Von der Pionierarbeit zum Nachschlagewerk

Rezension von Sylvia Mieszkowski

Hadumod Bußmann, Renate Hof (Hg.):

Genus.

Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch.

Stuttgart: Alfred Kröner 2005.

616 Seiten, ISBN 3–520–82201–6, € 39,80

Abstract: 1995 erschien der von Hadumod Bußmann und Renate Hof herausgegebene Sammelband Genus. Zur Geschlechterdifferenz in den Kulturwissenschaften. Zum 10jährigen Jubiläum haben sich die beiden Herausgeberinnen noch einmal mit dem Kröner Verlag zusammengetan, haben teils dieselben, teils neue Autorinnen um sich geschart und Genus einen neuen Auftritt verschafft. Der aktuelle Untertitel benennt die Erweiterung, die statt einer bloßen Aktualisierung des ersten Bandes vorgenommen wurde: Geschlechterforschung/Gender Studies in den Kultur- und Sozialwissenschaften. Ein Handbuch.

Erweiterung statt Revision: der Umbau von Genus I auf Genus II

Der erste Genus-Band war bereits eine wertvolle Publikation. Mit der Neuauflage ist den Herausgeberinnen und Autorinnen der qualitative Sprung zum Handbuch gelungen. Vielleicht um dem Charakter des Genres Handbuch auch äußerlich gerecht zu werden, sind in die Beiträge jetzt ihren Disziplinen nach alphabetisch geordnet. Der Reigen der Artikel wurde von ehemals zehn auf jetzt 15 (plus Einleitung) ausgeweitet. Elisabeth Bronfen und Elisabeth Kuppler, die zum ersten Band beisteuerten, sind nicht mehr dabei. Sigrid Nieberle hat nach dem Ausscheiden ihrer Ko-Autorin Sabine Fröhlich ein neues musikwissenschaftliches Duo mit Eva Rieger gebildet. Teile des Textes der verstorbenen Leonore Siegele-Wenschkewitz wurden in den neuen theologischen Beitrag von Regina Ammicht-Quinn eingebaut. Den Artikel aus der Geschichtswissenschaft übernimmt in der Neuausgabe Hanna Schissler. Vollkommen neu hinzugekommen sind die Beiträge zur Ethnologie (Susanne Schröter), Film- und Medienwissenschaft (Andrea Seier und Eva Warth), Pädagogik (Christiane Hof), Politikwissenschaft (Birgit Sauer), Rechtswissenschaft (Ute Sacksofsky), Soziologie (Theresa Wobbe) und Theaterwissenschaft (Kati Röttger). Die restlichen, bereits im ersten Genus-Band bewährten Beiträge von Hadumod Bußmann (Sprachwissenschaft), Cornelia Klinger (Philosophie), Renate von Heydebrand und Simone Winko (Literaturwissenschaft I), Ina Schabert (Literaturwissenschaft II) sowie Sigrid Schade und Silke Wenk (Kunstwissenschaft) wurden aktualisiert und/oder umgeschrieben.

Löblich ist, dass das Handbuch über ein ausführliches Personen- und Sachregister verfügt. Allerdings lässt die Vollständigkeit, wie die Stichprobe im Fall des Modeworts Gender mainstreaming ergeben hat, zu wünschen übrig. Verweise auf S. 414 und vor allem auf S. 308, wo Christiane Hof die vollständigste Definition im ganzen Band liefert, fehlen. Dass jedem Beitrag eine interne Gliederung vorangestellt wurde, erleichtert die Orientierung in dem voluminösen Werk.

