenheit zu bewahren, selbst kleinste Mahlzeiten in der vollen Kleidermontur einnahm und einige Frauen noch Korsetts trugen, als sie in England bereits aus der Mode gekommen waren. Die Veranda, wie der Bungalow ein Produkt des Kolonialismus, fungierte als öffentlicher Ort, an dem es den Kolonisatoren möglich war, Indigene ohne Distanzverlust zu treffen. – Es sei darauf hingewiesen, dass die Veranda als verlängerter, offener Wohnraum heute die entgegengesetzte Bedeutung erhalten hat, sie ist die Bühne für romantische Augenblicke und damit ein Symbol privaten Glücks. – Auf der Seite der Kolonialisierten führte der Kontakt ebenfalls zu einer Zuspitzung der alltäglichen Verhaltensnormen. So bauten indigene Herrscher zusätzliche Räume für ihre Frauen, um sie nicht den Blicken von englischen Beamten und anderen Repräsentanten der Kolonialmacht preiszugeben.
Wie sich diese Zuspitzung intimer Praxen respektive der Absonderung von Frauen auf den Handlungsspielraum auswirkte, den englische und indigene Frauen hatten, lässt Mills offen, dafür streut sie die Analysefelder zu breit und springt leider in den betreffenden Momenten zu anderen Aspekten ihrer Untersuchung. Das Habituskonzept Bourdieus soll die Erklärung liefern, warum britische Frauen im häuslichen Bereich einen enorm großen Wert auf Etikette legten und gewissermaßen ins Absurde steigerten: Die Zucht von europäischen Pflanzen im häuslichen Garten und die Zubereitung von englischen Speisen aus englischen Lebensmitteln bekamen enormen Stellenwert und sorgten, so ließe sich Mills Konzept ausbuchstabieren, für den entsprechenden Distinktionsgewinn gegenüber Indigenen und anderen Klassen innerhalb der Kolonialmacht. Ob dazu aber ein stereotyp gewordener Habitus veranlasste, wird gerade durch Mills eigene Argumentation in Zweifel gezogen. Sie schreibt: „However, certain of these structures [of behavior] seem as if they are more stable because they have endured over a relatively long period of time […].“ (S. 53) Es drängt sich aber die Frage auf, warum sie dauerhaft werden konnten, wenn sich, wie Mills auch ausführt, britische Frauen weitaus weniger mit der Idee des Empire identifizierten als (ihre) britische(n) Männer und sich in einigen Fällen sogar solidarisch mit indigenen Frauen zeigten. Habituell eingeprägte Verhaltensweisen sind hartnäckig und überdauern eine Zeit lang andersartige Situationen und Umstände, sie bleiben aber längerfristig auf das Feld angewiesen, für das sie als Verhaltensmuster Geltung beanspruchen können. Andernfalls liefert das Habituskonzept keine (zumindest einigermaßen) zwingende Erklärung, und die intuitiv einleuchtende Gegenposition zur Psychoanalyse bleibt die eigene Nagelprobe schuldig.
Das interessanteste und wichtigste Ziel des Buches ist vielleicht, Reiseberichte und andere Texte westlicher Autorinnen an der rassistischen Brille vorbei zu analysieren. Mills stellt dabei fest, dass Indigene beziehungsweise Subalterne Wissen über ihre Praxen nur in beschränktem Maße oder absichtlich verfälscht an Weiße weitergaben, wir also auch ohne Brille nichts sehen. Der indigene Widerstand ist wichtig, und wir sollten ihm verstärkt nachgehen, weshalb zu überdenken wäre, metaphorisch gesprochen, ob unser wissenschaftliches Sensorium in seiner jetzigen Form und unsere Quellenauswahl dazu geeignet sind. Schließlich wollen wir genauer das Wie des Widerstands herausbekommen und nicht nur die Feststellung treffen, dass es Widerstand gab. Zum anderen: Die nichtwestliche Herkunft einiger unserer Wörter, wie zum Beispiel Schal oder Bungalow, zeugt auf der einen Seite für eine Diffusion beider Kulturen, das heißt der Prozess der Kolonialisierung verlief nicht einseitig, es sollte aber aufschrecken, dass diese Diffusion mit der Zeit unkenntlich wurde, wir wissen noch viel zu wenig von der Herkunft unserer eigenen Kultur.
Eine Lektüre dieses Buches lohnt sich, da Mills in klarer Sprache eine große Anzahl bisheriger Studien aus den Post-Colonial Studies zusammenfügt und dabei einen Einblick in jetzige Forschungsfragen gibt. Dass sie widersprüchliche Praktiken nicht zugunsten einer simplen Theorie einebnet, ist wissenschaftlich und politisch hervorhebenswert. Unklar bleibt jedoch neben der Integration des Habituskonzepts, ob die Idee des Raums ausgefüllt wird, oder hier nicht Begriffe wie Machtausübung, Hierarchie und Feld, die nur in einem vermittelten Sinne räumlich sind, theoriepolitisch aufgepumpt werden, denn dass soziale Verhältnisse nicht im luftleeren Raum stattfinden, ist mittlerweile eine Binsenwahrheit.
URN urn:nbn:de:0114-qn073110
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