Geiger, Annette, Stefanie Rinke, Stevie Schmiedel, Hedwig Wagner (Hg.):
Wie der Film den Körper schuf.
Ein Reader zu Gender und Medien.
Weimar: Verlag und Datenbank für Geisteswissenschaften 2006.
341 Seiten, ISBN 3–89739–510–X, € 29,50
Abstract: Filme produzieren Körperbilder, die einen erheblichen Einfluss auf Selbstbilder, Identitätskonstruktionen und Abgrenzungen von bestimmten Identifikationsmodellen besitzen. Im vorliegende Sammelband wird entsprechend das Medium Film auf seine inhärente geschlechtliche Kodierung und die geschlechtliche Markierung seiner Materialität befragt. Den Herausgeberinnen gelingt es zudem, die Filmanalyse mit den Queer Theory und weiteren intersektionalen Kategorien zu verknüpfen. Dabei werden insbesondere die filmischen Protagonist/-innen, die Rollenkonstellationen sowie die Storylines auf ihre geschlechtsspezifischen Implikationen untersucht.
Der Sammelband Wie der Film den Körper schuf entstand im Rahmen der 2002 gegründeten interdisziplinären Arbeitsgruppe „Geschlecht – Körper – Film“. In ihm wird eine gut durchdachte Auswahl neuer filmtheoretischer Perspektiven zusammengestellt.
Das Vorhaben der Herausgeberinnen, zum einen die Filmtheorie mit medialen Schrift-, Bild- und Blicktheorien zu verknüpfen und zum anderen eine weiterführende Perspektive auf queertheoretische Paradigmen von Zweigeschlechtlichkeit und Geschlechtergrenzen mit einzubeziehen, ist ihnen geglückt. Die psychoanalytische Filmtheorie erfährt eine wichtige Neubewertung durch den Bezug auf den Zusammenhang der Kategorien race und Geschlecht.
Die Vielfalt der Aufsätze wird durch die zwischen ihnen erkennbaren Querverbindungen und durch Rückbezüge auf Theoriemodelle wie u. a. Psychoanalyse und Diskurstheorie im besten Sinne zu einer Einheit geführt.
Im ersten Teil des Bandes wird die geschlechtliche Materialität des Mediums Film behandelt. Stefanie Rinke eröffnet diesen Teil mit einer historischen Kontextualisierung der Thematik des Blickes anhand der Figur des Flaneurs. Laut Rinke lassen sich bereits vor der Erfindung des Kinos Hinweise auf die Geschlechtsspezifik des Blicks beschreiben.
Am Beispiel von David Lynchs Film Der Elefantenmensch untersucht Annette Geiger die weibliche Codierung des Bildes und kontrastiert sie mit der männlich markierten Schrift. Sie argumentiert, dass Lynch diese Differenz von Bild und Text in seinen Filmen aufzulösen versucht. Andreas Wolfsteiners Artikel zu Marcel Duchamps verweist ebenfalls auf die Rolle des Sehens und Betrachtens durch den Blick der Kamera. Er beschreibt Duchamps‘ Versuch, durch die Entwicklung einer ‚indifferenten Universalsprache‘ die Geschlechtsspezifik von Bild und Blick zu überwinden. Eine gute Einführung in die gegenwärtige thematische Verschiebung des Fokus von „Frauen und Film“ hin zu „Gender und Medien“ (S. 82) beinhaltet der Artikel von Andrea Seier. In ihrem Aufsatz kritisiert Seier die Polarisierung von Performanz-Theorie und feministischer Filmtheorie und nimmt ein re-reading der Butlerschen Analyse des Films Paris is Burning vor. Sie verweist auf die verschiedenen Ebenen des Performativen als wichtigen Aspekt der Filmbetrachtung. In den weiteren Artikeln des ersten Schwerpunkts geht es u. a. um den filmischen Körper im Hinblick auf Definitionsmacht und auf körperliche Zuschreibungen, um Bilder von nationaler Identität und Darstellungsweisen von körperlicher Versehrtheit und Behinderung.
Im zweiten Schwerpunkt des Bandes wird zum einen die Anwendung der psychoanalytischen Theorie für die Analyse von Körperbildern im Film beleuchtet und zum anderen die Entgrenzung von Geschlecht und seine (Re-) Inszenierungen durch queere Konstruktionen. In diesem Kontekt erfährt auch die psychoanalytische Filmtheorie eine Rekapitulation. Stevie Schmiedel befasst sich in ihrem Text über Hitchcocks Rebecca mit dem Begriff des „Werdens“ und der Re-Definition des Monströsen und Imaginären im Anschluss an Gilles Deleuze und Felix Guattari.