Bestandsaufnahme in Sachen Genus/Gender

Mit der Einleitung ist Renate Hof ein Wurf gelungen. Egal an welchem Punkt die Leserin selbst in die Gender Studies ein- und eventuell wieder ausgestiegen ist oder ob sie sich mit diesem Band überhaupt erst einen Überblick verschaffen will: diese Einleitung kontextualisiert vorhandenes Wissen, legt einmal Gewusstes, aber Vergessenes wieder frei, liefert Zusammenhänge und bringt auf den neuesten Stand. Hofs Durchgang durch die Geschichte der Gender Studies nimmt ihren Ausgang bei der momentanen ‚neuen Unübersichtlichkeit‘, die eigentlich – das wird spätestens bei der Lektüre des gesamten Bandes klar – ein Symptom des Erfolgs ist, eine Folge der Ausdifferenzierung, der Komplexitätssteigerung, der Anschlussfähigkeit der Genusforschung, des Imports von Denkfiguren aus der poststrukturalistischen Theorie und des Exports von Erkenntnissen und Fragestellungen in unterschiedlichste Diskussionszusammenhänge.

Rückgrat der Einleitung ist die Genese des Konzepts Gender, das mit seinen wichtigsten Verschiebungen, Problematisierungen, Unterscheidungen und den sich darum rankenden Kontroversen nachgezeichnet wird. Anhand dieser Entwicklung skizziert Hof jene großen Phasen der Gender Studies seit den 1970er Jahren, die einige der nachfolgenden Beiträge dann fachspezifisch ausformulieren: Frauenforschung, Aufgabe der Kategorie ‚Frau‘, Gender als historisierbare Differenzkategorie, die Einführung des Sex-Gender-Systems und die Kritik daran, die Konstruiertheit von gender und sex samt der daraus erwachsenden Widerstandsmöglichkeiten ‚postsouveräner‘ Subjekte, das Potential der Gender Studies als Kritik am Modell der Zweigeschlechtlichkeit und deren Implikationen, die Entwicklung hin zu den Queer Studies. Das Resümee mündet in die Frage, ob sich die Geschlechterdifferenz nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, erledigt habe. Hat sie nicht, so Hof. Als wichtigste Aufgabe für die Zukunft neben der interdisziplinären Vernetzung innerhalb der Kulturwissenschaften nennt sie die anstehende Verständigung mit den Naturwissenschaften. Und für diesen Austausch, das macht das vorgelegte Kompendium in eindrucksvoller Weise deutlich, sind die Kulturwissenschaftlerinnen gut aufgestellt.

Dualismen-Bildung und Geschlechterdifferenz

Cornelia Klingers umfassend überarbeiteter Beitrag ist eine besonders gelungene Arbeit, die „feministische Philosophie nicht als System (eines weiblichen Denkens), sondern als Kritik (des männlich dominierten Geschlechtersystems) versteht“ (S. 359). Im Gegensatz zu einigen der anderen Beiträge ist ihr Artikel nicht entlang der Geschichte der Genusforschung innerhalb einer Disziplin organisiert. Den roten Faden liefert vielmehr die Untersuchung einer Denkfigur, die für die Gender Studies im allgemeinen prägend ist. Ausgehend von einer kurzen Reflexion des Verhältnisses von Wissen und Macht, die ebenfalls konstitutiv für die gesamte Genusforschung ist, werden drei Grundregeln der Dualismen-Bildung aufgezeigt, die das abendländische Denken, das „phallozentrische Repräsentationssystem“ (S. 354) und damit auch das Modell der Geschlechterdifferenz geprägt haben.

Dualismen, so zeigt Klinger am Beispiel der Pythagoreischen Kategorientafel, sind 1) Paare, die 2) drauf angelegt sind, „die Zusammengehörigkeit der beiden Terme [aus denen sie gebildet sind] in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis zu negieren“ (S. 341) und stattdessen ein Herrschaftsverhältnis zu etablieren. Durch Separierung und Segregation entsteht so aus einem Paar ein Gegensatz, wobei ein Teil dieses Gegensatzes privilegiert wird. Der Witz daran ist, dass diese Hierarchisierung vorgenommen wird, indem 3) die Termini der einen Seite („Polis – Seele – Vernunft – Mensch – Mann – Herr“ S. 344) für sich allein in Anspruch nehmen, den transzendenten Bezugspunkt, das Ganze, die „den Bedingungen der Kontingenz nicht unterliegende[], ewige[], ‚göttliche[]‘ Ordnung“ (S. 344) zu repräsentieren. Dadurch wird die Reihe der zweiten Termini, die jene erste eigentlich komplementär ergänzen („Haus – Leib – Sinnlichkeit – Tier – Frau – Knecht“ S. 344), plötzlich sekundär, nachgeordnet, unterlegen. Ihre Verbindung zum Ganzen ist gekappt, und ihr Verhältnis dazu kann nur noch mittelbar gedacht werden. Zum ‚Ausgleich‘ wird dafür „[d]ie Daseinsbewältigung […] als Dienst (Arbeit), an jene delegiert, die mit dem zweiten Term, mit der unteren, schlechteren, dem Körperlichen und der Vergänglichkeit näheren Position identifiziert werden.“ (S. 343) Durch die Formel des kontradiktorischen Widerspruchs (A vs. nicht-A bei ausgeschlossenem Dritten) werden schließlich die „Eigenart und relative Eigenständigkeit [der zweiten Termini] vollständig geleugnet“ (S. 350). Effekt des dadurch bedingten Zurücktretens von Nicht-A (z. B. nicht-Mann) hinter A (z. B. Mann) ist, dass A „den Charakter der Partikularität verlieren, zum Substantiellen, Wesentlichen, Universalen“ (z. B. zum Menschen) werden kann, „zu dem Nicht-A nichts beizutragen vermag, da es nichts anderes ist als A in Abwesenheit.“ (S. 351)

Wer sich, beispielsweise durch die Lektüre der anderen Beiträge, vor Augen führt, welche Folgen diese Konstruktion hatte und hat, teilt Klingers Ansicht, dass es eine gute Nachricht sei, dass die Philosophie nun, da sie aufgehört habe, Leitdiskurs zu sein, ihren traditionell herrschaftslegitimierenden Charakter verliere. Denn jetzt könne sie potentiell auf die Seite der Marginalisierten wechseln. Wir hoffen, sie tut’s.

Kanonische Texte neu/feministisch/kritisch lesen

Was Klingers Aufsatz mit anderen Beiträgen in Genus verbindet, ist der Aufruf, feministische Theorie solle sich als Praxis kritischer Relektüre des Kanons verstehen. Neben der Integration „des bislang ausgegrenzten Wissens und der vergessenen Traditionen“ (S. 574), so vermerkt Ammicht-Quinn, geht es auch um die Neuperspektivierung traditioneller Themen. Theologische Gender-Forschung sei heute eine Form der Forschung, „die […] sowohl das wissenschaftliche Instrumentarium als auch das explizite und implizite Interesse von Wissenschaft einer grundlegenden Kritik und einer Reformulierung unterzieht.“ (S. 565) Das gilt auch für die Rechtswissenschaft, die ebenso wenig wie die Theologie ihren traditionellen Kanon vom Tisch wischen kann. Zwar müsse, so Ute Sacksofky, „[d]ie Vorstellung, das Recht sei ‚objektiv‘ und ‚neutral‘ […] aufgegeben werden.“ (S. 412) Doch an der „grundsätzlichen Prinzipienhaftigkeit des Rechts“ (ebd.) müsse ebenso festgehalten werden wie an den vorliegenden Gesetzestexten. Allerdings soll, auf der Grundlage des geltenden Rechts, mit neuen Rechtsfiguren wie der ‚mittelbaren Beteiligung‘ und neuen Ansätzen gearbeitet werden, die sich – wie etwa das ‚Dominierungsverbot‘ oder das ‚Hierarchisierungsverbot‘ – von der Interpretation der besonderen Gleichheitssätze als Differenzgebot verabschieden. Der Kanon ist also nicht nur weiterhin wichtig, sondern in der Auseinandersetzung mit ihm und in seiner Bearbeitung auf eine Veränderung hin liegt eine der Hauptaufgaben feministischer Arbeit.