Nina Zimnik und Patricia Feise betrachten in ihren Artikeln verschiedene Heldinnen aus Filmen von Quentin Tarantino. Der Dialog zwischen diesen Artikeln ist sehr produktiv für eine psychoanalytische Filmkritik wie auch für einen intersektionalen Umgang mit Identitätskategorien und sozialen Zuschreibungen von z. B. sozialer Klasse und race, indem konträre Thesen zu den Lesarten von Tarantions Protagonistinnen verhandelt werden. Zimnik betrachtet die Figur der Pam Grier in Jackie Brown als „persönlichen Fetisch“ (S. 17) von Tarantino und verbindet diesen resignativen Befund mit den Diskursen um blaxploitation und race als Fetisch. Feise sieht dagegen die Protagonistin in Kill Bill als Angreiferin auf die symbolische Ordnung und die „glückliche Kleinfamilie“ (S. 252).
Im letzten Abschnitt des Sammelbandes befinden sich Aufsätze, die marginalisierte und visionäre Erzählungen von Geschlecht und Sexualität in den Blick nehmen. In diesem Abschnitt werden insbesondere verschiedene Veruneindeutigungsstrategien in Filmen und Musikvideos untersucht und die Pluralisierung von Begehrensformationen in TV-Serien problematisiert.
Tanja Maier beschreibt die neue Sichtbarkeit von nicht-heteronormativem Begehren im Fernsehen. Sie fragt, inwiefern dieses als ein Zeichen der Destabilisierung einer heteronormativen Ordnung zu werten ist. Am Beispiel der Lindenstraße kritisiert sie Vereinnahmungsstrategien sowie flexbilisierte Normalisierungstendenzen bei der Repräsentation lesbischer und schwuler Charaktere.
In einem Artikel über den Film Girl King, der in den vergangenen Jahren bei queeren Filmfestivals gezeigt wurde, entwirft J. Seipel eine spannende Verbindung von Queer Theory und feministischer Filmtheorie. Seipel liest Girl King als eine ironische Dekonstruktion narrativer Schaulust bei gleichzeitiger Reaktivierung des filmischen Genusses durch spezifische filmische Mittel. In dem Aufsatz wird besonders die filmische Möglichkeit betont, z. B. durch Footage-Montagen binäre sowie heteronormative Konventionen zu dekonstruieren.
Ebenfalls bemerkenswert ist die Analyse des Films Hedwig and the Angry Inch von Hedwig Wagner. Sie arbeitet in diesem im deutschsprachigen Raum bisher nur wenig beachteten Film über die transidentische Figur der Protagonist_in die queeren Repräsentationen und ihre Verwobenheit mit dem Genrehybrid des Films heraus. Wagner betont im Hinblick auf die Geschlechtsspezifik von Genre: „Geschlecht ist ein medialer Authentizitäts-Effekt. Geschlechtshybridität ist auf Filmhybridität zurückzuführen.“ (S. 318).
In dem den Band abschließenden Aufsatz von Gregor Schuhen wird die Inszenierung von Geschlecht in der Musikclip-Ästhetik von Chris Cunningham verhandelt, der u. a. durch die Produktion der Clips der Künstlerin und Musikerin Björk bekannt wurde. Schuhen betrachtet das Musikvideo als Ort der medialen Re-formulierung von Körper und verweist auf die subversiven Lesarten der „Repräsentation und Entgrenzung“ (S. 322) von Geschlecht und Individualität.
Die verschiedenen Aufsätze bieten einen guten Überblick über gegenwärtigen filmtheoretische Diskussionen. Sie eröffnen einen Raum, der zu weiterführenden Auseinandersetzungen mit Blickparadigmen, diskursiven Konstruktionen von Geschlecht oder medialer und geschlechtsspezifischer Performativität auffordert.
Es findet sich eine große Bandbreite an derzeit verhandelten Themen der Geschlechterstudien und Queer Studies wie z. B. Genretheorie, Konstruktion von Männlichkeit. Fragen nach Autor/-innenschaft, Transgeschlechtlichkeit, Normalisierungskritik und nach intersektionalem Denken finden in den Kapiteln Platz. Sie werden differenziert diskutiert und oftmals mit weiteren aktuellen theoretischen Ansätzen verknüpft.
URN urn:nbn:de:0114-qn073305
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