Wie und mit welchen Konsequenzen des Ausschlusses (Stichwort ‚Kanonhindernisse‘ für Frauen) es allerdings überhaupt zur Kanon-Bildung kommt, beleuchtet der Beitrag von von Heydebrand/Winko in zwölf Thesen, um danach feministische Konsequenzen vorzustellen und zu bewerten. Ina Schabert liefert, wie zur konkreten Illustration der abstrakten Thesen, einen ‚parodistischen Versuch einer englischen Frauen-Literatur-Geschichte‘. Auf knapp zwei Seiten dreht sie den Spieß kurzerhand um und stellt Leser/-innen vor Augen, wie sich der Kanon der englischen Literatur lesen lassen könnte, wenn es Kanonhindernisse für Männer gegeben hätte. Die feministischen Konsequenzen der Frage nach „Gender als Kategorie einer neuen Literaturgeschichtsschreibung“ sind in einem Nachtrag skizziert und liegen als umfangreiche Publikationen anderenorts vor: nämlich in Form von Schaberts zweibändiger Englischer Literaturgeschichte aus Sicht der Geschlechterforschung (1997 und 2006).

Auch für die feministische Musikwissenschaft, die von Nieberle/Rieger als Nachzüglerin in Sachen Genusforschung eingestuft wird, ist der Kanon eine Herausforderung. Hier geht es jedoch weniger um Neuinterpretation als um Erweiterung. Nachdem die These einer weiblichen Ästhetik in der Musik, genau wie in anderen Künsten, als essentialisierend aufgegeben werden musste, steht, im Zuge der Verabschiedung des allein auf spektakuläre Innovation gründenden Werkbegriffs, die Neudefinition von Kultur als „Raum sozialer Erfahrung und sozialen Handelns“ (S. 270) im Mittelpunkt. Nur so kann weibliche „Tätigkeit in der Musikpädagogik, in der funktionalen Musik, der Kirchen- und Hausmusik“ (ebd.) in den Blick geraten. Deren Erkundung jedoch „ist genauso ernst zu nehmen wie die herkömmliche Forschung über Komponisten sogenannter ‚Spitzenwerke‘ der Konzertkultur.“ (ebd.) Weitere Abschnitte des Artikels sind den Geschlechterkonstruktionen in Opern, Operetten, Pop-Musik gewidmet. Der sogenannte performative turn im Anschluss an die Butler-Rezeption muss sich für die Musikwissenschaft, so diagnostizieren die Autorinnen unter Bezug auf das Konzept der Performativität, erst noch als produktiv erweisen. Genau das hat der Einfluss der Queer Studies bereits getan. Nachdem die outing-Welle namhafter Komponisten abgeklungen ist, wird nun die zwangsheteronormative Ordnung dekonstruiert, die auf den zwei in sich hierarchisierten binären Oppositionen (Mann vs. Frau und Heterosexualität vs. Homosexualität) aufruht. Darum geht es, wenn, etwa im Kontext der besonders Gender-subversiven Operntradition, ein „rezipierendes Subjekt von Musik […], dessen Hör- und Sehverhalten quer zum mainstream liegt“ (S. 283), eingeklagt wird.

Gender im Blick

Dass sich die Gender Studies in der Film- und Medienwissenschaft auf hohem theoretischen Niveau bewegen und dabei so produktiv sind, dass sich jetzt schon von einer Ahnenreihe von feministischen Theoretikerinnen von Format sprechen lässt, machen Seier/Warth wunderbar klar. Die erkenntnistheoretische Wende wurde in der Film- und Medienwissenschaft relativ früh vollzogen, und seitdem haben die beteiligten Wissenschaftlerinnen den Fuß nicht mehr vom Gas genommen. Sie fragen, wie die „an das Sehen und an Blickstrukturen gebundene filmische Subjektkonstitution als ein Prozess der Vergeschlechtlichung“ zu deuten ist. (S. 84) Sie loten die „Spannungen und Widersprüche zwischen woman als diskursiver Kategorie, als philosophische[m] und ästhetische[m] Konstrukt und women als soziale[n historische[n] Wesen“ aus. (S. 87) Sie untersuchen die ‚Medialität des Geschlechts‘ und zeigen auf, dass „der Begriff Gender als eine Kulturtechnik verstanden“ werden muss, „die außerhalb von Medien gar nicht stattfinden kann“. (S. 96) In Engführung der Vorstellungen von geschlechtlicher und medialer Reproduktion zeigen sie, wie sich beide gegenseitig kommentieren. (vgl. S. 105 ff.) Sie analysieren diskursive Aneignungsprozesse, die Rolle des Filmbilds als Metapher für hegemoniale Repräsentation (vgl. S. 100) und das Verhältnis zwischen medialen und Gender-Performativitäten. (vgl. S. 107)

Auf dieser Flughöhe ist die feministische Kunstwissenschaft noch nicht angekommen. Wie der Beitrag von Schade/Wenk zeigt, hat sie sich lange an alten Künstler-Mythen (Pygmalion, Ikarus), am männlichen Gendering des Künstler-Subjekts und an der impliziten Frauenfeindlichkeit westlicher Kunst-Traditionen (z. B. dem weiblichen Akt) abgearbeitet. In jüngerer Zeit aber wird nach Blickstrukturen und Privilegierung des Blicks Einzelner gefragt, „denen es der jeweilige instiutionelle Rahmen erlaubt, weibliche Körper auszuziehen, zu betrachten, zu untersuchen, auseinanderzunehmen, auszustellen und zu inszenieren“ (S. 151). Es ist schade, dass die beiden Autorinnen die abgedruckten Arbeiten von Alice Mansell, Valie Export, Friederike Pezold und Lisl Ponger nur als Illustrationen nutzen, statt an diesen konkreten Fällen die Fragen und Verfahren feministischer Kunst und Kunstwissenschaft zu entfalten.

Kati Röttger attestiert der Theaterwissenschaft eine zögerliche Entwicklung in der Geschlechterforschung, zeigt aber überzeugend, wieso Fragen nach dem „Dilemma der [theatralen] Repräsentation von Weiblichkeit“ (S. 524), die Untersuchung des „Spannungsfeld[s] zwischen Repräsentation und Performanz“ (S. 527) und die Auseinandersetzung mit dem Konzept der Mimesis, die für die feministische Theoriebildung so zentral sind, auch zum Kerngeschäft dieser Disziplin gehören. Sie liefert eine Begriffsklärung in Sachen Performativität vs. Performanz, kommentiert das cross-dressing als theatrale Praxis und zeigt, wie die illusionistische Theatertradition das folgenreiche Ineinanderfallen von ‚Wahrheit‘ und ‚Natur‘ herbeiführt.

Gender als Kulturkritik

Im Artikel zur Ethnologie ist der fachspezifischen Spielart der Queer Studies ein Abschnitt gewidmet, um der aus der queer anthropology erwachsenden Kritik an westlicher Kategorienbildung nachzugehen. Die kulturelle Determiniertheit von ‚Geschlecht‘ wird, so Schröter, angesichts der globalen „Variationsbreite von Geschlechterrollen und -identitäten, [die] einfache Kategorien von Männlichkeit und Weiblichkeit, Sex, Körper und Gender, Sexualität und sozialer Rolle“ (S. 61) sprengt, besonders deutlich. Die Tendenz zur „Exotisierung nichtwestlicher Geschlechterverhältnisse im Sinne einer Abwesenheit von Binarität und Intoleranz“ (S. 62) stuft die Autorin als bedenklich ein, zumal Phänomene wie die Akzeptanz von Gender Crossing nicht notwendigerweise auf die Absenz von Homophobie schließen lassen. Der Untersuchung der Konstruiertheit und kulturellen Markierung von Geschlechterkategorien wird das Überschreiten des „epistemologischen Zenits“ (S. 64) attestiert. Die Zukunft der Gender Studies in der Ethnologie liege in der Analyse von Globalisierungsprozessen, wobei die wohl heißeste Debatte um die Praxis der Genitalverstümmelung geführt werden wird. Ansonsten markiert Schröter Felder wie Entwicklungszusammenarbeit (Partizipation von Frauen an Entscheidungsprozessen, Frauenbildung, Frauengesundheit, ökonomische Absicherung von Frauen, Gewaltprävention), AIDS-Politik, Umweltschutz und Migration als aktuelle und zukünftige Zuständigkeitsbereiche der feministisch orientierten Ethnologie.

Identity politics und mehr

Die Beiträge zur Pädagogik, Geschichts- und Politikwissenschaft, sind jeweils entlang der Entwicklung der Gender Studies in der jeweiligen Disziplin aufgebaut. Christiane Hof verabschiedet sich von dem Vorhaben, die einzelnen ‚Bindestrichdisziplinen‘ innerhalb der Pädagogik repräsentieren zu wollen, und widmet sich stattdessen einigen Grundfragen: Wer ist der ‚Adressat‘ von Bildungsbemühungen? (Stichwort: männliche Normbiographie), „[h]andelt es sich bei gender um eine Strukturvariable oder um eine Analysekategorie?“ (S. 298), ist die Kategorie ‚Geschlecht‘ als zentral oder als nebensächlich einzustufen? Was sind die Gender-spezifischen Ziele von Bildungsarbeit? Wie müssen Gender-sensible Analysen von Bildungsinhalten und -methoden aussehen? Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Einsicht, dass Genus als Kategorie „selbst als unabgeschlossen, beweglich und dynamisch betrachtet werden“ muss? (S. 310) Was sind die „Modi der Konstruktur von Geschlechtsunterschieden“ (S. 315), wenn Geschlecht immer doing gender in Interaktion bedeutet?

Aus Sicht der Autorin des geschichtswissenschaftlichen Beitrags stellt sich die Rolle der Geschlechtergeschichte als „die ‚Speerspitze‘ nachfolgender identitätsbasierter Geschichten“ (S. 132) dar, die ‚Klasse‘, ‚Rasse‘ und ‚Ethnizität‘ ins Zentrum stellen. Weil Geschlecht als historische Kategorie sichtbar gemacht werden konnte, ist damit nicht nur das ewig und drei Tage bemühte Argument von der Überzeitlichkeit und Naturalisierung von Genus (wenigstens theoretisch) erledigt, sondern auch das Selbstverständnis der Disziplin als ‚geschlechtsneutral‘ nachhaltig erschüttert. Feministische Historikerinnen waren, so Hanna Schissler, angetreten, die Meistererzählungen von innen heraus aufzubrechen und sie von ihrem blinden Fleck zu befreien. Nicht zuletzt deswegen hat sich mittlerweile der „objektivistische Konsens in der Geschichtswissenschaft aufgelöst“ (S. 115). Trotzdem schielen deutsche feministische Historikerinnen offenbar immer noch sehnsüchtig über den Atlantik, wo für die Gender Studies so vieles gang und gäbe ist, was hierzulande innerhalb der Geschichtswissenschaft unmöglich scheint.

In ihrem an soundbites reichen Artikel attestiert Birgit Sauer dem ‚malestream‘ der Politikwissenschaft paradoxale ‚maskuline Geschlechtsblindheit‘ (S. 368). Obwohl Frauen mittlerweile zur politischen Sphäre zugelassen werden und es zum politikwissenschaftlichen Untersuchungsgegenstand gebracht haben, wird Geschlecht als Kategorie „nur sporadisch und unterkomplex thematisiert“ (ebd.), während Männer „ein non-issue politikwissenschaftlicher Forschung“ (ebd.) sind. Als Ursachen dieser einseitigen Sehschwäche des Systems beschreibt Sauer in ihrem Artikel drei methodologische Operationen: “ (1) die Trennung von öffentlich und privat, (2) die fehlende gesellschaftstheoretische Grundierung politischer Institutionen, Prozesse und Normen, sowie (3) die Entsubjektivierung von Politik.“ (S. 370) Weil dem Fach das „epistemologische Grundinstrumentarium zur Kritik und Überwindung von Geschlechterhierarchien“ (S. 373) fehle, komme es zu einer männlichen Phalanxbildung, die Sauer als ‚maskuline Doppelhelix‘ (ebd.) beschreibt: politische Praxis und Wissenschaft bestärken sich gegenseitig in der Produktion einer frauenlosen Politik, die die Hegemonie über ‚Bedeutung und Benennungsmacht‘ für Männer reserviert. Das Verfahren ‚add women and stir‘ (S. 374) hat sich als nicht ausreichend zur Reformierung erwiesen, weil Geschlecht als Struktur „politische Institutionen, Normen, politisches Handelnd und politische Einstellungen grundlegend präg[t]“ (S. 378) und politische Institutionen ihrerseits ‚Menschen vergeschlechtlichen‘. Das neue feministische Ziel lautet nun, einen gegen Dominanz und Herrschaft gerichteten Politikbegriff zu etablieren und die aktuelle Transformation des Politischen durch eine kritische Auseinandersetzung mit ihren Kernbegriffen ‚Globalisierung’, ‚Denationalisierung‘, ‚Internationalisierung‘, ‚governance‘ und ‚Netzwerkstaat‘ aktiv mitzugestalten.

Eine neue Gangart: mehr als Echolaute

Der „eigenen Mittäterschaft am gegenwärtig vorherrschenden hierarchischen Geschlechterverhältnis und seiner Symbolisierung durch Sprache“ (Genus 1995, S. 150) gelte es, so Hadumod Bußmann im ersten Genus-Band, auf die Spur zu kommen. Um diesem Aufruf eine Richtung zu verleihen, schloss sie ihren Artikel damals mit einer things-to-do Liste der feministischen Linguistik: „Sensibilisierung für sprachliche Ungleichheiten, Bewußtmachen androzentrischer Stereotypen, Überwindung vorgegebener Sprechroutinen, kreative Variationen von Tradiertem“ (ebd.), dies seien die ‚Echolaute der neuen Gangart der Sprache‘. Für den zweiten Genus-Band hat Bußmann ihren Artikel umgestrickt, erweitert und die Rahmung aktualisiert und zeigt, was von dieser alten Liste abgearbeitet worden ist. Aufschlussreich ist die Begriffsdifferenzierung Genus – Gender – Geschlecht. (vgl. S. 485 ff.) In dem neu verfassten Unterabschnitt zur kritischen Diskursanalyse und zu performing gender wird die kritische Auseinandersetzung mit den Theorien Judith Butlers reflektiert, die vor zehn Jahren noch nicht rezipiert worden waren. Im ebenfalls neuen Ausblick wird zusammengefasst, was in den letzten Jahren – vor allem auf dem anglomerikanischen Markt – geleistet worden ist: die Untersuchung der Rolle der Sprache im Zusammenhang von Gender und Identitätsbildung anhand von Konzepten wie race, ethnicity, speech community, discourse, whiteness, masculinity, queer scholarship. Zum anderen offeriert er wieder eine Vielzahl möglischer Marschrichtungen. Wer auf der Suche ist nach einem feministischen Dissertations-Thema in der Sprachwissenschaft: Bußmann, S. 512. Allez!

Ansteckendes Konzept: doing gender

Theresa Wobbe stellt die Entwicklung der Geschlechtersemantik in der modernen Gesellschaft an den Anfang ihres Artikels. Es folgen eine Beschreibung der Disziplinierung des Geschlechts in der Soziologie und ein Abriss der Leistungsfähigkeit der ehemaligen Leitunterscheidung sex vs. gender. Nach der Darstellung der kognitiven, interaktiven und strukturellen Dimensionen des soziologischen Geschlechterkonzepts behandelt Wobbe im dritten Teil die Veränderungen im Konflikt zwischen den Geschlechtern. Sowohl Mathilde Vaerting, die für die Erforschung der Geschlechterordnung schon in den 1920er Jahren neben den drei Machtfaktoren Ökonomie, Kultur, Politik/Staat als vierten die ‚Unterschiedskonstruktion‘ (S. 454 f.) identifizierte, als auch Georg Simmel, der „die Geschlechterfrage ebenfalls an die Differenztheorie [koppelt] und […] somit das Geschlechterverhältnis mit der modernen Gesellschaft [verknüpft]“ (S. 455), wird Tribut gezollt.

Auf die Frage, wie es kommt, dass sich die traditionellen Geschlechterrollen trotz ihrer gründlichen Historisierung, Analyse, Dekonstruktion, performativen parodistischen Produktion und Re-Zitation, trotz der rasanten Veränderung der lebensweltlichen Umstände seit den 1970er Jahren so unglaublich zäh halten, hat die feministische Soziolgie eine Antwort: Auch „wenn die den Geschlechtern zugeschriebenen Differenzen und die Ungleichheit nicht mehr strukturell durch räumliche Trennung aufrechterhalten und durch ‚natürliche‘ Unterschiede legitimisiert werden, bedeutet das nicht das Ende von Zuschreibungen und Ungleichheit. Es findet lediglich eine Verschiebung der Mechanismen des Auseinander-Haltens, also der Grenzziehung und der Herstellung von Unterschieden, statt: Das, was überindividuell nicht mehr abgesichert ist, wird individuell durch soziales Handeln bekräftigt, heruntergespielt oder unterlaufen […], denn in dem Maße, in dem Erwartungsunsicherheit einsetzt, erhöht sich die Aufmerksamkeit.“ (S. 469)

Ein Handbuch sollte ein Ort der ersten Antworten sein. Ich schlage mit der Frage im Kopf, wie es sein kann, dass eine Tagesschau-Moderatorin (Eva Herman) laut einer Wochenzeitung (Die Zeit)in einer Zeitschrift (Cicero) erklärt, dass es „nach der ‚schöpfungsgewollten Aufteilung‘ (E. H.) der Mann ist, der den ‚aktiven, kraftvollen, starken und beschützenden Part‘ spielt, während die Frau auf ‚den Wert häuslichen Friedens in Harmonie und Wärme‘ spezialisiert ist“, in Genus nach. (Zitat aus: „Der Ruf der Natur. Tagesschau-Fee Eva Herman auf antifeministischer Mission“ in: Die Zeit, 17.8.06, S. 33). Bei Wobbe finde ich, dass Erwartungsunsicherheit „z. B. dann ein[setzt], wenn Frauen in bislang von Männern besetzten Territorien Präsenz zeigen.“ (S. 469). Als Beispiel wird die Kommunikation des politischen Lebens durch die große Anzahl von Moderatorinnen im Fernsehen genannt. Ich habe große Lust, Frau Herman ein Exemplar von Genus. Geschlechterforschung/ Gender Studies in den Kulturwissenschaften zu schicken.

URN urn:nbn:de:0114-qn073224

Dr. Sylvia Mieszkowski

Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt

E-Mail: mieszkowski@em.uni-frankfurt.de

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